Der Osten und das Unbewusste (eBook)
352 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12151-3 (ISBN)
Andreas Petersen studierte Allgemeine Geschichte, Osteuropäische Geschichte und Germanistik in Zürich. Er ist Dozent für Zeitgeschichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Leiter der Geschichtsagentur »zeit&zeugen« in Zürich und Berlin. Er gehörte zum Forschungsteam der Freien Universität Berlin, das die Unterwanderung der West-Berliner Polizei durch die DDR-Staatssicherheit untersuchte. Im Jahr 2019 erschien sein Buch »Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte« über die Gründergeneration der DDR.
Andreas Petersen studierte Allgemeine Geschichte, Osteuropäische Geschichte und Germanistik in Zürich. Er ist Dozent für Zeitgeschichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Leiter der Geschichtsagentur »zeit&zeugen« in Zürich und Berlin. Er gehörte zum Forschungsteam der Freien Universität Berlin, das die Unterwanderung der West-Berliner Polizei durch die DDR-Staatssicherheit untersuchte. Im Jahr 2019 erschien sein Buch »Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte« über die Gründergeneration der DDR.
2 Moskau: Die Schaffung des Neuen Sowjetmenschen
Aron Borissowitsch Salkind – der pädologische Antisexer
Revolutions-Blutdruck – 1924 veröffentlichte der 36-jährige sowjetische Psychiater und Psychotherapeut Aron Salkind das Buch »Die zwölf sexuellen Gebote des revolutionären Proletariats«. Salkind war 1910 am Anfang seines Medizinstudiums auf die Schriften Freuds und Adlers gestoßen. Seitdem verstand er sich ohne jede analytische Ausbildung als Analytiker und war federführend in einer Gruppe von Kiewer Psychoanalytikern. Mit Hilfe einer abstrusen Melange aus Psychoanalyse, Energielehren und Leninismus startete er eine erstaunliche Karriere im jungen Sowjetstaat. Auf den 196 Seiten seiner Sexualschrift zeigte er sich besorgt über den Rückgang des revolutionären Elans der russischen Arbeiterschaft. Das Proletariat, erklärte Salkind, sei von seiner historischen Mission abgelenkt, weil ihm der sexuelle Fetischismus die Energie raube. Das sei ein grundsätzliches Leiden des modernen Menschen. Ziel des neuen Staates müsse es sein, dass das Kollektiv mehr Anziehungskraft als der Liebespartner haben müsse. Um das zu erreichen, seien folgende Regeln nötig: Sexualität erst ab dem 20. Lebensjahr und die dann selten, keine Polygamie, die Wahl des Sexpartners solle nach revolutionär-proletarischer Zweckmäßigkeit erfolgen und es dürfe keine Eifersucht geben. Als 12. und wichtigstes Gebot solle gelten: »Die Klasse hat um besagter revolutionärer Zweckmäßigkeit willen das Recht, sich in das Geschlechtsleben ihrer Mitglieder einzumischen.«[2] Das klang doch ziemlich anders als die Libertinage der 16 Jahre älteren Revolutionärin und Volkskommissarin Alexandra Kollontai, die vier Jahre zuvor in ihrer »Glas-Wasser-Theorie« gefordert hatte, dass in der neuen Gesellschaft das sexuelle Verlangen so leicht zu stillen sein solle wie der Durst mit einem Glas Wasser. Auch sie verstand ihre Forderungen als historisch-materialistisch und antibürgerlich. Ziel war es, neue zwischenmenschliche Beziehungen im Arbeiterkollektiv der zukünftigen Gesellschaft zu formen.[3] Sexualität war ein Thema beim Aufbau der neuen Gesellschaft. Bei Salkind hatte es viel mit seinem Verständnis der Sublimierung des Sexualtriebes gemäß der Freud’schen Triebtheorie zu tun. Statt Sublimierung in die Kultur nun in die Revolution.
