Anbruch der neuen Zeit (eBook)
544 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10008-4 (ISBN)
Marina Mu?nkler ist Professorin fu?r Mittelalterliche und Fru?hneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur an der Technischen Universität Dresden. Sie ist Autorin kulturgeschichtlicher und politischer Bu?cher, darunter «Lexikon der Renaissance» (2000) und «Marco Polo» (2015). Gemeinsam mit Herfried Mu?nkler veröffentlichte sie 2016 «Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft», ein Buch, das zum «Spiegel»-Bestseller wurde und enormes Echo fand.
Marina Münkler ist Professorin für Mittelalterliche und Frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur an der Technischen Universität Dresden. Sie ist Autorin kulturgeschichtlicher und politischer Bücher, darunter «Lexikon der Renaissance» (2000) und «Marco Polo» (2015). Gemeinsam mit Herfried Münkler veröffentlichte sie 2016 «Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft», ein Buch, das zum «Spiegel»-Bestseller wurde und enormes Echo fand.
Prolog
Das 16. Jahrhundert ist eine Epoche grundlegender Veränderungen und extremer Spannungen. Es ist das Jahrhundert, in dem Europa die Herrschaft über die Welt antritt, sich zugleich aber als bedroht und in den letzten Winkel der Welt gedrängt begreift. Drei große Konfliktlinien prägen das Jahrhundert: das Vordringen der Spanier und Portugiesen auf den amerikanischen Kontinent und in den Indischen Ozean, die Expansion des Osmanischen Reichs und der Zerfall der Christenheit in zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende Lager im Zuge der Reformation. In der europäischen Selbstwahrnehmung haben die sich daraus ergebenden Spannungen lange Zeit keine Rolle gespielt. Von der «Entdeckung der Welt und des Menschen» haben die Historiker Jules Michelet und Jacob Burckhardt in ihren emphatischen Beschreibungen der Renaissance gesprochen und damit das Pathos des Entdeckers als heroischem Überwinder unüberwindlich scheinender Grenzen begründet. Sie haben ein Bild der Renaissance entworfen, das durchgängig positiv gefärbt war und den Europäern Eigenschaften wie Neugier, Inspiration und Offenheit zuschrieb. Schon das von italienischen Humanisten erfundene Wort «Renaissance», Wiedergeburt, das zur Selbstauszeichnung der eigenen Zeit diente, war mit dem Pathos der Entdeckung verbunden – zunächst der Wiederentdeckung antiker Schriften, dann aber auch der Entdeckung «des Menschen» in der Bildungsbewegung des Humanismus und einer neuen Welt. Unter der Dominanz dieses Pathos ist der Eroberer quasi im Windschatten des Entdeckers gesegelt und hat an dessen Ruhm partizipiert.
Diese Sichtweise hat einer kritischen Betrachtung, wie sie seit dem Beginn der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg üblich wurde, nicht standhalten können. Aber lange Zeit dominierte nach wie vor die positive Sicht des Entdeckers, von dem der Eroberer zunehmend negativ abgegrenzt wurde. Erst seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich in der Kolonialgeschichtsschreibung die Erkenntnis durchgesetzt, dass Entdecker wie Christoph Kolumbus und Eroberer wie Hernán Cortés zusammengehören wie die beiden Seiten einer Medaille. Dennoch genießt der Entdecker bis heute einen sehr viel besseren Ruf als der Eroberer. Ihm werden Eigenschaften wie Inspiration, Wagemut und Unbeirrbarkeit angesichts von Widerständen und mangelnder Anerkennung zugeschrieben. Demgegenüber erscheint der Eroberer als der Prototyp schlechter Eigenschaften, als jemand, den Habgier, Brutalität, Grausamkeit und Verschlagenheit auszeichnen. Wo dem Eroberer dennoch Anerkennung zuteilwird, werden in erster Linie sein strategisches Geschick und sein Scharfsinn gerühmt, mit deren Hilfe er zahlenmäßige Unterlegenheit und logistische Defizite auszugleichen vermochte. Zwar konnte bei näherer geschichtlicher Betrachtung niemandem verborgen bleiben, dass Entdecker und Eroberer nicht nur eng miteinander verbunden, sondern häufig auch ein und dieselbe Person waren, dass der Entdecker von Beginn an auf die Inbesitznahme des von ihm entdeckten Landes aus war, dass er sich jederzeit in einen Eroberer verwandeln konnte und dass umgekehrt die meisten Eroberer das von ihnen eroberte Gebiet zuvor entdeckt hatten. Dennoch blieb die Betrachtung des Entdeckers als Grenzüberschreiter und -überwinder gegenüber dem Eroberer als Grenzverletzer beherrschend, und selbst diese Grenzverletzungen wurden vielfach gerechtfertigt – nicht zuletzt mit dem Argument der Ausbreitung des christlichen Glaubens, von dem angenommen wurde, dass er die Seelen der vormals Ungläubigen rette.
