Die Weltmeister von Bern (eBook)
432 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01984-3 (ISBN)
Tobias Escher ist Mitbegründer des Taktikblogs «Spielverlagerung.de», das zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. In der Internetsendung «Bohndesliga», einer Produktion von Rocket Beans TV, analysiert er die Spiele der Bundesliga. Als freier Journalist schreibt Escher für die «WELT» sowie für das Fußball-Magazin «11 Freunde». Das Medium-Magazin wählte Escher 2013 unter die besten zehn Sportjournalisten. Bei Rowohlt erschienen zuletzt seine Bücher «Der Schlüssel zum Spiel: Wie moderner Fußball funktioniert» und «Was Teams erfolgreich macht».
Tobias Escher ist Mitbegründer des Taktikblogs «Spielverlagerung.de», das zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. In der Internetsendung «Bohndesliga», einer Produktion von Rocket Beans TV, analysiert er die Spiele der Bundesliga. Als freier Journalist schreibt Escher für die «WELT» sowie für das Fußball-Magazin «11 Freunde». Das Medium-Magazin wählte Escher 2013 unter die besten zehn Sportjournalisten. Bei Rowohlt erschienen zuletzt seine Bücher «Der Schlüssel zum Spiel: Wie moderner Fußball funktioniert» und «Was Teams erfolgreich macht».
OW: Ein Traum und ein Krieg
Ottmar Walter kann die Wut nicht mehr verdrängen. Den ganzen Tag hatte er sich den Schwachsinn anhören müssen. «Lass es doch einfach sein, Ottmar! Du wirst nie so gut wie dein Bruder! Siehst du nicht, was der Fritz alles kann?» Besonders sein Vater schien stets zu wissen, was Ottmar alles nicht schaffen wird. Eins betont er immer wieder: So gut kicken wie der Fritz wird Ottmar nie.
Ottmar kennt die Sprüche; nicht nur von seinem Vater, sondern auch von den Mitschülern, von seinen Mitspielern, von den Zuschauern. Tief im Inneren weiß er, dass sie recht haben. Niemand auf der Welt bewundert Fritz Walter so sehr wie sein kleiner Bruder. Er wird den Ball nie so elegant streicheln, nie solch ein Gefühl entwickeln für das Geschehen auf dem Platz. Aber es deshalb nicht versuchen? Ottmar hat die Hänseleien ertragen. Nicht immer still und klaglos – dafür war er zu wild und sein Mundwerk nicht zahm genug. Aber er hat sich nie so aufgelehnt wie an diesem 14. Juli 1940.
Eigentlich hätte es ein Freudentag sein sollen. Sein 19 Jahre alter Bruder Fritz trägt zum ersten Mal das Trikot der deutschen Nationalmannschaft. Deutschland gegen Rumänien. Der 16 Jahre alte Ottmar und sein Vater sitzen im Stadion, als Fritz mit Adler und Hakenkreuz auf der Brust den Rasen des Frankfurter Waldstadions betritt. Die 40000 Zuschauer jubeln, als der älteste Walter-Spross die ersten drei Treffer vorbereitet. Sie sind völlig aus dem Häuschen, als der Debütant in der zweiten Halbzeit selbst drei Tore erzielt. 9:3 lautet der Endstand. Zu Hause erwartet die gesamte Familie den frisch gebackenen Nationalspieler. Ottmar, sein Bruder Ludwig und seine Schwestern Sonja und Gisela überreichen Fritz einen Blumenstrauß. In der Gaststätte der Familie wird gefeiert bis zum Morgengrauen.
Dieser Tag weckt in Ottmar einen sehnlichen Wunsch. Er will auch das schwarz-weiße Trikot der Nationalmannschaft tragen. Die deutsche Nationalhymne hören. Von Zehntausenden von Zuschauern angefeuert werden und nicht, wie am heimischen Betzenberg, nur von ein paar Tausenden. Noch am selben Tag fasst er einen Entschluss: Er will Nationalspieler werden, genau wie sein Bruder.
Ottmar erzählt seiner Familie von diesem Wunsch. Sein Vater lacht nur. «Du steifer Jockel wirst niemals so gelenkig wie der Fritz!» Da platzt Ottmar der Kragen. Mit blanker Faust schlägt er auf ein Bierfass. «Ich wette um ein Fass Bier, dass ich es schaffe!» Das gigantische Fünfzig-Liter-Fass zeigt sich von Ottmars Schlägen unbeeindruckt. Sein Vater auch. «Leicht verdientes Bier», murmelt er und schlägt ein. Ottmar hat nun einen weiteren Grund, allen zu beweisen, was in ihm steckt.[1]
Ottmar Walter erblickt am 6. März 1924 das Licht der Welt. Er ist das dritte Kind von Ludwig und Dorothea Walter. Sein Vater wuchs auf im Dorf Niederkirchen, etwas nördlich von Ottmars Geburtsstadt Kaiserslautern. Ludwig verließ seine Heimat vor dem Ersten Weltkrieg. Ihn zog es nach Amerika, er wollte die weite Welt sehen und ein paar Dollar verdienen. 1914 kehrte er zurück in die Pfalz. Wenige Tage später bricht der Erste Weltkrieg aus. Ludwig wird zum Militär eingezogen. Die Armee schickt ihn nach Berlin. Hier lernte er Dorothea kennen, Spitzname: «s’ Dorsche». Die waschechte Berlinerin war kaum zwanzig, als sie mit Ludwig das erste Kind erwartete: ihren Sohn Friedrich, Rufname: Fritz, geboren am 31. Oktober 1920. Gemeinsam zog die frisch gebackene Familie zurück in die Heimat des Vaters, genauer gesagt nach Kaiserslautern. Mit dem angesparten Geld aus Ludwigs Zeit in Amerika und mit etwas finanzieller Hilfe seiner Mutter kaufte sich die junge Familie ein Haus in der Bismarckstraße. Im Erdgeschoss eröffneten die Walters eine Gastwirtschaft. Für 70 Pfennig bekommt man Rippchen mit Sauerkraut und Brot, für 90 Pfennig ein Kotelett mit Kartoffeln. An besonderen Tagen servieren sie Gulasch mit Nudeln.
