Komplexe neue Welt und wie wir lernen, damit klarzukommen (eBook)
400 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31084-9 (ISBN)
Das weltumspannende Internet, globale Lieferketten und eine empfindliche Energieinfrastruktur sind nicht nur die Grundlage von Wohlstand, sie machen die Zivilisation auch verletzlich. Schon die nur sechs Tage dauernde Havarie der »Ever Given« im Suezkanal brachte die Weltwirtschaft zum Stottern. Und im globalen Kommunikationsraum interagierende Algorithmen können ein unberechenbares Eigenleben entwickeln – geschehen etwa bei einem der größten Börsencrashs des letzten Jahrhunderts, dem »Black Monday« am 19. Oktober 1987.
Aber auch den Fall, dass unvermeidbare Naturkatastrophen die lebensnotwendige und empfindliche Infrastruktur schädigen, sollten wir bedenken. Was passiert, wenn durch ein Erdbeben, das unterirdische Schlammlawinen auslöst, empfindliche Datenkabel des Internets zerstört werden? Und sind wir auf den Ausbruch eines Supervulkans vorbereitet? Werden Solarmodule und Windkrafträder dann noch genug Energie liefern und die Ernten reichen, um die Menschen zu ernähren?
Marco Wehr durchdenkt diese Prozesse grundlegend, entwirrt die verwickelten Knäuel des Komplexen und zeigt uns, an welchen Fäden wir ziehen müssen, um zu einem sichereren und zufriedeneren Leben zurückzufinden. Ein längst überfälliges, augenöffnendes Buch über die Dynamiken und die versteckten Gefahren einer hochkomplexen technisierten Welt und ein Appell, darin das menschliche Maß nicht zu verlieren.
Marco Wehr, geboren 1961, ist Physiker, promovierter Philosoph sowie Gründer und Leiter des Philosophischen Labors in Tübingen. Als vielfach ausgezeichneter Autor und Redner beschäftigt er sich mit Fragen der Vorhersehbarkeit, der Komplexität und der Beziehung von Gehirn und Computer. Er schreibt u.a. für die FAZ und veröffentlichte vieldiskutierte Bücher etwa über die Chaostheorie und die Bedeutung der Hand für das menschliche Denken.
»Für mich ist es das Buch der Stunde. Marco Wehr ist es gelungen, dem Thema gleichermaßen Breite und Tiefe, Gravitas und Leichtfüßigkeit, historische Verankerung und Aktualität zu verleihen.« Dr. Thomas Lange, 1E9 Magazin
»Oft sind wir von unserem Alltag überfordert. Für dieses Gefühl sind wir meist selbst verantwortlich, da wir die Welt z.B. durch Handys und das Internet immer komplexer machen, sagt Marco Wehr. Dagegen hilft ein wenig mehr Genügsamkeit in dem, was wir tun.« Christoph König, SWR 2
Wie die Welt zu einem Buch mit sieben Siegeln wird
Was bringt es, sich mit Komplexitätsfallen zu beschäftigen? Ist das mehr als ein gelehrtes Glasperlenspiel?
Im Universum der Telefontarife die Orientierung zu verlieren mag lästig sein, und es ist mühsam, sich optimal zu entscheiden. Aber das sind harmlose Seiten der Vielfalt. Verzweifelte junge Menschen, denen verschachtelte Möglichkeitsräume zu undurchsteigbaren Labyrinthen werden, scheinen schon ein dringlicheres Problem zu haben. Aber ist das alles? Definitiv nicht. Bisher bewegen wir uns nur an der Oberfläche eines tiefgründigen Phänomens, und die angeführten Beispiele sind nicht repräsentativ. Sie wurden aus Gründen ihrer Anschaulichkeit an den Anfang gestellt.
Andere Komplexitätsfallen bergen tiefere Abgründe. Und dort lauern mitunter tödliche Gefahren, die nicht nur den Einzelnen betreffen können. Es sind auch Szenarien denkbar, in denen Millionen Menschen zu Opfern werden. Vor diesem Hintergrund ist es ein Gebot der Vernunft, sich intensiv mit Komplexitätsfallen auseinanderzusetzen.
Weiten wir deshalb die Perspektive! Nicht nur der chaotische Alltag zehrt an den Nerven. Die Allgegenwärtigkeit von Nachrichten aller Art erinnert uns auch daran, dass wir als Individuen in übergeordnete Kausalzusammenhänge eingewoben sind, die unser Schicksal maßgeblich beeinflussen. Komplexitätsfallen, wohin das Auge blickt.