Während aber das Christentum in der Neuen Welt mehr oder minder gewaltsam expandierte, zerbrach seine Einheit in der Alten Welt, weil ein Augustinermönch in der deutschen Provinz einige zuvor schon im Schwange befindliche Überlegungen über Gott und die Welt zu Ende gedacht und die Freiheit Gottes entdeckt hatte, vor der alle menschliche Gewissheit zu Staub zerfiel. Das betraf insbesondere die von der römischen Kirche eingerichteten Heilsvergewisserungen: Ablass, Wallfahrt, Reliquien, Heilige. Sie hatten den Menschen einen permanenten Aushandlungsprozess mit dem göttlichen Richter ermöglicht und machten einen Weg zu Gott jenseits der Kirche und ihrer religiösen Praktiken undenkbar. Luther setzte ein Buch und eine Gewissheit dagegen, die der Einzelne in sich selbst finden musste: die Bibel und den Glauben. Damit rüttelte er an den Grundfesten des Christentums, was ihn der Verfolgung als Ketzer aussetzte. Als er 1521 angstvoll von Wittenberg zum Reichstag nach Worms fuhr, wo ihn, nachdem ihn der Papst im Jahr zuvor gebannt hatte, die Reichsacht erwartete, konnte er sich nicht sicher sein, die Stadt lebend wieder zu verlassen. Doch abgesehen von seinem Gottvertrauen konnte er auch Mut daraus schöpfen, dass ihm unterwegs eine ungeheure Welle der Begeisterung entgegenschlug: In Erfurt ritt ihm der Rektor der Universität, der berühmte Humanist Crotus Rubeanus, mit vierzig anderen entgegen und begrüßte ihn feierlich. Der Erfurter Latinist und neulateinische Dichter Helius Eobanus Hessus schrieb mehrere Elegien auf ihn und pries ihn nicht nur als einen neuen Herkules, der gekommen sei, um den Schafstall Christi auszumisten, sondern auch als denjenigen, der «der Christenheit ihren gebührenden Namen» zurückgebe. In Frankfurt begrüßte eine Patrizierin Luther gar als den Verkünder einer neuen Zeit, eines Neuanfangs, den sie euphorisch feierte. Während aber bei den einen Aufbruchsstimmung herrschte, wähnten die anderen das Ende der Welt nahe, wenn es nicht gelang, die «ketzerische» Bewegung, die Luther losgetreten hatte, in den Schoß der allein selig machenden Kirche zurückzuführen oder zu zerschlagen.
Insgesamt wurde der Anbruch der neuen Zeit keineswegs als etwas grundsätzlich Positives begriffen. Vielmehr dominierten apokalyptische Vorstellungen. Die neue Zeit wurde vielfach eher als Endzeit denn als Aufbruch verstanden. Das hatte nicht zuletzt mit der Zertrümmerung des Alten zu tun. Die protestantische Ablehnung der Heiligenverehrung und Luthers Verspottung der Heiligenlegenden als «Lügenden» räumte nicht nur den Himmel leer, sondern erschütterte auch die Fundamente von Glauben und Frömmigkeit. Bis zum Beginn der Reformation war die christliche Welt mit der ihr zugehörigen Zeitvorstellung von den Heiligen durchwirkt: Jeder Tag des Jahres war einem Heiligen gewidmet, jede Stadt, jede Kirche hatte ihren eigenen Heiligen, für jede Krankheit und jeden Notfall gab es einen Heiligen, den man um Hilfe anrufen konnte. Und jede Sünde konnte durch die Fürbitte der Heiligsten aller Heiligen, der Gottesmutter Maria, vergeben werden. Ein Angriff gegen diese Art von Verehrung war eine Attacke gegen die bestehende Frömmigkeitspraxis. Die Auseinandersetzung um die Heiligen bildete deshalb auch einen der erbittertsten Kampfplätze in dem Konflikt zwischen den sich ausprägenden protestantischen Konfessionen und der römisch-katholischen Kirche – einem Konflikt, der nicht nur in der Alten, sondern auch schon bald in der Neuen Welt ausgetragen wurde.
