Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst (eBook)
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31327-7 (ISBN)
Marcus Bensmann (»ein brillanter Investigativreporter«, Markus Lanz) berichtete 20 Jahre lang für deutsche Medien in Zentralasien, dem Kaukasus, Afghanistan, Iran und dem Irak. Er recherchiert seit 2014 für CORRECTIV, u.a. als Experte der Neuen Rechten.
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Marcus Bensmann (»ein brillanter Investigativreporter«, Markus Lanz) berichtete 20 Jahre lang für deutsche Medien in Zentralasien, dem Kaukasus, Afghanistan, Iran und dem Irak. Er recherchiert seit 2014 für CORRECTIV, u.a. als Experte der Neuen Rechten. CORRECTIV ist ein 2013 gegründetes, gemeinwohlorientiertes Medienhaus zur Stärkung der Demokratie.
Die AfD-Akteure
In dem Hotel in der Nähe von Potsdam trafen sich nicht nur ein paar verirrte Rechtsextreme, die bizarre Thesen diskutierten – es waren dort auch hochrangige AfDler zugegen. Es kam die AfD-Bundestagsabgeordnete Gerrit Huy, es kam der Fraktionsvorsitzende von Sachsen-Anhalt Ulrich Siegmund, und es kam auch Roland Hartwig, die damalige rechte Hand der Parteivorsitzenden Alice Weidel.
Hartwig ist kein Politiker aus der ersten Reihe. Aber der groß gewachsene Mann hat das, was viele AfDler vermissen lassen: weltmännisches Auftreten und Erfahrungen in einem milliardenschweren Industriekonzern. Als Chefsyndikus war er bei der Bayer AG für Patente zuständig. Hartwig kommt aus dem mitgliederstärksten Landesverband der AfD, dem von NRW. 2017 schaffte es Hartwig, den man lange für einen moderaten Bürgerlichen hielt, in NRW für die AfD in den Bundestag. Er galt als Unterstützer des AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen, der sich nach dem Weggang von Frauke Petry immer mehr der rechtsextremen Übernahmeversuche erwehren musste. Es drohte die Überwachung durch den Verfassungsschutz. Das wollte Meuthen verhindern und Hartwig sollte ihm dabei helfen. Er leitete die »Arbeitsgruppe Verfassungsschutz«. Vor allem hatte Meuthen Andreas Kalbitz aus Brandenburg im Auge.
Kalbitz stand der AfD Brandenburg vor und war ein treuer Parteigänger des völkischen Ideologen in der AfD, Björn Höcke. Als bekannt wurde, dass Kalbitz 2007 an einem Pfingstlager der neonazistischen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) teilgenommen hatte, war für Meuthen das Maß voll. Der Verein organisierte Zeltlager für Jugendliche, die dort an militärähnlichen Geländespielen teilnahmen und mit rassistischen Ideen infiltriert wurden. Es gab bei der Gründung personelle Überschneidung zur verbotenen Wiking-Jugend. Wolfgang Schäuble, damals Innenminister, hat auch die völkische Heimattreue Deutsche Jugend 2009 verboten. Die Heimattreue Deutsche Jugend steht auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD.
Meuthen leitete ein Parteiausschlussverfahren gegen Kalbitz ein. Das war der Moment, in dem Hartwig Meuthen verließ und sich auf die Seite von Kalbitz stellte, wie die FAZ am 21. Dezember 2020 schrieb. Meuthen konnte sich zwar durchsetzen, Kalbitz wurde aus der Partei ausgeschlossen, und Hartwig wurde als Leiter der Arbeitsgruppe abgesetzt. Und er konnte auch keinen aussichtsreichen Platz für die Bundestagswahl 2022 mehr ergattern. Aber Meuthens Sieg über Kalbitz hielt nicht lange, wenige Monate nach der Bundestagswahl gab er entnervt auf und verließ als dritter Parteivorsitzender nach Bernd Lucke und Frauke Petry die Partei.
