Er zählt zu den dunkelsten Kapiteln der Geschichte der Sowjetunion: Der Gulag, jenes weit verzweigte, zentral gesteuerte und in seinem Umfang bis dahin beispiellose System zur Ausbeutung von Zwangsarbeit. Wie entwickelte er sich aus dem Chaos der Revolutionszeit? Welche Bedeutung hatten Zwangsarbeit und Gulag für das sowjetische System? Wie gestaltete sich das Leben in den Lagern?
Diesen Fragen geht die renommierte amerikanische Journalistin Anne Applebaum in ihrem Buch nach. Gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial aus sowjetischen Archiven, das erst in jüngster Zeit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, und auf zahllose Häftlingserinnerungen und Gespräche mit Überlebenden zeichnet die Autorin das Gulagsystem von seinen Ursprüngen bis zu seiner Auflösung in den achtziger Jahren nach - und verleiht den Opfern eine Stimme.
Anne Elizabeth Applebaum, geboren 1964 in Washington, D. C., zählt zu den profiliertesten Kritiker*innen autoritärer Herrschaftssysteme und russischer Expansionspolitik. Die Historikerin und Journalistin begann ihre Karriere 1988 als Korrespondentin des »Economist« in Warschau, von wo sie über den Zusammenbruch des Kommunismus berichtete. Sie schrieb für viele renommierte Zeitungen und arbeitet seit 2019 als Kolumnistin für die Zeitschrift »The Atlantic« und als Senior Fellow an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies. Applebaum gilt als große Expertin der osteuropäischen Geschichte und der autoritären Regime Osteuropas. Ihre Bücher »Der Gulag« (2003), »Der Eiserne Vorhang« (2012), »Roter Hunger« (2019) und die »Die Verlockung des Autoritären« (2021), in denen sie den Mechanismen autoritärer Machtsicherung nachspürt, wurden internationale Bestseller und mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Pulitzer-Preis 2004 und mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis 2024. 2024 erhielten Anne Applebaum und ihr Ehemann Rados?aw Sikorski gemeinsam den Europapreis für politische Kultur der Hans Ringier Stiftung. Applebaums neues Buch »Die Achse der Autokraten« erschien im Oktober 2024 beim Siedler Verlag. Für ihr Gesamtwerk wird Anne Applebaum mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2024 ausgezeichnet.
Einführung
Dies ist eine Geschichte des Gulags – des riesigen Netzes von Arbeitslagern, das die Sowjetunion einst in ihrer ganzen endlosen Länge und Breite überzog: von den Inseln im Weißen Meer bis zu den Stränden des Schwarzen Meeres, vom Polarkreis bis zu den Ebenen Mittelasiens, von Murmansk und Workuta bis nach Kasachstan, vom Zentrum Moskaus bis zu den Vororten von Leningrad. Das Wort GULAG ist die russische Abkürzung für Glawnoje Uprawlenie Lagerej – Hauptverwaltung Lager. Nach und nach wurde dieser Begriff über die Verwaltung der Lager hinaus für das ganze Zwangsarbeitssystem in der Sowjetunion in all seinen Formen und Varianten verwendet: für Arbeitslager, Straflager, Lager mit kriminellen und politischen Häftlingen, Frauenlager, Kinderlager oder Transitlager. Schließlich umfasste »Gulag« das gesamte sowjetische Unterdrückungssystem und seine Verfahrensweise, die die Häftlinge den »Fleischwolf« nannten: die Verhaftungen, die Verhöre, die Transporte in ungeheizten Viehwagen, die Zwangsarbeit, die Zerstörung der Familien, die Jahre der Verbannung, den frühen, sinnlosen Tod.
Der Gulag hat seine Vorläufer im zaristischen Russland, in den Zwangsarbeitertrupps, die seit dem siebzehnten bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert in Sibirien schuften mussten. Seine heute bekannte Form nahm er im unmittelbaren Gefolge der russischen Revolution an. Bald wurde er zum festen Bestandteil des Sowjetsystems. Massenterror gegen wirkliche und vermeintliche Feinde gehörte von Anfang an zur Revolution. Schon im Sommer 1918 forderte ihr Führer Lenin, »unzuverlässige Elemente« in Konzentrationslagern außerhalb der Städte zu internieren.2 Prompt wurden Adlige, Kaufleute und andere Personen festgesetzt, die man als potenzielle Feinde ansah. 1921 gab es bereits 48 Lager in 43 Gouvernements, die angeblich der »Rehabilitierung« dieser ersten »Volksfeinde« dienen sollten.
