Carina Lüke ist Rehabilitationspädagogin und Klinische Linguistin und leitet den Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Sie forscht und lehrt zur Kommunikations- und Sprachentwicklung ein- und mehrsprachiger Kinder, zur Diagnostik, (schulischen) Förderung und Sprachtherapie von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen sowie zur Unterstützten Kommunikation.
| Was ist eine Sprachentwicklungsstörung (SES)?
Sprachentwicklungsstörungen (SES) „sind bedeutsame Abweichungen von der unauffälligen Sprachentwicklung, die sich negativ auf soziale Interaktionen, den Bildungsverlauf und/oder die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern auswirken können“ (Kauschke et al., 2023, S. 91). Kinder mit SES haben demnach im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern noch deutlich weniger umfassende Sprachfähigkeiten erworben oder zeigen sprachlich untypische und fehlerhafte Äußerungen. Diese bedeutsamen Abweichungen von der Sprachentwicklung können in Zusammenhang mit einer anderen umfassenden Beeinträchtigung, wie beispielsweise einem genetischen Syndrom oder einer kindlichen Hirnschädigung auftreten oder auch unabhängig von solchen Beeinträchtigungen. Tritt die SES unabhängig von einer anderen Beeinträchtigung auf, wird sie lediglich als SES bezeichnet. Beim Vorliegen einer weiteren Beeinträchtigung, die zumindest anteilig für das Vorliegen der sprachlichen Auffälligkeiten verantwortlich gemacht werden kann, wird diese weitere Beeinträchtigung explizit genannt: z.B. „SES assoziiert mit Down-Syndrom“ (Kauschke et al., 2023).
In der Vergangenheit wurden SES bei Kindern, deren sprachliche Abweichungen nicht assoziiert mit einer anderen Beeinträchtigung auftraten, als spezifische oder umschriebene Sprachentwicklungsstörung (SSES bzw. USES) bezeichnet. Dies sollte ausdrücken, dass diese Kinder ausschließlich bzw. vor allem im Bereich der Sprache Auffälligkeiten aufweisen. Diese Spezifität bzw. Umschriebenheit der SES war jedoch irreführend. Eine Vielzahl an Studien konnte belegen, dass Kinder mit einer SES (vormals SSES bzw. USES) oftmals in weiteren Entwicklungsbereichen (leichte) Auffälligkeiten zeigen (für einen Überblick siehe Tomas & Vissers, 2018). So haben Kinder mit SES im Vergleich zu Kindern, die sich sprachlich unauffällig entwickeln, häufiger Einschränkungen in der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung, häufiger sozial-emotionale Schwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten und deutlich häufiger eine Lese-Rechtschreibstörung.
Diesen Erkenntnissen folgend hat in den Jahren 2020–2022 eine umfassende Studie mit über 400 Fachpersonen aus allen deutschsprachigen Ländern aus den Bereichen der Sprachtherapie/Logopädie, (Sonder-)Pädagogik, Medizin, Linguistik, Psychologie und Neurowissenschaften zur Definition und Terminologie von Störungen der Sprache im Kindesalter stattgefunden. Seither wird einheitlich der Fachbegriff Sprachentwicklungsstörung (SES) zur Bezeichnung von bedeutsamen Abweichungen von der alterstypischen Sprachentwicklung verwendet, der beim Vorliegen einer weiteren, umfassenden Beeinträchtigung um diese ergänzt wird (Kauschke et al., 2023; Lüke et al., 2023).
Wie häufig ist eine SES?
Eine SES betrifft in etwa 10 % aller Kindergartenkinder. Bei der Mehrheit dieser Kinder (7–8 %) tritt die SES ohne eine bekannte Ursache auf. Bei 2–3 % der Kinder ist die SES assoziiert mit einer anderen Beeinträchtigung, die zumindest anteilig als ursächlich für die sprachlichen Schwierigkeiten angesehen werden kann, wie beispielsweise einem genetischen Syndrom (Norbury et al., 2016). Hochgerechnet bedeutet dies, dass in jeder Kindergartengruppe oder Schulklasse von 28 Kindern im Durchschnitt zwei bis drei Kinder mit einer SES sind. Damit gehört die SES zu einer der häufigsten Entwicklungsstörungen!
Ab welchem Alter und wie lange spricht man von einer SES?
Bei Kindern, deren SES assoziiert mit einer anderen, umfassenden Beeinträchtigung besteht, kann bereits ab dem Auftreten der bedeutsamen Abweichung von der typischen Sprachentwicklung von einer SES gesprochen werden, was bereits zwischen 18 und 24 Monaten der Fall sein kann. Bei Kindern, deren SES unabhängig von einer solchen Beeinträchtigung auftritt, wird die Bezeichnung SES erst ab einem Alter von drei Jahren verwendet. Zwar zeigen sich in der Regel auch bei diesen Kindern bereits früher sprachliche und kommunikative Rückstände zu gleichaltrigen Kindern, aber da ein Aufholen der zeitlichen und inhaltlichen Abweichungen von der typischen Sprachentwicklung ohne externe Unterstützung bis zu einem Alter von drei Jahren deutlich wahrscheinlicher ist als danach, wird hier zwischen Sprachentwicklungsverzögerungen (SEV) und Sprachentwicklungsstörungen (SES) unterschieden. Kinder mit einer SEV werden auch als Late Talker (übersetzt: „späte Sprecher:innen“) bezeichnet. Hachul und Bauckmann (2023) veröffentlichten einen spezifischen Ratgeber für Eltern und Fachleute zum Thema Late Talker.