Hartwig hatte seinen Einsatz für Kalbitz mit dem Bundestagsmandat bezahlt, doch nach Meuthens Weggang holte Alice Weidel, neben Tino Chrupalla Vorsitzende der Partei und Fraktion, Hartwig an ihre Seite, er wurde ihr persönlicher Referent.
Weidel gilt innerhalb der AfD-Bundestagsfraktion nicht eben als Arbeitsbiene, und als persönlicher Referent konnte Hartwig das machen, was er am liebsten macht: Strippen ziehen, die Partei organisieren und politische Linien und Strategien vorbereiten. Und ausgerechnet Hartwig folgte der Einladung des Zahnarztes aus Düsseldorf, der in den 1970er-Jahren zu den führenden Funktionären des Bund Heimattreuer Jugend (BHJ) gehörte, den Vorläufern der Truppe, deretwegen Kalbitz aus der Partei geflogen war, und Hartwig seinen Platz im Bundestag verloren hatte. BHJ oder HDJ – die Nähe zur Abkürzung von Hitlers Jugendbewegung HJ ist sicher nicht zufällig gewählt. Kreise schließen sich also. Und Mörigs Gedanken bewegten sich schon seit seiner Kindheit, wie er in dem Landhaus Adlon stolz erzählte, in rechten Welten. Sein Vater, Wilhelm Mörig, war ab 1932 Mitglied der SA, und sein Entnazifizierungvermerk erhielt die Einstufung »ist für den Öffentlichen und Halböffentlichen nicht tragbar«. Mörig, geboren 1954 in Braunschweig, setzte die politischen Ideen des Vaters offenbar fort und engagierte sich seit seiner Jugendzeit innerhalb der rechtsextremistischen Szene.
»Jedes Lebewesen auf dieser Welt führt von Geburt an in mehr oder weniger harter Form einen Kampf ums Dasein […] Mit meiner Familie gehöre ich der nächst größeren biokulturellen Einheit an; dem Volk, in meinem Falle dem deutschen Volk. Das Volk muss eine Willenskraft entwickeln, um die Erhaltung seiner Mitglieder zu gewährleisten. Denn keinem Volk ist von vornherein ein bestimmtes Recht gegeben; so braucht z.B. jedes Volk Raum zum Leben, dieser Raum muss jedoch erkämpft werden.«
Diese Zeilen, die wie aus Hitlers Mein Kampf klingen, schrieb Mörig 1977 in der Septemberausgabe der rechtsextremen Zeitschrift Nation Europa. In dem Artikel »Jugend im Volk, Heimattreue Jugendarbeit« definierte er die Ziele dieser Jugendgruppe: »so haben wir uns für zwei Grundbegriffe entschieden, die uns und unsere Arbeit prägen: Die bündische und die weltanschauliche Tätigkeit. Beides zusammen erst ist uns ein Garant dafür, dass wahre Persönlichkeiten in unseren Reihen heranwachsen.« Mörig gelang es offenbar auch, seine politischen Ideen seinen Kindern und deren Ehepartnern weiterzugeben, wie er stolz im Landhaus Adlon verkündete, zu dem eben auch Roland Hartwig geladen war. Offenbar schlägt hinter dem weißen Hemd des sich moderat gebenden ehemaligen Syndikus schon länger ein braunes Herz.
Mit der Teilnahme von Hartwig gab es auf der Veranstaltung also eine direkte Verbindung in den AfD-Vorstand. Hartwig übernahm nicht nur zwischenzeitlich die Moderation und stellte ein rechtsextremes Influencer-Projekt des Sohnes von Mörig vor, sondern er versprach auch, dass der AfD-Vorstand dessen Projekt unterstützen werde. Zudem lobte er das Buch von Martin Sellner Regime Change von rechts, das die Grundlage für den Masterplan bildete. Und auch das Influencer-Projekt fügt sich in diesen Plan. Über die sozialen Medien will der völkische Ideologe Sellner die Menschen beeinflussen. Auf Plattformen wie Instagram, YouTube oder TikTok sind Influencer mit einer teilweisen millionenstarken Anhängerschaft wichtige Multiplikatoren, wie wir im Laufe des Buches noch zeigen werden.
