Stürzende Imperien (eBook)
288 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12317-3 (ISBN)
Peter Heather wurde 1960 in Nordirland geboren. Er studierte Geschichte am New College Oxford. Lehrtätigkeit am University College, London und der Yale University. Er unterrichtete mittelalterliche Geschichte am Worcester College in Oxford. Zurzeit ist er Professor für mittelalterliche Geschichte am King's College in London.
Peter Heather wurde 1960 in Nordirland geboren. Er studierte Geschichte am New College Oxford. Lehrtätigkeit am University College, London und der Yale University. Er unterrichtete mittelalterliche Geschichte am Worcester College in Oxford. Zurzeit ist er Professor für mittelalterliche Geschichte am King's College in London. John Rapley ist ein politischer Ökonom an der University of Cambridge und ein Senior Fellow am Johannesburg Institute for Advanced Studies.
Einführung:
Folge dem Geld
Kann der Westen jemals wieder zu alter Größe gelangen? Und sollte er es überhaupt versuchen?
Zwischen dem Jahr 1800 und der Jahrtausendwende entwickelte sich der Westen zur vorherrschenden Macht auf dem Planeten. Zunächst nur einer von mehreren gleichrangigen Akteuren war er schließlich für 80 Prozent der Weltwirtschaftsleistung verantwortlich. Gleichzeitig stiegen die Durchschnittseinkommen in den westlichen Industriestaaten auf das Fünfzigfache der übrigen Welt.
Diese überwältigende wirtschaftliche Dominanz führte zu einer politischen, kulturellen, sprachlichen und sozialen Neuordnung des Planeten nach westlichem Vorbild. Fast überall auf der Welt wurde der Nationalstaat, ein Produkt innereuropäischer Entwicklungen, zur politischen Norm und ersetzte die enorme Vielfalt aus Stadtstaaten, Königreichen, Kalifaten, Bistümern, Scheichtümern, Stammesfürstentümern, Imperien und Feudalregimen, die den Globus zuvor geprägt hatten. Englisch wurde die Sprache des Welthandels, Französisch (und später wiederum Englisch) die Sprache der Diplomatie. Die Welt deponierte ihre Überschüsse auf westlichen Banken, wobei das Pfund und später der Dollar Gold als Schmiermittel des internationalen Handels ersetzten. Aufstrebende Intellektuelle aus aller Welt studierten an westlichen Universitäten, und Ende des 20. Jahrhunderts vergnügte sich die Menschheit mit Hollywoodfilmen und europäischem Fußball.
Doch dann legte die Geschichte plötzlich den Rückwärtsgang ein.
Durch die Große Stagnation nach der Großen Rezession infolge der globalen Finanzkrise von 2008 sank der Anteil des Westens an der Weltwirtschaftsleistung von 80 Prozent auf 60 Prozent, und seitdem nimmt er langsam, aber stetig weiter ab. Die Reallöhne gingen zurück und die Jugendarbeitslosigkeit stieg sprunghaft an, während es gleichzeitig bei den öffentlichen Dienstleistungen zu Kürzungen kam und die öffentliche und private Verschuldung dramatisch zunahm. Das in den 1990er Jahren noch so unerschütterliche Selbstbewusstsein des Westens war dahin, Selbstzweifel und innere Spaltung prägten von nun an den liberal-demokratischen politischen Diskurs. Gleichzeitig gewannen andere Wirtschaftsmodelle an Bedeutung, allen voran die autoritäre, zentral gelenkte Planung des chinesischen Staates, die in den letzten vier Jahrzehnten mit einem erstaunlichen Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens von durchschnittlich über 8 Prozent pro Jahr aufwarten kann. Mit anderen Worten, das tatsächliche chinesische Einkommen verdoppelt sich alle zehn Jahre. Wie konnte sich das Gleichgewicht der Weltwirtschaft so sehr zuungunsten des Westens verschieben? Und handelt es sich dabei um etwas, das rückgängig gemacht werden kann, oder ist es schlicht der natürliche Lauf der Dinge, an den sich der Westen eben besser anpassen sollte?