Ab 1929 erlangten die Lager eine neue Bedeutung. In jenem Jahr beschloss Stalin, Zwangsarbeiter einzusetzen, um die Industrialisierung der Sowjetunion voranzutreiben und die Bodenschätze im Hohen Norden des Landes zu erschließen, wo Menschen kaum leben konnten. Im selben Jahr begann die sowjetische Geheimpolizei, die Kontrolle über den Strafvollzug zu übernehmen, und entwand der Justiz ein Lager und ein Gefängnis nach dem anderen. Die Massenverhaftungen der Jahre 1937/38 ließen das Lagersystem rasch anwachsen: Ende der dreißiger Jahre hatte es sich über alle zwölf Zeitzonen des riesigen Landes ausgedehnt.
Entgegen der landläufigen Meinung expandierte der Gulag selbst während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit. Seine größte Ausdehnung erreichte er nicht in den Dreißigern, sondern erst Anfang der fünfziger Jahre. Zu diesem Zeitpunkt waren die Lager aus der Sowjetwirtschaft nicht mehr wegzudenken. Sie förderten ein Drittel des Goldes, den größten Teil von Kohle und Holz, und produzierten beträchtliche Mengen von nahezu allem, was in der Sowjetunion überhaupt hergestellt wurde. Über die Jahre entstanden mindestens 476 Lagerkomplexe mit Tausenden Einzellagern, in denen von einigen hundert bis zu mehreren tausend Menschen lebten.3 Die Häftlinge wurden in jedem erdenklichen Industriezweig eingesetzt – von Holzeinschlag, Bergbau, Hausbau und Fabrikarbeit über Landwirtschaft bis zur Entwicklung von Flugzeugen und Geschützen. Ihr Lebensraum war ein Staat im Staate, im Grunde eine andere Zivilisation. Der Gulag hatte seine eigenen Gesetze, seine eigenen Sitten, seine eigene Moral und sogar seine eigene Sprache. Er brachte eine eigene Literatur mit eigenen Schurken und Helden hervor. Er prägte alle, die mit ihm in Berührung kamen – ob nun Häftlinge oder Wachpersonal. Auch Jahre nach ihrer Entlassung erkannten ehemalige Insassen einander schon am Blick.
Solche Begegnungen kamen häufig vor, denn in den Lagern herrschte eine enorme Fluktuation. Es wurde viel verhaftet, aber auch viel entlassen. Häftlinge kamen frei, weil ihre Strafe abgelaufen war, weil die Rote Armee sie brauchte, weil sie Invaliden waren oder Frauen mit kleinen Kindern, weil man sie vom Häftling zum Aufseher beförderte. Im Schnitt saßen zwei Millionen Menschen in den Lagern ein. Die Gesamtzahl der Sowjetbürger, die als politische oder Strafgefangene mit den Lagern in Berührung kamen, liegt allerdings viel höher. Nach den glaubhaftesten Schätzungen haben von 1929, als der Gulag stark zu wachsen begann, bis zu Stalins Tod im Jahre 1953 insgesamt etwa achtzehn Millionen Menschen dieses riesige System durchlaufen. Weitere sechs Millionen wurden in die kasachische Wüste oder in die sibirische Taiga verbannt. Zwar lebten Letztere nicht hinter Stacheldraht, aber sie durften ihren Verbannungsort nicht verlassen und waren im Grunde ebenfalls Zwangsarbeiter.4
Als System mit Millionen Insassen verschwanden die Lager bei Stalins Tod. Während er lebenslang geglaubt hatte, der Gulag sei entscheidend für das Wirtschaftswachstum des Landes, erkannten seine politischen Erben, dass dieses System zu zahlreichen Fehlinvestitionen geführt und die Rückständigkeit der sowjetischen Wirtschaft geradezu konserviert hatte. Stalin war kaum einige Tage tot, als man es bereits zu demontieren begann. Drei große Revolten, dazu eine ganze Reihe kleinerer, aber nicht weniger gefährlicher Vorfälle beschleunigten diesen Prozess.
Ganz verschwanden die Lager allerdings nie. Sie veränderten sich nur äußerlich. In den siebziger und frühen achtziger Jahren wurden einige umgebaut und mit einer neuen Generation von Häftlingen gefüllt – Aktivisten der Demokratiebewegung, antisowjetischen Nationalisten und Kriminellen. Sowjetische Dissidenten und die internationale Menschenrechtsbewegung sorgten dafür, dass Informationen über diese poststalinistischen Lager regelmäßig in den Westen gelangten, und allmählich befasste sich auch die Diplomatie des Kalten Krieges mit diesem Thema. Noch in den achtziger Jahren sprachen der amerikanische Präsident Ronald Reagan und sein sowjetischer Partner Michail Gorbatschow darüber. Erst 1987 ließ Gorbatschow, dessen Großvater selbst im Gulag gesessen hatte, die Straflager für politische Gefangene endgültig abschaffen.