Die erkennbare Nähe der Rechtsextremen zur AfD ist für die Partei gefährlich. Drei ostdeutsche Landesverbände, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, sowie die Jugendorganisation Junge Alternative (JA) bewerten die Verfassungsämter schon als »gesichert rechtsextrem« und sie stehen damit unter Beobachtung. Das will die Bundespartei verhindern, deshalb will sie nicht mit dem immer stärker werdenden rechtsextremen Lager in Verbindung gebracht werden.
Die Aussagen auf der Veranstaltung im Landhaus in der Nähe von Potsdam zur »Remigration« von »nicht assimilierten Staatsbürgern« über »maßgeschneiderte Gesetze« und »Anpassungsdruck« als »Jahrzehnteprojekt« sind daher heikel: sie widersprechen den offiziellen Verlautbarungen der AfD.
Die Bundespartei sagt, sie mache keinen Unterschied zwischen Staatsbürgern mit oder ohne migrantischen Hintergrund, für sie gebe es keine Staatsbürger erster, zweiter oder dritter Klasse. Auf der Webseite der AfD findet sich dieser Passus:
»Als Rechtsstaatspartei bekennt sich die AfD vorbehaltslos zum deutschen Staatsvolk als der Summe aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Unabhängig davon, welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand hat, wie kurz oder lange seine Einbürgerung oder die seiner Vorfahren zurückliegt, er ist vor dem Gesetz genauso deutsch wie der Abkömmling einer seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Familie, genießt dieselben Rechte und hat dieselben Pflichten. Staatsbürger erster und zweiter Klasse gibt es für uns nicht.«
Doch genau diese Versicherung wurde in Potsdam von dem Hauptredner Sellner, dem Chefideologen der Identitären Bewegung, infrage gestellt. Die Recherche zeigte: In der AfD wird offenbar sehr wohl über die Vertreibung von Millionen nachgedacht.
Die Veröffentlichung des Treffens durch CORRECTIV traf einen Nerv. Auf einmal wurde vielen Menschen klar, dass die AfD keine Protestpartei ist, die man wählen kann, wenn man den etablierten Parteien einen Denkzettel verpassen will, etwa wenn man mit dem früheren Entwurf des Heizungsgesetzes, dem Atomausstieg, einem Gesetz zur Selbstbestimmung oder sonst etwas anderem unzufrieden war und ist. Die Ergebnisse der Recherche stellen klar: Eine Stimmabgabe für die AfD kann massive Konsequenzen für einen selbst oder den direkten Nachbarn haben.
Vielleicht war das auch der Grund, warum Millionen von Menschen in deutschen Städten und Gemeinden auf die Straße gingen und gegen die AfD und ihre Einflüsterer demonstrierten. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik kaum eine Recherche, die so viele Menschen bewegt hat.
Die Teilnehmer der Potsdamer Veranstaltung und der AfD rangen lange mit einer Reaktion. Erst nach Wochen beantragte der Privatdozent Dr. habil. Vosgerau, ein Mitglied der CDU, gegen drei Passagen der Recherche den Erlass einstweiliger Verfügungen. Auch er hatte an dem Potsdamer Treffen teilgenommen und auf der Veranstaltung einen Vortrag gehalten....
Erscheint lt. Verlag | 4.7.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AfD • Deportation • Deutschland-Wahlkampf • Einwanderung-Politik • Enthüllungs-Journalismus • Fremdenhass • Migration • Rechte Szene • Rechtsextremismus • Rechtsradikale • Rechtsruck • Reichsbürger • verdeckte Recherche |
ISBN-10 | 3-462-31327-4 / 3462313274 |
ISBN-13 | 978-3-462-31327-7 / 9783462313277 |
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