Das Einmaleins der Beziehungen (eBook)
144 Seiten
Arkana (Verlag)
978-3-641-37026-8 (ISBN)
Jessica Wilker studierte Psychologie an der Universität Bern und war viele Jahre in verschiedenen Bereichen psychologischer Beratung tätig. Die gebürtige Schweizerin lebt heute in England, wo sie an der Universität Bath ein Studium der Religionswissenschaften abgeschlossen und sich auf buddhistische Ethik spezialisiert hat. Sie ist selbst praktizierende Buddhistin.
AUF DER INSEL
Ruth war am Packen. Ein leerer Koffer lag auf dem rostbraunen Samtüberwurf des großen Doppelbettes. An der offenen Schranktür hing eine Auswahl von Sommerkleidern. Ruth fingerte unschlüssig an ihnen herum. Am liebsten hätte sie alle zusammen eingepackt, doch sie erinnerte sich an ihren Vorsatz, diesmal nicht wieder zu viel mitzunehmen. Sie würden ja doch nur für vier Tage verreisen.
Zögernd nahm sie den Baumwollrock mit dem orangeroten Blumenmuster vom Bügel und schlüpfte hinein. Er ließ sich immer noch zuknöpfen. Erfreut faltete sie ihn sorgfältig zusammen und legte ihn in den Koffer. Dann holte sie den Stapel frisch gebügelter T-Shirts und wählte daraus ein rotes und ein weißes. Es fiel ihr ein, dass diese Farben nicht zu ihren Shorts passten, und sie legte noch ein blaues dazu. Und dasjenige mit dem raffinierten Ausschnitt würde sie auch noch mitnehmen. Das stand ihr gut und sie wusste von den beiden letzten Jahren, dass sie es ab und zu brauchte, sich hübsch zu fühlen. Besonders neben Ines, die immer gut aussah.
Plötzlich hatte Ruth keine Lust mehr. Sie schob den Koffer zur Seite und setzte sich auf den Bettrand. Nachdenklich starrte sie vor sich hin.
Freute sie sich wirklich auf den Urlaub? Zwar war es toll, im Winter in die Sonne zu fahren, und das auch noch ohne die Kinder. Und die Insel gefiel ihr auch. Aber wenn sie an letztes Jahr dachte! Schaudernd verschränkte Ruth die Arme vor der Brust. Sie erinnerte sich an die dahinschleppenden Stunden in der winzigen Bucht, die nur mit dem Boot erreichbar war und an deren sandigem Ufer man höchstens knapp fünf Minuten hin- und herlaufen konnte. Den anderen hatte das nichts ausgemacht. Nico und Alex waren ganz in ihrem Element gewesen – sie tummelten sich von morgens bis abends auf dem Boot und fuhren Wasserski. Ines war glücklich, wenn sie sich nackt bräunen konnte, dösen und Kreuzworträtsel lösen. Ruth war die Einzige gewesen, die nicht auf ihre Kosten gekommen war. Den ganzen Tag am Strand zu liegen war nicht ihr Ding, das wusste sie. Sie wäre viel lieber in die Berge gefahren. Ruth sprang vom Bett auf. Diesmal wird es anders, ermahnte sie sich entschlossen. Diesmal mache ich, was ich will. Sie würde die Berge erkunden, durch Olivenplantagen wandern, an Orangenblüten schnuppern, die Füße in einem klaren Bach kühlen. Ohne es zu merken, hatte Ruth sich wieder hingesetzt.
Versonnen dachte sie an die Schönheiten der Insellandschaft. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie diese für sich entdeckt hatte. Vor zwei Jahren war das gewesen. Das erste Mal, als Nico und sie sich den Luxus gegönnt hatten, mit alten Freunden ein paar Tage zu verreisen. Ruth schmunzelte. Nach zwei Tagen hatten die Männer genug gehabt vom zahmen Schnorcheln und wollten Action. Sie hatten den Frauen vorgeschlagen, Motorräder zu mieten, um die Insel zu erkunden. Ruth sah das alles noch genau vor sich.