Es ist nicht das erste Mal, dass die Welt einen so dramatischen Aufstieg und Niedergang erlebt. Roms Aufstieg zur Weltmacht der Antike begann im zweiten Jahrhundert v. Chr. und dauerte fast 500 Jahre an, bevor das Reich Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends kollabierte. Obwohl er sich vor 1500 Jahren ereignete, lassen sich aus dem Untergang Roms immer noch wichtige Lehren für die Gegenwart ziehen. Tatsächlich kann uns ein Vergleich mit der Geschichte des Römisches Reiches und seiner Welt dabei helfen, die Geschichte und Gegenwart des modernen Westens neu zu bewerten. Wir sind beileibe nicht die Ersten, die das Schicksal Roms auch heute noch für lehrreich halten, aber bisher wurde es vor allem als Ausgangspunkt für eine vorwiegend westlich geprägte Diagnose der aktuellen Situation genutzt. In seinem viel beachteten Kommentar zum Bataclan-Massaker im Jahr 2015 in Paris, der in führenden Zeitungen auf beiden Seiten des Atlantiks (nicht zuletzt in der Sunday Times und im Boston Globe) veröffentlicht wurde, schrieb der Historiker Niall Ferguson, dass Europa »in seinen Einkaufszentren und Sportstadien dekadent geworden ist«, während man gleichzeitig »Fremde hereinließ, die seinen Reichtum begehrten, ohne jedoch ihren angestammten Glauben abzulegen … Wie das Römische Reich im frühen fünften Jahrhundert hat Europa zugelassen (unsere Hervorhebung), dass seine Verteidigungsanlagen verfallen«. Ferguson schließt: »Genau so gehen Zivilisationen unter.« Inspiriert ist er hierin von Edward Gibbons berühmtem Meisterwerk Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Darin argumentiert Gibbon, dass Rom langsam von innen heraus erodierte, nachdem es begonnen hatte, Fremde – eine seltsame Mischung aus Christen und Barbaren wie Goten und Vandalen – innerhalb seiner Grenzen zu dulden. Als hätte es sich einen Virus eingefangen, der seinen Wirt sukzessive aller Kraft beraubt, verfiel das Reich nach seinem Goldenen Zeitalter langsam bis zu dem Punkt, an dem es seinen Lebenswillen verlor. Gibbons Grundannahme, dass Rom sein Schicksal selbst in der Hand gehabt habe, wirkt bis heute nach, und für Ferguson und andere ist die Lektion, die uns der Untergang Roms erteilt, offensichtlich. Die Therapie für den Niedergang eines Imperiums besteht darin, die Grenzen zu kontrollieren, »Fremde« fernzuhalten, Mauern zu bauen und sich auf den eigenen, angestammten Glauben zu besinnen, während man gleichzeitig die nationalistischen Muskeln spielen lässt und internationale Handelsabkommen auf den Prüfstand stellt.[1]
Doch so wirkmächtig die Tropen von einfallenden Barbaren und innerer Dekadenz auch sein mögen – Gibbon hat vor sehr langer Zeit geschrieben. Den ersten Band seines Werkes veröffentlichte er 1776 – im selben Jahr, als Amerika seine Unabhängigkeit erklärte. In den letzten zweieinhalb Jahrhunderten hat sich unser Verständnis von der römischen Geschichte weiterentwickelt, was uns eine grundlegend andere Perspektive auf den gegenwärtigen Zustand des Westens und seine voraussichtliche Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten eröffnet.
Dass eine überarbeitete römische Geschichte zu einem alternativen, dekolonisierten Verständnis der gegenwärtigen Lage des Westens beitragen kann, ist den beiden Autoren bereits in einem Gespräch klar geworden, das sie vor über einem Jahrzehnt führten. Peter Heather ist ein auf die römische und nachrömische Zeit spezialisierter Historiker, der sich besonders für die Frage interessiert, wie das Leben in den Randgebieten eines Weltreichs die betreffenden Gesellschaften verändert. John Rapley ist ein Volkswirtschaftler, der sich schwerpunktmäßig mit der Globalisierung und ihren Folgen für die Entwicklungsländer befasst. Eine Diskussion im Verlauf eines langen Nachmittags machte uns deutlich, dass wir beide uns zwar mit unterschiedlichen Reichen beschäftigen, aber in Bezug auf die Gründe für ihr Vergehen zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen kommen.