Zahlreiche Gewissheiten gingen damit zum Teufel, die gesellschaftliche Ordnung selbst schien ins Wanken geraten zu sein, und die darüber entstehenden Gegensätze wurden mit äußerster polemischer Schärfe vorgetragen: Beschimpfungen, Verunglimpfungen, Herabsetzungen und Schmähungen prägten die Kontroversen zwischen Katholiken und Protestanten, die dann häufig in Gewalt mündeten. Alle Konflikte wurden jetzt auf offener Bühne ausgetragen, denn die lateinische Sprache verlor ihre Vormachtstellung in den religiösen und politischen Diskursen. Die Auseinandersetzungen «ergriffen die Massen», weil sie in der Volkssprache geführt wurden, und es entstand erstmals so etwas wie eine «Öffentlichkeit». In diesen Gärungsprozessen geriet auch die Produktion und Verbreitung von Texten unter einen bis dahin nie dagewesenen Aktualitätsdruck. Die religiösen Kämpfe um die wahre Religion brachten eine Flut von Streitschriften hervor, Flugschriften, Flugblätter, die jedermann aufforderten, sich der einen oder der anderen Seite anzuschließen. Die Eroberung der Neuen Welt produzierte einen Strom von Americana, Berichten über die Neue Welt; gleichzeitig vervielfältigte sich durch den Bekenntnisdruck die Zahl der Selbstzeugnisse, wie Autobiographien, Tagebücher oder Briefe. Die unteren Schichten wurden Teil der Literatur, als Verfasser wie als Protagonisten. Im Reformationsdialog etwa trat der Bauer dem Kleriker selbstbewusst entgegen. Und die ritterliche Welt verlor ihre Vormachtstellung, trotz zahlreicher Versuche, ihre Vorbildlichkeit in neuem Glanz erscheinen zu lassen, etwa in Ariosts Epos Orlando Furioso (Der rasende Roland), in dem Liebesgeschichte und Kreuzzugsidee miteinander verknüpft werden, oder im Roman Amadis von Gallien, der noch einmal das Bild eines perfekten Ritters präsentierte.
Auf Letzteren bezog sich der Abgesang auf die Ritterlichkeit in Cervantes’ Don Quijote, des «Ritters von der traurigen Gestalt», der karikierte, was in den Kriegen mit den Osmanen wie den Kriegszügen in der Neuen Welt überdeutlich geworden war: Das Zeitalter der ritterlichen Kämpfe war zu Ende, es kam die Zeit der Kanonen und des Massakers. So sehr sich die Eroberer auch als Ritter zu inszenieren versuchten, so wenig konnten sie leugnen, was die Basis ihrer Erfolge war: hinterhältige Bündnisse und rücksichtslose Gewalt. In der Literatur ging das einher mit der Entdeckung des negativen Helden, der nicht mehr am «gemeinen Wohl» einer ständischen Gesellschaft orientiert, sondern auf die rücksichtslose Durchsetzung seiner Interessen aus ist, was auch durch Komik kaum noch gebändigt werden kann, denkt man beispielsweise...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2024 |
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Zusatzinfo | 2 x 16 S. 4-farb. Tafeln u. 2 s/w Karten |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Schlagworte | 16. Jahrhundert • Astronomie • Bauernkriege • Buchdruck • Christopher Columbus • Entdeckung Amerikas • Entdeckungen • Eroberungen • Europäische Geschichte • Frühe Neuzeit • Galileo Galilei • Gefühlswelt • Geschichte • Gesellschaft • Gewalt • Habsburgerreich • Hexenverfolgung • Historische Bücher • Indien • Innovation • Katholische Kirche • Kopernikus • Krieg • Kulturgeschichte • Martin Luther • Melancholie • Mittelmeer • Naturforschung • Nautik • Neue Welt • Osmanisches Reich • Protestantismus • Reformation • Renaissance • Schlacht von Mohács • Seefahrt • Türkenkriege • Universum • Weltgeschichte • Welthandel • Weltmeere • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-644-10008-X / 364410008X |
ISBN-13 | 978-3-644-10008-4 / 9783644100084 |
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Größe: 65,6 MB
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