Obwohl es so lange existierte wie die Sowjetunion selbst, obwohl viele Millionen Menschen dort festgehalten wurden, war die Geschichte des sowjetischen Lagersystems bis vor kurzem kaum bekannt. So ist es in gewissem Maße noch immer. Selbst die einfachsten Tatsachen, die heute jeder kennt, der sich im Westen mit sowjetischer Geschichte beschäftigt, sind dem breiten Publikum nicht geläufig. »Das Wissen der Menschen«, schrieb einst der französische Kommunismusforscher Pierre Rigoulot, »sammelt sich nicht an wie die Steine einer Mauer, die unter den Händen des Maurers ständig wächst. Ob es sich vermehrt, stagniert oder gar abnimmt, hängt vom sozialen, kulturellen und politischen Umfeld ab.«5
Man könnte sagen, dass das soziale, kulturelle und politische Umfeld für gründliche Kenntnisse über den Gulag bis heute fehlt.
Mir wurde das Problem zum ersten Mal vor einigen Jahren bewusst, als ich über die Karlsbrücke in Prag ging, den Touristenmagnet einer Stadt, in der gerade die Demokratie Einzug gehalten hatte. Da gab es Straßenmusikanten und Taschendiebe, und alle paar Meter wurde etwas verkauft, was man an einem solchen Ort erwartet. Es gab Bilder von besonders malerischen Winkeln der Stadt, es gab Souvenirs und billigen Schmuck. Zwischen all dem Krimskrams wurden auch Ausrüstungsstücke der Sowjetarmee feilgeboten – Uniformmützen, Abzeichen, Koppelschnallen, Lenin oder Breschnew als kleine Anstecker, wie sie sowjetische Kinder an ihrer Schulkleidung trugen.
Ich fand die Szene absurd. Vor allem Amerikaner und Westeuropäer kauften die Symbole der verblichenen Sowjetmacht. Auf die Idee, sich ein Hakenkreuz anzustecken, wäre wohl niemand gekommen. Aber Hammer und Sichel auf einem T-Shirt oder an der Mütze schienen okay. Das war nur eine Beobachtung am Rande, aber zuweilen zeigt sich gerade darin ein kultureller Trend. Die Botschaft konnte klarer nicht sein: Während uns das Symbol für den einen Massenmord mit Schrecken erfüllt, bringt uns das für den anderen zum Lachen.
Wenn den Touristen in Prag die Stalinherrschaft im Wesentlichen gleichgültig war, dann ist das zum Teil damit zu erklären, dass es in der westlichen Massenkultur an entsprechenden Bildern fehlt. Der Kalte Krieg hat James Bond, Thriller und karikaturhafte Darstellungen von Russen, wie sie in Rambo-Filmen auftreten, hervorgebracht, aber kein anspruchsvolles Werk wie Schindlers Liste oder Sophies Entscheidung. Steven Spielberg – wahrscheinlich Hollywoods führender Regisseur, ob man ihn nun mag oder nicht – hat Filme über japanische Konzentrationslager (Das Reich der Sonne) und nationalsozialistische KZs gedreht, aber keinen einzigen über Stalinsche Lager. Letztere haben Hollywood nie in gleicher Weise inspiriert.
Seriöse Kunst und Wissenschaft haben dem Thema kaum offener gegenübergestanden. So nahm der Ruf des deutschen Philosophen Martin Heidegger schweren Schaden, weil er den Nationalsozialismus kurze Zeit offen unterstützt hatte, und dies bevor Hitler seine großen Verbrechen beging. Dagegen litt der französische Philosoph Jean-Paul Sartre überhaupt nicht darunter, dass er in der Nachkriegszeit, als jeder, der sich dafür interessierte, bereits genügend über Stalins Grausamkeiten wissen konnte, die Sowjetunion lautstark verteidigte. »Da wir keine Parteimitglieder waren«, äußerte er einmal, »mussten wir nicht über die sowjetischen Arbeitslager...
Erscheint lt. Verlag | 19.6.2024 |
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Übersetzer | Frank Wolf |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Gulag: A History |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Schlagworte | 2024 • Diktatur • eBooks • Geschichte • Kommunismus • Krieg • Moskau • Neuerscheinung • Russland • Sowjetunion • Stalin • Straflager • Terror • Ukraine • Ural • Zwangsherrschaft |
ISBN-10 | 3-641-31882-3 / 3641318823 |
ISBN-13 | 978-3-641-31882-6 / 9783641318826 |
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