»Ich hab die Eltern gepflegt, während du dich aus dem Staub gemacht hast!«, »Du warst doch eh immer das Lieblingskind!«, »Du hast leicht reden, du durftest ja auch studieren!«. Solche und ähnliche Sätze fallen, wenn es unaufgearbeitete Konflikte zwischen Geschwistern gibt.
Geschwisterbeziehungen sind die längsten - und oft auch kompliziertesten - Beziehungen unseres Lebens. Auch in vermeintlich intakten Familiengeschichten finden sich kleine und große Traumata, unausgesprochene Verletzungen und mitunter herbe Enttäuschungen, die tiefer sitzen, als wir es zugeben wollen. Das Problem dabei ist: Je älter wir und unsere Geschwister werden, umso stärker manifestieren sich Rollenbilder und Verhaltensmuster, die in der kurzen Zeit des gemeinsamen Aufwachsens entstanden - und heute gar nicht mehr stimmen müssen. Denn: In den prägenden Jahren unserer Kindheit und Jugend sind wir noch keine voll ausgebildeten, erwachsenen Persönlichkeiten. Wir ändern uns im Laufe unseres Lebens. Jede und jeder geht seinen Weg und nimmt die eigenen Verletzungen als Schwelbrände unter der Oberfläche mit. Und wenn dann die Eltern sterben, brechen die Wunden auf und es kommt nicht selten zum offenen Konflikt. Doch das muss nicht sein.
Die Journalistin, Bestsellerautorin und Schwester Ursula Ott erkundet in ihrem neuen Buch die vielen Spielarten der »Gezwisterliebe«, lässt Expert*innen und Betroffene zu Wort kommen und zeigt auf, welche Wege es geben kann, um selbst aus verfahrensten Situationen auszubrechen und gemeinsam ein neues, besseres Kapitel in der Geschwisterbeziehung aufzuschlagen.
Ursula Ott, Jahrgang 1963, ist Chefredakteurin des Magazins »chrismon«. Sie ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule in München und arbeitete u.a. als Gerichtsreporterin bei der »Frankfurter Rundschau«, als Autorin und Kolumnistin bei der »Woche«, »Brigitte« und »Sonntag aktuell« sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. Sie ist außerdem Autorin zahlreicher Sachbücher über Familie, Kinder und Gesellschaft. Ursula Ott hat eine Schwester und lebt in Köln und Frankfurt am Main.
Warum ich dieses Buch schreibe
Ein lauer Frühlingsabend in Leipzig, die erste Lesung aus meinem Buch Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. In dem Buch habe ich beschrieben, wie ich mit meiner Schwester zusammen unsere alte Mutter aus dem geliebten Elternhaus in ein Betreutes Wohnprojekt umsiedele. Und wie ich dabei unsere gemeinsame Kindheit aufräume.
Heute ist Buchpremiere. Ich darf bei »Leipzig liest« am Rande der Buchmesse in einem Yogastudio auftreten und anschließend signieren. Die Reihen sind dicht besetzt. Schon mal gutes Karma zwischen den grünen Meditationskissen, denke ich. Ich hatte nicht geahnt, dass das Buch wirklich so viele Menschen interessieren würde. Ich bin aufgeregt. Zwei Frauen in Schwarz fallen mir sofort auf: Eine mit kurzen blonden Haaren, eine mit langem dunklem Zopf. Sie lassen sich nach der Lesung ein Buch signieren. Und während ich noch überlege, was ich mit meinem eigens dafür angeschafften blauen Fineliner schön ordentlich auf Seite drei schreiben könnte, sagt die Ältere von beiden: »Unsere Mutter ist letzte Woche gestorben. Und wir wollen es so machen wie Sie und Ihre Schwester, wir wollen jetzt zusammenhalten, bei allem, was kommt.« Mit meinem Fineliner schreibe ich groß und deutlich in Schönschrift ins Buch »Ihr schafft das«. Und denke an diesem Abend: So ist es. Geschwister halten zusammen.
Ein warmes Gefühl durchströmt mich, wenn ich an meine drei Jahre ältere Schwester denke. Wie sie an meinem Bett saß und mir aus Hanni und Nanni vorlas, wenn ich mir – wieder mal, es kam häufiger vor, als mir lieb war – ein Bein oder einen Arm gebrochen hatte. Ich war der Tollpatsch, sie die Vernünftige. Wenn ich mit dem Stuhl gekippelt und mir den Hinterkopf aufgeschlagen hatte, tröstete sie mich, und wir flohen zur Ablenkung gemeinsam in unsere Traumwelten. Ins Internat zu den englischen Zwillingsschwestern, wo es um Mitternacht wilde Pyjamapartys gab.