Der Tag war klar und heiß gewesen und sie waren, wie die Einheimischen, ohne Helme auf klapprigen Vespas dahin getuckert, immer weiter weg vom Meer, eine kurvenreiche Passstrasse hinauf. Sie hinten bei Nico, Ines bei Alex. Sie hatte die Arme um Nico geschlungen und ihre Haare frei im Winde wehen lassen. Es hatte nach wilden Kräutern gerochen, nach Fichten und Jasmin und nach ihrem liebsten Duft, den Orangenblüten. Sie waren durch steinerne Dörfer gefahren, an Klöstern vorbei und kleinen Kirchen. Überall waren die Olivenplantagen Terrasse um Terrasse in die Höhe geklettert, bis endlich schroffe Felswände jegliche Bepflanzung unmöglich machten.
Auf dieser Tour hatte sie gesehen, dass es auf der Insel noch mehr gab als nur Strände und Hotels. Ruth seufzte. Damals hatte sie die Sehnsucht gepackt, diese Landschaft näher zu erkunden, was aber leider bis heute noch nicht geschehen war. Denn als Nico und Alex am nächsten Tag den günstigen Bootsverleih entdeckten hatten, war von Ausflügen ins Innere der Insel keine Rede mehr.
Ruth gab sich einen Ruck und stand auf. »Dieses Jahr nicht«, murmelte sie und ging zielstrebig zum Schuhschrank. Sie öffnete ihn, wühlte in seinem Inneren herum und zog triumphierend ihre Wanderschuhe hervor. Sie verpackte beide Schuhe einzeln in Plastiktüten und legte sie neben den Koffer. Dann fuhr sie energisch mit dem Packen fort.
»Hierher«, lockte Nico, als Ruth am selben Abend zu ihm unter die Bettdecke schlüpfte. Er streckte ihr die Arme entgegen. Sie kuschelte sich an ihn.
Nico streichelte ihren Rücken. »Freust du dich, Mäuschen?«
Ruth versteifte sich. »Es geht so.«
»Komm schon.« Nico kniff ihr zärtlich in den Po und strahlte. »Ich kann's kaum erwarten. Alex hatte übrigens eine gute Idee wegen des Bootes, er meint …«.
»Nico«, unterbrach ihn Ruth und rückte ein wenig von ihm weg. Ihr Herz begann spürbar zu klopfen, während sie tief Atem holte. »Ich will diesmal nicht immer nur am Strand liegen. Ich möchte was von der Insel sehen.« Sie schaute ihm prüfend ins Gesicht. »Ich will zu Fuß durch die Berge laufen.«
Nico küsste sie auf die Nasenspitze. »Das lässt sich bestimmt einrichten.«
Dann küsste er sie auf den Mund und voller Erleichterung und mit Elan küsste sie ihn zurück. Lebhaft versuchte sie, ihm von ihrem neuen Inselführer mit den vielen Ausflugsideen zu erzählen, doch Nico war mehr am Küssen interessiert und nach einer Weile ging es ihr auch so. Nico war danach schnell eingeschlafen, Ruth aber lag immer noch wach neben ihm. Sie fühlte sich freudig aufgekratzt. Ich habe es ihm gesagt, frohlockte sie innerlich, es läuft super an! Ich muss einfach so weitermachen, überlegte sie, kein ewiges Anpassen und Nachgeben mehr, nein, Selbstvertrauen ist jetzt angesagt. Ruth drehte sich mit einem zufriedenen Seufzer auf die Seite und malte sich aus, was sie sonst noch alles auf der Insel unternehmen würde. Darüber schlief sie ein.
Wider Erwarten hatte Ruth es genossen, den ersten Tag am Strand zu verbringen. Sie hatte im Sand gelegen und ihre nackte Haut mit Sonnenwärme verwöhnt. Sie war in der Hitze eingenickt und hatte lange geschlafen, offensichtlich hatte sie es nötig gehabt.