So machen uns der bedrohliche Klimawandel, das globale Wirtschaftssystem mit seinen sorgsamst choreografierten weltumspannenden Lieferketten, das von Megacomputern getriebene internationale Finanzsystem, in dem Aktiengeschäfte im Mikrosekundentakt getätigt werden, und das verworrene Rechtssystem der Europäischen Union, bestehend aus von gewöhnlichen Sterblichen nicht mehr zu dechiffrierenden Gesetzeswerken, zu unscheinbaren Rädchen in einem Getriebe, dessen Mechanik wir nicht mehr wirklich verstehen, in dem zu leben wir aber gezwungen sind.
Zu allem Überfluss entfaltet eine hyperkomplexe Informationsinfrastruktur, die Milliarden Menschen in einen instantanen Kommunikations- und Kausalzusammenhang bringt, eine mit dem Verstand kaum mehr zu fassende Dynamik. So wird uns die Welt zu einem Buch mit sieben Siegeln. Wir können nicht nachvollziehen, wie sich eine ohnehin schon schwer zu verstehende natürliche Umwelt mit dem vom Menschen geschaffenen Gewirr kultureller Errungenschaften verschachtelt.
Wie kann man das ändern? Wie soll man das illustre Spektrum verschiedener Komplexitätsfallen kategorisieren, um es fassbar zu machen? Dazu bieten sich in einem ersten Anlauf Natur und Kultur als dichotome Begriffe an.
Natürliche Komplexitätsfallen, das sind die altbekannten Schreckensgesichter, die auch heute wenig von ihrer Furcht einflößenden Wirkung verloren haben: Vulkanausbrüche, Erdbeben, Tsunamis, Sturmfluten, Seuchen, Dürren und Überschwemmungen. Diese haben seit jeher in schicksalshafter Weise die Geschicke der Menschheit beeinflusst. Sie sind durch moderne Technik auch nur in Teilen vorhersehbarer geworden.
Doch unabhängig von der historischen Vertrautheit mit dem Unberechenbaren, zu der schon immer vorhandenen Rätselhaftigkeit der natürlichen Lebenswelt gesellt sich eine neue Form vom Menschen erschaffener Komplexität.
Diese zeigt eine verstörende Doppelgesichtigkeit. Auf der einen Seite ist sie in wichtigen Teilen Grundlage eines historisch gesehenen unvergleichlichen Wohlstands, den viele Menschen zumindest in den Industrie- und Schwellenländern genießen dürfen (Pinker 2018/Rosling 2019). Ohne den weltweiten Warenverkehr ist etwa das üppige Angebot verschiedenster Lebensmittel in unseren Supermärkten nicht denkbar.
Auf der anderen Seite machen wir unsere Lebenswelt jedoch zu einem prekären Ort. Wir graben tiefe Gruben, in die wir selbst zu stürzen drohen. Da kommt einem Goethes Zauberlehrling in den Sinn: »Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister werd ich nun nicht los!« Dieser Hilferuf ist prophetisch. Und er ist für unsere Zeit paradigmatisch. Schließlich bergen die komplexen globalen Strukturen ein gehöriges Gefahrenpotenzial. Vor diesem Hintergrund sind wir aufgefordert, die Vor- und Nachteile dieser forcierten Entwicklung zu erörtern und gegeneinander abzuwägen. Der alte Meister, der in Goethes Ballade mit geballter Zauberkraft den Spuk beendet, ist leider eine literarische Gestalt. In der Realität gibt es ihn nicht. Die Verantwortung für selbst geschaffene komplexe Systeme, die sich irgendwann nicht mehr beherrschen lassen, liegt deshalb einzig und alleine bei uns selbst.
Mit der Erörterung natürlicher und künstlicher Komplexitätsfallen ist dem Thema allerdings noch nicht Genüge getan. Diese existieren nämlich nicht in getrennten Sphären. Das Natürliche und das Künstliche sind kausal verschlungen. Und durch diese Verschlingungen entstehen hybride Komplexitätsfallen, die sich in ungünstigen Fällen zu echten Komplexitätsmonstern auswachsen können.[2]
Zu solchen Monstern gehören Seuchen wie die Spanische Grippe (1918–1920) oder die gerade durchlittene Corona-Pandemie. Komplexitätsmonster können aber auch ein völlig anderes Gesicht haben. Man male sich einmal aus, was passieren würde, wenn heute ein Supervulkan explodierte. Wie würde der Aktienmarkt reagieren? Vorausgesetzt, er könnte noch reagieren, da die komplexe Kommunikationsinfrastruktur keinen Schaden genommen hätte. Was wäre mit dem weltweiten Handel, wenn Häfen zerstört und Schifffahrtsrouten gesperrt wären und der Luftverkehr für Monate eingestellt werden müsste? Und welche Konsequenzen hätte es, wenn in einer Welt, in der sich für Jahre der Himmel verfinsterte, eine Energieversorgung, die vorrangig Sonne und Wind nutzt, nicht mehr zuverlässig funktionieren würde? Würde in einem solchen Szenario noch genügend Strom geliefert? Oder drohte dann ein umfassender Blackout mit kaum vorstellbaren Konsequenzen?