Salkind bemerkte bei seiner analytischen Behandlung von Parteigenossen, dass seine Therapieversuche nichts nützten. Er entdeckte, was bislang ein Tabu gewesen war: Bis zu 90% seiner bolschewistischen Patienten wiesen neurologische Symptome auf. Sie hatten viel zu hohen Blutdruck. Als Ursache stellte er die permanente seelische Anspannung und übermäßige Arbeit der Parteikaste fest, sodass sich enormer Verschleiß breit machte. Sogar unter den studentischen Parteiaktivisten gäbe es 40–50% Nervenkranke mit einem klinischen Krankenstand von 10–15%. Neben der Überarbeitung litten viele auch daran, dass unter der NÖP, der Neuen Ökonomischen Politik, der sogenannte »revolutionäre Elan« verloren gegangen war. Einem ehemaligen Bürgerkriegskommandeur raubte es den Schlaf, dass »die fetten und geschniegelten NÖP-Leute Oberwasser haben« und ein 22-jähriger Student, der im Bürgerkrieg Regimentskommandeur gewesen war, litt an Depressionen, da er das jetzige Leben als widerlich empfand. Revolutionäres Handeln, so Salkinds Schlussfolgerung, führe zu psychischer Gesundheit. Viele sehnten sich danach, der Revolution zu dienen, und ideologische Festigkeit helfe über manche seelische Krise hinweg. So hätten Soldatinnen, die im Bürgerkrieg vergewaltigt worden seien, als Genossinnen eine revolutionäre Einstellung und gerieten deshalb nach der Vergewaltigung nicht in eine »ideologische Krise«. »Die Große Französische Revolution«, so Salkind, »war als Massenkur dem Wohlbefinden der Menschheit zuträglicher als Millionen von Badezimmern, Wasserleitungen und tausende neuer chemischer Präparate.«[4]
Was aber war nun zu tun angesichts des vielstimmigen Leidens der Genossen? Für den klassenbewussten Salkind war klar, dass dem nur mit Ideologie beizukommen war. Es bedurfte »verstärkter Parteierziehung«. Außerdem solle man seine zwölf Sexualgebote umsetzen und sich nicht durch sexuellen Fetischismus ablenken lassen.
Maschinenmensch – Salkind wurde im ukrainischen Charkiw geboren. 1910, schon mit 22 Jahren als Medizinstudent, gehörte er zu den Herausgebern der Zeitschrift »Psichoterapija«. Im Grunde verstand er sich als Adlerianer, wobei sich die Auffassungen damaliger russischer Analytiker vielfach aus unterschiedlichen Versatzstücken zusammensetzten. Nach dem Studium arbeitete er als Analytiker und nahm am »kleinen Freitag«, einer zweiwöchigen Diskussionsrunde unter Leitung des ehemaligen Direktors der psychiatrischen Klinik der Moskauer Universität Wladimir Serbski teil. Hier fand sich auch der engere Kreis jener Moskauer ein, die an der Psychoanalyse interessiert waren. Serbski, selbst kein Analytiker, aber eine geachtete Koryphäe seines Fachs und gegenüber den Ideen aus Wien offen, blieb bis zu seinem plötzlichen Tod 1917 der Patron der Moskauer Psychoanalytiker.[5] Mit der Machtübernahme durch die Bolschewiki stellte sich Salkind im Revolutionseifer ganz in den Dienst der neuen Zeit. Am Ende des Bürgerkriegs, der ein Land in Trümmern zurückgelassen hatte, zirkulierten die unterschiedlichsten Ideen. Für Lenin galt es, alle bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse auf ihre Brauchbarkeit für eine zukünftige proletarische Wissenschaft abzuklopfen.[6] Salkind erwies sich in dieser Suche der frühen Sowjetunion nach dem Neuesten und Durchschlagendsten als machtbewusst-findiger Konstrukteur neuer Theorien. Auf dem 2. Psychoneurologischen Kongress 1924 stellte er vor 906 Delegierten, darunter 429 revolutionsbegeisterte Mediziner und marxistische Pädagogen, sein eklektisches Programm vor. »Die soziogenetische Koppelung mit der Reflexlehre unter maßvoller Einbeziehung der wertvollsten freudistischen Begriffe wie auch einzelner experimenteller Methoden stellen eine wesentliche Bereicherung der biomarxistischen Theorie und Praxis dar.«[7] Sein Programm wurde von den Kongressteilnehmern begeistert angenommen.
