The Mindful Body (eBook)
XVI, 260 Seiten
Vahlen (Verlag)
978-3-8006-7246-2 (ISBN)
XIEinleitung
Als sie sechsundfünfzig war, wurde bei meiner Mutter Brustkrebs diagnostiziert. Die Krankheit hatte von ihrem Körper Besitz ergriffen, und sie wurde gewarnt, dass ihre Behandlung kompliziert und brutal sein würde. Ihre Prognose war von Anfang an düster. Ihr Kampf mit dem Krebs – von dem ersten Mal, als sie einen Knoten unter ihrem Arm entdeckte, bis zu seiner Ausbreitung auf ihre Bauchspeicheldrüse – war schwierig für sie und beängstigend für mich.
Den Ärzten zufolge hatte sie nur noch ein paar Monate zu leben. Dennoch versuchte ich hartnäckig, sie bei Laune zu halten und hoffte, dass der Alptraum vorübergehen würde. Ein Kollege von mir sagte einmal, dass ich am Rande des Optimismus-Spektrums stünde. Vielleicht ist das eine höfliche Umschreibung dafür, dass ich die Situation verleugnet habe. (Ich glaube nicht an Verleugnung, aber dazu später mehr.)
Dann geschah das Erstaunlichste: Der Krebs meiner Mutter verschwand.
Zuerst waren wir alle überglücklich. Aber bald wurde mir klar, welchen Tribut die Behandlung von ihr gefordert hatte. Da sie eigentlich nicht überleben sollte, hatten sich die Ärzte keine Gedanken über ihr Leben nach dem Krebs gemacht. Weil ihre Gliedmaßen während des Krankenhausaufenthalts nicht bewegt wurden, war sie nach ihrer Rückkehr nach Hause zu schwach zum Laufen und an einen Rollstuhl gefesselt, wodurch sie sich noch weniger gesund fühlte.
XIIIch war erstaunt, wie ihr Umfeld sie behandelte. Während ich die Genesung meiner Mutter als ein Zeugnis ihrer Stärke ansah, sahen alle anderen nur ihre anhaltende Schwäche. In ihren Augen war sie immer noch krank und klammerte sich an das Leben. Sie gingen davon aus, dass der Krebs zurückkehren würde und sie bald wieder im Krankenhaus liegen würde. Sie hatten Recht. Innerhalb von neun Monaten trat der Krebs wieder auf und sie fiel ins Koma. Sie war siebenundfünfzig, als sie starb.
Viele Vorstellungen über Krebs, auch über seine Behandlung, haben sich im Laufe der Jahre geändert. Heute wird Krebs häufiger als chronische Krankheit betrachtet und nicht mehr als das gefürchtete, unaussprechliche Todesurteil, das er vor Jahrzehnten war. Auf onkologischen Stationen gibt es Ernährungsberater und Sozialarbeiter, die sich um die emotionalen Bedürfnisse der Patienten kümmern. Einige Dinge haben sich jedoch nicht geändert und Krebs wird immer noch überwiegend wie eine Krankheit behandelt, bei der die Psyche des Patienten nicht so wichtig ist wie medizinische Maßnahmen. Doch obwohl Diagnosen nützlich sind, lenken sie die Aufmerksamkeit nur auf einen Bruchteil der gelebten Erfahrung. Die Psyche beeinflusst unsere körperlichen Reaktionen, wird aber von der medizinischen Welt und uns selbst oft übergangen.
Ich konnte sehen, wie sich dies dramatisch auf den Geisteszustand meiner Mutter auswirkte. Ich beobachtete, wie die Welt der Medizin ihr das Gefühl der Kontrolle nahm, wie sie sich krank und schwach fühlte, selbst als der Krebs verschwunden war. Ich sah, wie die Diagnose zu einem Etikett wurde, das die Art und Weise bestimmte, wie sie von Ärzten, Krankenschwestern und Menschen außerhalb des Krankenhauses behandelt wurde. Meine Mutter war nicht mehr die lebensfrohe, schöne Frau, die ich mein ganzes Leben lang gekannt hatte. Sie war eine hilflose Krebspatientin, die ängstlich darauf wartete, welche Behandlung die Medizin als Nächstes parat haben würde.