Die Hanni-und-Nanni-Welt mit diesen frechen, selbstbewussten Girls hätte in keinem größeren Kontrast zu unserem strengen oberschwäbischen Elternhaus stehen können. Wenn ich mir mal wieder wehgetan hatte, gab es von meinem Vater nicht etwa tröstende Worte. Es gab einen Rüffel, was ich denn jetzt schon wieder angestellt hätte.
Für die Sommerferien 1973 hatten meine Eltern für uns vier einen Urlaub gebucht, eine Flusskreuzfahrt auf dem Rhein. Ich war am Tag vor der geplanten Reise beim Klettern von einem Baugerüst gefallen und ahnte: schon wieder ein Knochen kaputt. Urlaub gefährdet. Nie werde ich vergessen, wie ich am Vorabend der Abfahrt weinend vor Schmerzen auf dem Klo saß und meine Schwester an die Tür klopfte: »Du hast was gebrochen, oder? Komm, ich sag’s Papa.«
Wir fuhren dann trotzdem mit dem Kreuzfahrtschiff. Auf allen Fotos aus diesem Urlaub ist mein Riesengips zu sehen – von der Schulter bis zum Daumen. Ich hatte mir Ellbogen und Speiche gebrochen. Der vierte Knochenbruch in zehn Jahren. Neben mir auf den Rheinromantik-Fotos vor Burg Goarshausen meine um zwei Köpfe größere Schwester, die uns beiden kunstvolle Föhnfrisuren gestylt hatte. Damit der Blick vom gebrochenen Arm wegging, hin zu den beiden über die Rundbürste geföhnten und mit Mamas Haarspray fixierten Haartollen.
Als ich meiner Schwester heute davon erzähle, kann sie sich erst gar nicht erinnern, dass sie mir die Überbringung der schlechten Botschaft – Knochen gebrochen! – abgenommen hat. Aber sie sagt, sie habe mich auch bewundert damals: Ich war die, die auf Gerüste kletterte. Sie war die, die im ordentlichem Schottenkaro-Faltenrock sitzen blieb und den Eltern gefiel. Man konnte Biggi überall vorzeigen, mit mir wurde es eher peinlich für die Eltern. In meiner Strumpfhose immer Löcher am Knie. Auf der weißen Bluse immer ein Soßenfleck.
An meiner Schwester und mir könnte man die gesamte Geschwisterforschung durchexerzieren, über die in den letzten Jahren so kontrovers gestritten wird: Die Ältere ist die Angepasste, die Jüngere die Rebellin. Dass es so holzschnittartig im Leben dann aber meistens doch nicht läuft, werde ich später in diesem Buch noch anschaulich erklären.
Schwestern müssen zusammenhalten, das war mir immer klar. Als Kinder gegen die Eltern. Später als erwachsene Geschwister in der Fürsorge für die Eltern. Gerade wir Babyboomer, die wir, grob gesagt, in den 60ern und 70ern geboren wurden, sind oft bei strengen Eltern aufgewachsen, die als Kriegskinder Probleme hatten mit Wärme und Empathie. Ich kann mich zum Beispiel an ein Abendessen erinnern, bei dem meine Schwester – sie wird ungefähr fünfzehn Jahre alt gewesen sein – meinen Vater unverblümt fragte, warum er sich gegen Kriegsende freiwillig an die Front melden wollte. Eigentlich war mein Vater, geboren 1930, ein »weißer Jahrgang«. Er musste nicht in den Krieg. Aber er marschierte im April 1945 auf die Veitsburg in Ravensburg, wo die letzten verzweifelten Truppen versammelt wurden. Nur eine gehörige Tracht Prügel seines Vaters hielt ihn letztlich davon ab, als Fünfzehnjähriger sinnlos ins Feuer zu gehen. Er hatte uns oft davon erzählt, ganz so, als ob er dafür gelobt werden wollte. Und wir Töchter, inzwischen selbst in diesem Alter, konnten es einfach nicht verstehen. Freiwillig? In den Krieg?
Meine Schwester war viel mutiger als ich. Geschult von einer Generation linker Lehrer, schnitt sie beim Abendessen wieder und wieder das Thema Nationalsozialismus an. »Warum wolltest du in diesen Krieg?« Mit ihrem Geschichtslehrer hatte sie im Stadtarchiv die Nachkriegsgeschichte von Ravensburg recherchiert und Zeitzeugen interviewt. »Warum, Papa, erzählst du so begeistert von der Hitlerjugend, das waren doch keine Pfadfinder?« »Warum habt ihr nichts gemacht, als das Schaufenster von Juwelier Grünstein zerstört wurde?« … Bis meinem Vater mit einem Mal der Geduldsfaden riss und er ihr eine schallende Ohrfeige verpasste. Ich glaube, es war das einzige Mal, dass er handgreiflich wurde. Meine Schwester ertrug es heroisch. Sie verzog keine Miene. Aber ich fing an zu weinen. Ich ertrug nicht, dass meine Schwester ungerecht behandelt wurde.