Eine Altersobergrenze für eine SES ist nicht definiert. Im Gegenteil, Fachpersonen aus allen relevanten Disziplinen sind sich einig, dass eine SES das gesamte Kindes- und Jugendalter umfassen kann und die Bezeichnung dementsprechend auch für Jugendliche zutreffend ist (Kauschke et al., 2023; Lüke et al., 2023). Von einem „Herauswachsen“ aus der SES ist nicht auszugehen.
SES bei mehrsprachigen Kindern
Eine SES tritt bei mehrsprachigen Kindern in vergleichbarer Weise und Häufigkeit wie bei einsprachigen Kindern auf (Paradis et al., 2003; Peña et al. 2020). Das bedeutet, dass bei mehrsprachigen Kindern mit einer SES sprachliche Schwierigkeiten in allen vom Kind erworbenen Sprachen vorliegen (Håkansson et al., 2003). Es bedeutet aber auch, dass mehrsprachige Kinder durch das Erlernen von mehr als einer Sprache weder zusätzlich beeinträchtigt noch durch ihre Mehrsprachigkeit vor einer SES geschützt sind.
Das Aufwachsen mit zwei oder mehr Sprachen gehört zur jeweiligen Lebenswirklichkeit eines Kindes und sollte als solche wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Es ist wichtig festzuhalten, dass Mehrsprachigkeit eine SES nicht verursacht und keinen negativen Einfluss auf die sprachliche Entwicklung eines Kindes mit oder ohne SES hat. Besonders förderlich ist es für die Kinder, wenn sie in allen Sprachen, die sie erwerben, viel sprachlichen Input erhalten.
Fachpersonen verfügen selbstverständlich nicht immer über die notwendigen sprachlichen Kompetenzen, um die nicht-deutsche(n) Sprache(n) des Kindes adäquat beurteilen zu können. Weder die Erzieher:innen noch der Kinderarzt bzw. die Kinderärztin des Kindes können somit sicher einschätzen, ob sprachliche Schwierigkeiten eines Kindes im Deutschen auf eine SES oder auf vorübergehende Phänomene in der Aneignung der deutschen Sprache zurückzuführen sind. Hierfür braucht es eine detaillierte Sprachdiagnostik durch eine(n) Sprachtherapeut:in/Logopäd:in. Die Zusammenarbeit von Familie und pädagogischen, medizinischen und therapeutischen Fachpersonen im Rahmen der Diagnostik ist dabei unabdingbar, um die sprachlichen Kompetenzen des Kindes gut einschätzen und etwaige Probleme einordnen zu können. Denn häufig kann die Familie wichtige Informationen zum sprachlichen Entwicklungsstand in der nicht-deutschen Sprache geben oder innerhalb der Diagnostik unterstützen (siehe Abschnitt „Diagnostik bei mehrsprachigen Kindern“).
Ähnlich wie bei einsprachigen Kindern sind auch bei mehrsprachigen Kindern vor allem die langsame Entwicklung in den einzelnen Sprachen sowie insbesondere das Vorliegen von Schwierigkeiten in beiden Sprachen wichtige Hinweise auf eine SES. Diagnostisch relevant sind darüber hinaus vor allem die Leistungen des Kindes im Nachsprechen von „Fantasiewörtern“ (Pseudowörtern) – also Wörtern, die eigentlich gar keine Bedeutung in der jeweiligen Sprache haben, aber durchaus wie diese Sprache klingen (z.B. „Beschone“ als ein Pseudowort im Deutschen). Mit diesen Wörtern wird das sogenannte phonologische Arbeitsgedächtnis, also das Kurzzeitgedächtnis für Gehörtes überprüft. Dies ist bei Personen mit SES in der Regel deutlich beeinträchtigt und verursacht maßgeblich die oben bereits beschriebenen Schwierigkeiten im Erwerb neuer Wörter oder dem Erkennen grammatischer Regeln.
Im Alltag fallen Schwierigkeiten im phonologischen Arbeitsgedächtnis häufig gar nicht so auf. Sollte ein Kind jedoch deutliche Schwierigkeiten haben, neue und ggf. auch lautlich komplexere Wörter nachzusprechen, kann dies ein Hinweis auf Schwierigkeiten im Arbeitsgedächtnis sein.
Welche Bedeutung hat das Auftreten einer SES für die weitere Entwicklung?
In internationalen Studien zum Bildungsvergleich konnte immer wieder gezeigt werden, welche große Bedeutung (bildungs-)sprachlichen Kompetenzen zukommt (Knighton & Bussière, 2006; Stanat et al., 2010): Schulischer Erfolg und damit der Zugang zum Berufsleben sind eng an sprachliche Fähigkeiten geknüpft. Der Einfluss von geringen sprachlichen Fähigkeiten auf schulische Kompetenzen, die psychische Gesundheit und ein erfülltes Sozialleben zeigt sich bei Kindern bzw. Erwachsenen, die als Kinder/...
Erscheint lt. Verlag | 31.1.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie |
ISBN-10 | 3-8248-9878-0 / 3824898780 |
ISBN-13 | 978-3-8248-9878-7 / 9783824898787 |
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