Doch heute Morgen wurde sie bald unruhig. Sie war schon Schwimmen gewesen, die Bucht hin- und her gelaufen und hatte ein paar Muscheln gesammelt. Die Männer waren wie üblich mit ihrem Boot beschäftigt und Ines blätterte in einem Modemagazin.
Dösen wollte Ruth nicht mehr, sie war ausgeruht. Sie kramte in ihrer Tasche herum, steckte sich einen Kaugummi in den Mund. Mit den Zehen zeichnete sie kleine Muster in den Sand. Schließlich holte sie lustlos ihren Ferienkrimi hervor und begann zu lesen.
»Pferdemensch. Sieben Buchstaben, in der Mitte ein T.« Erwartungsvoll blickte Ines sie an.
Ruth ließ ihr Buch sinken und dachte nach.
»Kentaur?«
»Passt genau. Kluges Mädchen!«
Ruth hatte kaum ein paar Zeilen weiter gelesen, als die nächste Frage kam. Diesmal wusste sie die Antwort nicht.
»Versuchen wir eben noch ein anderes Wort darüber. Tierfett. Vier Buchstaben. Das ist einfach: Tran.« Ines plapperte weiter.
Ines ist absolut rücksichtslos, dachte Ruth. Sie holt sich einfach, was sie will. Dabei hasse ich Kreuzworträtsel.
»Hier ist ein saftiges für dich. Dreizehn Buchstaben. Ich hab erst ein N an dritter Stelle.«
»Zeig her. «
Ruth hatte sich neben Ines gesetzt. Lieber bring ich's schnell hinter mich, dachte sie.
»Mundharmonika«, brummte Ruth und ging zur nächsten Frage über.
An diesem Abend ging Ruth missmutig und unzufrieden zu Bett. Sie war zwar am Nachmittag mit Ines einkaufen gegangen, was sie normalerweise eigentlich gern tat. Aber heute war auch das schief gelaufen. In der Auslage einer Modeboutique hatte Ines ein raffiniert geschnittenes Kleid entdeckt und darauf bestanden, dass Ruth es anprobierte. »Du siehst umwerfend aus«, hatte sie begeistert ausgerufen und die Verkäuferin geholt, ihr Urteil zu bestätigen, was Ruth peinlich gewesen war. Sie hatte protestiert: »Dieses Kleid ist viel zu auffällig!« Derart große Aufmerksamkeit auf sich zu lenken fand sie selbstsüchtig und unbescheiden. Obwohl Ines ihr das Kleid schenken wollte, lehnte sie ab. Diese war daraufhin selbst hineingeschlüpft und hatte sich voller Freude im Spiegel betrachtet. »Einfach toll!«, fand sie und beschloss, das Kleid für sich selbst zu kaufen. Typisch, hatte Ruth für sich befunden. Ines hatte es zum Abendessen getragen. Sie hatte großen Erfolg damit gehabt und einige Komplimente geerntet. »Du siehst fabelhaft aus«, hatte sogar Nico bemerkt. Ruth war neidisch geworden und hatte einige spitze Bemerkungen über körperbetonte Mode fallen lassen. Sie entschuldigte sich später bei Ines, die ihr riet, mehr Selbstvertrauen zu haben.
Jetzt lag Ruth im Bett und haderte mit sich selbst. Sie hatte sich wieder gelangweilt am Strand, die Kleidersache war eine Katastrophe gewesen und Ines hatte Recht. Ruth musste ein wenig weinen und danach schwor sie sich, es morgen besser zu machen. Sie würde ihre eigenen Wünsche anbringen. Sich durchsetzen.
Das Wetter am nächsten Tag machte es Ruth leicht, ihrem nächtlichen Schwur Folge zu leisten. Über Nacht war ein starker Wind aufgekommen, das Meer war den...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | 2024 • Beziehung • Beziehungsratgeber • eBooks • Gesundheit • Neuerscheinung • Ratgeber • Soziologie • Yoga |
ISBN-10 | 3-641-37026-4 / 3641370264 |
ISBN-13 | 978-3-641-37026-8 / 9783641370268 |
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Größe: 1,7 MB
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