Salkind wurde zum führenden Kopf der marxistischen Pädagogik und machte sich zum Hauptvertreter einer neuen sowjetischen Wissenschaft: der Pädologie. Doch so neu war die Pädologie letzten Endes nicht. Sie hatte es schon vor der Revolution in Russland und anderen europäischen Ländern gegeben. Aber nun erlebte sie in der jungen Sowjetunion einen rasanten Aufstieg. Nötig sei eine naturwissenschaftliche Pädagogik mit systematischen Beobachtungen und Experimenten, so die Pädologen, wie man sie aus der experimentellen Psychologie kenne. Daten und Beobachtungen aller Aspekte des Kindes müssten gesammelt werden: körperliche, psychische, soziale, moralische, in den verschiedenen Lebensabschnitten, im Wachstum, in der Entwicklung und den Fähigkeiten normaler wie entwicklungsgehemmter Kinder – so exakt und komplett wie irgend möglich.
Das Neue und der naturwissenschaftliche Anspruch der Pädologie passten in die große Aufbruchstimmung. Erst die Naturwissenschaften, dann der radikale Umbau des Schul- und Erziehungswesens. Das war ein gigantisches Reformprojekt. Man stand vor einer Herkulesaufgabe, zumal der Bürgerkrieg ungeheure Verheerungen zurückgelassen hatte. Nur 32% der Bevölkerung auf dem Land konnten lesen und schreiben. Nur 52% der Kinder im Schulalter waren 1923 in einer pädagogischen Einrichtung gemeldet. Deshalb sollte zuerst die Grundschulpflicht eingeführt und der Analphabetismus bekämpft werden. Zuständig im Bildungsministerium waren die zwei wichtigsten Pädagogen im Land, Pawel Blonski und Stanislaw Schatzki, beide eng verbunden mit Nadeschda Krupskaja, der Frau Lenins. Ihre Eingriffe waren radikal: Zensuren und Hausaufgaben wurden abgeschafft, neue Unterrichtspläne ohne jede Rücksicht auf die völlig überforderten Lehrer eingeführt.
Mit staatlicher Unterstützung erlebte die Pädologie einen Höhenflug. So breit der pädologische Ansatz war, so unterschiedlich konnte man die neue Wissenschaft verstehen. Auf dem ersten Pädologischen Kongress 1911 in Brüssel gab es Sektionen zur Anthropometrie, Biologie, Kindersoziologie, der Schulhygiene, der Psychologie und Pädagogik des normalen wie anomalen Kindes.[8] Auch unter den Sowjet-pädagogen kursierten die unterschiedlichsten Vorstellungen, was aber in der revolutionären Begeisterung unter-ging. Salkind machte in dieser Phase eine steile Karriere. Im April 1928 wurde er Vorsitzender der neu eingesetzten Planungskommission für pädologische Forschung und Chefredakteur der neu gegründeten Zeitschrift »Pädologie«.
Ziel der neuen pädologischen Pädagogik sollte eine fabrikmäßige Ausbildung sein, die den Menschen so einsatzbereit machen sollte wie eine Maschine. »Wir sollten unsere Kräfte«, so das Politbüromitglied Nikolai Bucharin, »nicht an ein allgemeines Palaver verschwenden, sondern sie darauf konzentrieren, in kürzester Frist eine ausreichende Stückzahl von Arbeitern zu produzieren, qualifizierte, speziell geschulte Maschinen, die man sofort einführen und dann in breitem Umfang zum Einsatz...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | BRD • DDR • der Osten und der Hass • Die Moskauer: Wie das Stalintrauma die DDR prägte • Dirk Oschmann • Geschichte der SBZ & DDR • Individuum • Iwan Petrowitsch Pawlow • Katja Hoyer • Kollektiv • Kommunismus • neuerscheinung 2024 • Neuerscheinung Sachbuch • Osten • Pawlowscher Hund • Psychoanalyse • Russische Geschichte • Sigmund Freud • Sowjetunion • Stalinismus • Tiefenpsychologe • Tiefenpsychologie • Umkämpfte Zone: Mein Bruder • Wende • Westen |
ISBN-10 | 3-608-12151-X / 360812151X |
ISBN-13 | 978-3-608-12151-3 / 9783608121513 |
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