All diese Szenen schossen mir durch den Kopf, als ich die beiden schwarz gekleideten Schwestern in Leipzig vor mir sah. Das war im Mai 2019. Zwei Dinge sind danach vollkommen anders gekommen, als ich dachte. Mein Buch wurde ein viel größerer Erfolg, als ich mir hätte erträumen können. Ich verstand: Eine ganze Generation von Kriegsenkeln räumt jetzt ihre elterlichen Wohnungen auf, stöbert im Elternhaus und konfrontiert sich selbst mit Dingen aus der eigenen Kindheit. Wie schön. Was mich allerdings zunehmend verstörte: Zu meinen Lesungen kamen nicht so viele liebevolle und zusammengeschweißte Geschwister, wie es die beiden in Leipzig waren. Sondern sehr viel öfter kam eben nur ein Bruder, eine Schwester. Und erzählte mir beim Signieren von Zwist, von Streit, sogar von regelrechtem Krieg mit den Geschwistern. Nicht wenige meiner Gegenüber hatten den Kontakt zu ihren Geschwistern sogar ganz abgebrochen.
Szenenwechsel. Ein schwülwarmer Abend in der Stadtbibliothek Essen, Sommer 2022, die letzten Gäste stehen noch bei einem Glas Weißwein am Büchertisch und ratschen. Ein Mann Anfang sechzig, der mich beim Signieren beobachtet, kommt mir bekannt vor. »Guten Abend, bitte zwei Exemplare, eines für mich und eines für meinen Bruder.« Sehr schön, gleich zwei Bücher – aber woher kenne ich den Mann?
»Das Buch hat mir jetzt schon geholfen«, sagt er. »Wissen Sie, unser Vater ist letztes Jahr – mit 88 und fit bis zum letzten Tag – vom sonntäglichen Mittagsschlaf nicht mehr aufgewacht, wie segensreich.« Aber? Aber, sagt er, da stehe nun das Elternhaus, keine 300 Meter von seinem eigenen entfernt. »Für mich war immer klar, das wird verkauft«, sagt der Mann, »aber mein Bruder in Hamburg – in Hamburg! – kann sich das überhaupt nicht vorstellen. Es soll alles so bleiben, wie es ist. Meine Frau nennt es mittlerweile das Museum.«
Der Mann redet sich jetzt in Fahrt. Von Kosten für die Wärmedämmung, von Schimmelbildung, Winterdienst und Lüftungsanlage. Man glaube ja gar nicht, wie schnell so ein leer stehendes Haus verfalle. »Ich führe ein mittelständisches Unternehmen mit 250 Angestellten, aber hier bin ich machtlos.« Und genau in dem Moment fällt mir ein, woher ich ihn kenne. Er hat neulich einen wichtigen Wirtschaftspreis gewonnen, es kam in den Abendnachrichten. Ein Gründer. Ein Macher. Einer, der gewohnt ist, dass die Dinge so laufen, wie er es will. Und jetzt ist da dieser Bruder, der einfach das Haus nicht loslassen kann. Und der ihn indirekt zwingt, alle paar Tage in das Haus zu gehen, um zu lüften. »Das ist jedes Mal eine Zumutung.«
Was läuft hier für ein Spiel? Warum kann der große Bruder vom Haus nicht lassen? Wie schafft er es eigentlich, den »Kleinen« mit Hausmeisterdiensten beschäftigt zu halten? Und was ist das überhaupt für ein »Museum« der Kindheit?
Anruf bei Katharina Mosel, sie ist Fachanwältin für Erbrecht in Köln. Jede Woche hat sie Geschwister an ihrem Tisch sitzen, meist am Freitagnachmittag, weil die Streithansel für die Termine oft aus allen Ecken der Republik zusammenkommen. Mal streiten sie um ein Haus, mal geht es um ein Firmenerbe. Manchmal aber auch nur um diesen einen Ring, den die Mutter angeblich der Gabi versprochen hat, aber die Luise hätte ihn halt auch gern. Die Anwältin, die auch eine Ausbildung in Mediation hat, versucht dann herauszufinden, welche Kindheitsmuster in den Familien jetzt, nach langer Zeit, wieder hervortreten. Durfte der eine studieren, die andere »nur« eine Lehre machen? War das Nesthäkchen immer Papas Liebling, das nach dem Abi dann...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | 2024 • Aussprache • Babyboomer • Beziehung • Beziehungsratgeber • Bruder • eBooks • Erbschaftsstreit • Familie • Geschwister • Gesundheit • Kriegskinder • Neuerscheinung • Persönlichkeitsentwicklung • Psychologie • Ratgeber • Schwester • Streit • Traumata • Versöhnung • Verzeihen • Wirtschaftswunder • Zusammenhalten |
ISBN-10 | 3-641-30372-9 / 3641303729 |
ISBN-13 | 978-3-641-30372-3 / 9783641303723 |
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