Wir waren beide der Ansicht, dass für die Zukunft und das Schicksal »unserer« Reiche nicht ausschließlich Entscheidungen und Ereignisse innerhalb ihres Herrschaftsbereichs bestimmend waren. Für das Ende ihrer Vorherrschaft war vielmehr die Art von Veränderungen verantwortlich, die sie jenseits ihrer Grenzen auslösten. Trotz – und bisweilen auch gerade wegen – der tiefgreifenden Unterschiede zwischen dem alten Rom und dem modernen Westen ist beider Geschichte für den jeweils anderen aufschlussreich. Denn es gibt so etwas wie einen imperialen Lebenszyklus, an dessen Anfang wirtschaftliche Entwicklungen stehen. Reiche entstehen, um neue Wohlstandsströme für den dominierenden imperialen Kern zu generieren. Dieser Prozess erzeugt allerdings auch neuen Wohlstand in den eroberten Gebieten und einigen peripheren Regionen, die zwar formell nicht kolonisiert wurden, aber durch untergeordnete Wirtschaftsbeziehungen mit dem imperialen Kern verbunden sind. Solche wirtschaftlichen Veränderungen bleiben nicht ohne politische Folgen. Jede Konzentration oder jeder Fluss von Reichtum ist ein potenzieller Baustein für neue politische Macht, die sich entschlossene Akteure zunutze machen können. In unmittelbarer Folge kurbelt eine großflächige wirtschaftliche Entwicklung in der Peripherie einen politischen Prozess an, der irgendwann die Vorherrschaft der imperialen Macht herausfordert, die den Kreislauf ursprünglich in Gang gesetzt hatte.
Dieses grundlegende ökonomisch-politische Prinzip ist so wirkmächtig, dass es einen gewissen relativen Niedergang des imperialen Kernes unvermeidlich macht. Man kann nicht einfach »Amerika wieder großartig machen« (oder das Vereinigte Königreich oder die EU), denn durch die Ausübung seiner Vorherrschaft hat der Westen in den letzten Jahrhunderten die globalen strategischen Machtbausteine, auf denen seine »Großartigkeit« beruhte, neu angeordnet. Das bedeutet auch, dass schlecht informierte Versuche, den relativen Niedergang direkt umzukehren – wie die »MAGA«-Kampagne in den USA oder der Brexit in Großbritannien –, den Prozess nur beschleunigen und vertiefen. Dennoch muss das Endergebnis nicht zwangsläufig ein vollkommener zivilisatorischer Kollaps...
Erscheint lt. Verlag | 13.7.2024 |
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Übersetzer | Thomas Andresen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Antike • Arbeitsmarkt • Barbareneinfälle • Big History • Brexit • dark rome • Demografischer Wandel • Dritte Welt • Einwanderungspolitik • Entwicklungsländer • Feudalismus • Finanzkrise • Flüchtlingskrise • Geldpolitik • Geschenk für Geschichtsfans • Geschichtsinteressierte • Globalisierung • Grundbesitz • Hegemonie • Herfried Münkler • Imperialismus • Industrialisierung • Inflation • Infrastruktur • Klassenkampf • Kolonialismus • kolonialwirtschaft • mary beard • MICHAEL SOMMER • Migration • Migrationswellen • Neoliberalismus • neue Bücher 2024 • Neues Sachbuch 2024 • Niedergang des Westens • Öllkrise • Ölpreis • Plantagenwirtschaft • Postimperialismus • Reagan-Thatcher-Ära • Reichtum • Rezession • Römische Geschichte • Römisches Reich • Schuldenkrise • Spätantike • Staatsverschuldung • Steuersystem • Tom Holland • Untergang des Römischen Reichs • Vermögensverteilung • Völkerwanderung • warenaustausch • Welthandel • weltweite Finanzkrise • Weltwirtschaft • Weltwirtschaftskrise • Wohlstand • Yuval Noah Harari • Zeitenwende • Zuwanderung |
ISBN-10 | 3-608-12317-2 / 3608123172 |
ISBN-13 | 978-3-608-12317-3 / 9783608123173 |
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