XIIIDie Krebserkrankung meiner Mutter überzeugte mich davon, dass unser derzeitiger Umgang mit der Gesundheit uns möglicherweise kränker macht. Das Nachdenken über die Ursachen ihrer Krankheit erwies sich als Wendepunkt für meine wissenschaftliche Karriere und prägte die Achtsamkeitsforschung, die ich in den folgenden Jahrzehnten betrieb, nachhaltig. Das Wort „Achtsamkeit“ ist seit meiner frühen Arbeit in den 1970er Jahren allgegenwärtig geworden.1 Es ist schwer, eine Zeitung oder Zeitschrift aufzuschlagen oder sogar einem Interview zuzuhören, ohne dass das Wort „achtsam“ verwendet wird. In diesem Sprachgebrauch wird Achtsamkeit zumeist als ein Zustand dargestellt, der ausschließlich den Geist betrifft und oft mit der Praxis der Meditation zusammenhängt. Achtsamkeit ist jedoch – wie meine Schüler und ich gezeigt haben – ein einfacher Prozess, Dinge aktiv wahrzunehmen, für den keine Meditation erforderlich ist. Wenn wir achtsam sind, bemerken wir Dinge, die uns vorher nicht aufgefallen sind. Wir stellen fest, dass wir die Dinge, die wir zu kennen glaubten, doch nicht so gut kannten, wie wir dachten. Alles wird auf eine neue Weise interessant und potenziell nützlich.
Ich verwende das Wort „Achtsamkeit“ aber auch, und das ist wichtig, als Hinweis auf einen Zustand des Körpers. Ich glaube nämlich, dass unsere Psychologie der wichtigste Faktor für unsere Gesundheit ist. Ich spreche nicht nur von der Harmonie zwischen Geist und Körper. Ich glaube, dass Geist und Körper ein einziges System bilden und dass jede Veränderung im Menschen im Wesentlichen gleichzeitig eine Veränderung auf der Ebene des Geistes (d. h. eine kognitive Veränderung) und des Körpers (eine hormonelle, neuronale und/oder Verhaltensveränderung) ist. Wenn wir uns dieser Idee der Einheit von Geist und Körper öffnen, eröffnen sich uns neue Möglichkeiten, unsere Gesundheit zu kontrollieren. Die Kraft eines achtsamen Körpers zu nutzen, liegt in greifbarer Nähe.
XIVMein Labor in Harvard befasst sich mit den Auswirkungen der Einheit von Geist und Körper auf unsere Gesundheit. Es ist kein Labor, in dem man Chemikalien und dergleichen analysiert. Es ist nur ein Raum (jetzt oft virtuell), in dem sich meine Studierenden, Postdocs und interessierte Dozenten treffen, um ungewöhnliche Ideen zu erforschen. Die Mitglieder meines Labors und ich testeten die Idee der Einheit von Geist und Körper erstmals vor mehr als vierzig Jahren in der sogenannten „Studie gegen den Uhrzeigersinn“.2 Bei diesem Experiment lebten ältere Männer eine Woche lang so, als wären sie ihr jüngeres Ich. Wir brachten sie in einem Haus unter, das so umgebaut war, dass es den Anschein erweckte, die Zeit sei zwanzig Jahre zurückgedreht worden. Von den Zeitschriften auf dem Couchtisch bis zu den Alben neben dem Plattenspieler, vom Geschirr in der Küche bis zu den Sendungen (auf Videokassette), die auf dem alten Fernseher liefen – alles vermittelte den Eindruck, dass eine frühere Zeit herrschte und die Bewohner des Hauses jünger waren. Wir baten die Männer außerdem, sich wie jüngere Versionen ihrer selbst zu verhalten. So mussten selbst die Ältesten und diejenigen mit eingeschränkter Mobilität ihr Gepäck selbst die Treppe hinauf und in ihre Zimmer tragen. Wenn das bedeutete, dass sie jeweils nur ein einzelnes Hemd statt eines ganzen Gepäckstücks mitnehmen konnten, dann war das eben so. Die Ergebnisse dieses Lebens in der Zeitmaschine – sich vorzustellen, dass sie ihr jüngeres Ich sind – waren verblüffend. Die Körper der Männer veränderten sich. Ihre Sehkraft, ihr Gehör, ihre Kraft und sogar ihr objektives Aussehen verbesserten sich.