Komplexitätsmonster sind Ereignisse, vor denen wir uns fürchten müssen. Und sie sind, das muss betont werden, keine Ausgeburten einer ängstlich fiebernden Fantasie. Sie sind realistisch. Es wird sie geben. Die Frage ist nur, wann. Verdrängen dürfen wir sie nicht (Taleb 2008, 2013). Es gibt nämlich Nachrichten, die uns nachdenklich stimmen müssen. Zu diesen gehört eine ausführliche wissenschaftliche Untersuchung international renommierter Paläovulkanologen: Ausbrüche von Supervulkanen, die das Potenzial haben, unser Wetter über Jahre zu verändern, sind wesentlich wahrscheinlicher, als man bisher angenommen hat (Sigl u.a. 2022).
Was sollen wir tun? Der erste Schritt besteht darin, die Existenz solcher Gefahren zur Kenntnis zu nehmen. Im nächsten Schritt gilt es, die »Anatomie« der Komplexitätsfallen genauer zu studieren. Das soll in diesem Buch versucht werden. Dabei wird sich herausstellen, dass viele der bedrohlichen Komplexitätsfallen ziemlich verwickelte Knäuel verschiedener Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind. Einige dieser Knäuel wollen wir unter die Lupe zu nehmen, um offenzulegen, von welcher Art Fäden sie gebildet werden. So lässt sich ihr kompliziertes Wechselspiel zumindest qualitativ verstehen. Darüber hinaus werden wir erkennen, dass zumindest natürliche Komplexitätsfallen typische Signaturen haben. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sich nach einem kritischen Zeitpunkt keine verlässlichen Aussagen mehr über die zukünftige Entwicklung machen lassen. Aber dieser erkenntnistheoretische Kipppunkt ist von Komplexitätsfalle zu Komplexitätsfalle verschieden, sodass unserer prognostisches Unvermögen nicht schrankenlos ist. Auf diese Weise bekommt das Unberechenbare wenigstens eine Kontur. Es gibt Inseln der Regelhaftigkeit in einem Meer aus Chaos.
Zum Schluss werden wir uns mit dem Problem beschäftigen, wie man mit dem Unberechenbaren umgehen soll. Dazu müssen vorher aber einige Fragen beantwortet werden: Welche Formen von Komplexität sind unvermeidlich, liegen also in der Natur der Sache, sodass wir gar keine andere Wahl haben, als diese zur Kenntnis zu nehmen und uns mit ihnen zu arrangieren, indem wir uns gewissenhaft vorbereiten? Wann sind wir selbst die Konstrukteure des Chaos und gehen uns selbst auf den Leim, da wir vieles immer komplizierter machen? Und sind die Risiken, die so entstehen, es wert, eingegangen zu werden? Welche Möglichkeiten hätten wir, sie zu vermeiden? Als Individuum, als Land, als globale Gemeinschaft? Und nicht zuletzt: Wie ist es möglich, in dieser verschachtelten Welt ein zufriedeneres, weniger gehetztes Leben zu führen?
Um jetzt tiefer in die Welt der Komplexitätsfallen einzusteigen, möchte ich auf den folgenden Seiten einen etwas unorthodoxen Weg wählen. Gewöhnlich verfasst man an dieser Stelle einen gerafften Ausblick. Dazu werden kurze Zusammenfassungen der Kapitel linear wie auf einer Perlenschnur aufgereiht. Ich glaube aber, dass ein anderer Zugang dem Thema angemessener ist. Das Netz, nicht die Schnur, ist die Insigne des Komplexen. Deshalb folgt eine Kollage des Komplexen.
Sie besteht aus verschiedenen Streiflichtern, die zuerst in chronologischer Reihenfolge wichtige Umbrüche beleuchten. Diese dürfen im weiteren Verlauf des Buchs aber nicht als isolierte Ereignisse betrachtet werden. Sie stehen in mannigfacher Weise miteinander in Beziehung und müssen deshalb in einen übergeordneten Zusammenhang gedacht...
Erscheint lt. Verlag | 11.4.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Schlagworte | Analyse • Aufklärung • ChatGPT • Gesellschaft • Komplex • Komplexität • künstliche Intelligenz-KI • Lösungen • Orientierung • Philosoph • Philosophie • Unsicherheit • Wissen |
ISBN-10 | 3-462-31084-4 / 3462310844 |
ISBN-13 | 978-3-462-31084-9 / 9783462310849 |
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