Die Ergebnisse widersprachen so sehr der vorherrschenden Auffassung vom Geist-Körper-Dualismus und dem, was man für möglich hielt, dass es nicht verwunderlich war, dass einige ihnen nicht glaubten. Dennoch war ich von diesem Experiment und der Art und Weise, wie die Ergebnisse die Einheit von Körper und Geist auf so elegante Weise demonstrierten, XVderart begeistert, dass ich mich seitdem mit diesem Konzept beschäftige. Es reizte mich, alle möglichen scheinbar extremen Hypothesen in diesem Zusammenhang zu testen – von der Frage, wie unsere Gedanken uns eine Erkältung bescheren können, über die Kontrolle unseres Insulinspiegels und der Menge an Schlaf, die wir brauchen, bis hin zur Frage, wie sie eine psychologische Heilung für viele chronische Krankheiten bieten können.
Das Ziel meiner Arbeit war es immer, herauszufinden, wie wichtig die Psychologie für unsere Gesundheit ist, und uns die Kontrolle über unseren Körper zurückzugeben. Ich versuche zu zeigen, dass die Psyche ein wichtiger Faktor für die Gesundheit des Körpers ist und dass einfache Maßnahmen zur Veränderung unserer Denkweise unser Wohlbefinden drastisch verbessern können. Am wichtigsten ist dabei vielleicht meine Arbeit über die Aufmerksamkeit für die Variabilität von Symptomen, bei der ich gezeigt habe, dass chronische Krankheiten wie MS und Parkinson sowie chronische Schmerzen durch eine psychologische Intervention verbessert werden können.
Auf den folgenden Seiten werde ich diese Überlegungen näher erläutern. Aber um unsere Gedanken zu ändern, um unseren Körper zu ändern, müssen wir zunächst einige Missverständnisse ausräumen. Zu diesem Zweck werden in den Kapiteln 1 bis 5 die meiner Meinung nach grundlegenden Fragen zu Regeln, Risiko, Vorhersage, Entscheidungsfindung und sozialem Miteinander behandelt. Wenn wir uns eine neue Sichtweise dieser Konzepte zu eigen machen können, sind wir auf dem besten Weg, achtsamer, zuversichtlicher und leistungsfähiger zu werden. Meine Arbeit zeigt, dass sich unsere Beziehungen zu anderen und zu uns selbst verbessern, wenn wir diese Veränderungen in unserem Denken vornehmen, und dass sich unser Stress verringert – alles im Dienste unserer Gesundheit.
XVIIn den Kapiteln 6, 7 und 8 werden Potenziale für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden erforscht – Möglichkeiten, die wir bisher nicht gesehen haben. Auf der Grundlage der Geist-Körper-Forschung von mir und anderen zeigen diese Kapitel einen Weg zu einer anderen Art, unser Leben zu leben – mit einem achtsamen Körper – und zur Wiederherstellung eines Teils der Gesundheit,...
Erscheint lt. Verlag | 7.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Bewerbung / Karriere |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie | |
Wirtschaft ► Betriebswirtschaft / Management | |
Schlagworte | Achtsamkeit • Psychologie • Wahrnehmung |
ISBN-10 | 3-8006-7246-4 / 3800672464 |
ISBN-13 | 978-3-8006-7246-2 / 9783800672462 |
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