Ottmars Kindheit spielt sich hauptsächlich zwischen dieser Gastwirtschaft und der Schule ab – wobei die Betonung auf «zwischen» liegt. Die Walter-Söhne verbringen selten Zeit zu Hause. Ottmars ältester Bruder Fritz trat schon von Kindesbeinen an gegen jeden Gegenstand, den er finden konnte. Mit sechs überzeugte er die anderen Kinder auf der Straße, ihn beim Fußball mitspielen zu lassen. Sie waren deutlich älter, doch Fritz war schon in jüngsten Jahren der merklich bessere Kicker. Der schmächtige Junge nahm den Ball und dribbelte an allen anderen vorbei. Es ist der Beginn seiner Karriere als Schreck eines jeden Gegenspielers.
Fritz gibt die Freude am Fußballspiel an seine zwei Brüder weiter. Ludwig junior, der zweitälteste Sohn, ist still und zurückhaltend. Sohn Nummer drei, Ottmar, hat Temperament. Fritz sorgt dafür, dass sie immer mitspielen dürfen. Grünflächen sind im Kaiserslautern der Zwanzigerjahre rar gesät. Fußball wird auf den Straßen gespielt. Nur alle paar Jubeljahre tuckert ein Auto vorbei. So haben die Kinder die Möglichkeit, von Bordstein zu Bordstein zu kicken. Auf Kaiserslauterns Straßen befinden sich zu jener Zeit auf beiden Seiten der Straße Einlässe zum Kanal; Einbuchtungen im Bordstein, welche die Kinder mit Sandsäcken füllen.[2] So konnten die Kinder auf zwei Tore spielen, von einer Straßenseite zur anderen. Gekickt wird mit allem, was die Umgebung hergibt: Stofffetzen, runde Steine, verlorene Tennisbälle. Einen eigenen Ball können sie sich nicht leisten. Um das zu ändern, sammeln die Kinder der Bismarckstraße die abgeschälten Kartoffelschalen in den ansässigen Lokalen und verkaufen sie als Tierfutter an die Bauern. Der mit dem Gewinn erworbene Ball wird gehütet wie ein Schatz.
Ludwig senior ist nicht begeistert, dass sich seine Kinder dem Fußball verschreiben. Er hat keine konkrete Abneigung gegen den Sport. Längst vorbei ist die Zeit, als der Fußball als «Fußlümmelei» verschrien war. Ludwig würde es jedoch lieber sehen, dass seine Jungs boxen. In Amerika hat er häufig Boxkämpfe besucht. Ihn faszinierten die dunkelhäutigen Kämpfer mit ihren durchtrainierten Körpern. Als der Deutsche Max Schmeling 1936 gegen den haushohen Favoriten Joe Louis aus den USA boxt, sitzt Walter senior mit seinen Jungs am Radioempfänger. Der Kampf findet zur amerikanischen Prime Time statt – also mitten in der deutschen Nacht. Die Stimme des Reporters überschlägt sich, als der krasse Außenseiter den amerikanischen Favoriten zu Boden schickt. Ottmar lauscht gespannt. Einige Zeit später will er sich auch im Boxsport versuchen – allerdings nur kurz. Seine Liebe gilt dem Fußball.
Ottmar saugt alles auf, was sein Bruder tut: jede Bewegung, jede Finte, jede Technik. Aber er kann nicht jede der filigranen Bewegungen einfach kopieren. Sein Vater hat recht: Sein Körper ist steifer als der seines Bruders, seine Knie nicht so beweglich, sein Fuß hölzerner. Doch Ottmar weiß, dass er gar nicht so gut sein muss wie Fritz. Wenn sein Bruder zwei oder drei Kinder auf sich zieht, genügt es, wenn Ottmar sich hinter deren Rücken wegstiehlt. Fritz muss nur den Ball zu ihm passen, und er schießt ihn ins Tor. So gewinnen die Walter-Brüder jedes Spiel. Im Sommer treffen sich die Kinder Kaiserslauterns auf einer Wiese hinter der Nähmaschinenfabrik Pfaff. Sie tragen das Turnier der Straßen aus, jede Straße stellt eine Mannschaft. Fast immer stammt die Siegermannschaft aus der Bismarckstraße.
Mit der Zeit kicken die Gebrüder Walter nicht mehr nur auf der Straße. Ihre Mutter meldet sie im örtlichen Sportverein an. Der nächstliegende Klub wäre eigentlich der VfR Kaiserslautern, dessen Stadion steht auf dem Erbsenberg. Dorothea Walter gefällt der Verein jedoch nicht. Die Berlinerin ist sich zu fein für den Arbeiterverein VfR, murmeln sie in Kaiserslautern. Die Wahrheit ist simpler: Ein anderer Klub verspricht, Fritz mit Sportschuhen auszustatten. Dorothea hasst es, dass Fritz seine guten Schuhe immer beim Kicken ruiniert. So meldet sie Fritz Walter beim 1. FC Kaiserslautern an. Seine Brüder folgen ihm zu jenem Klub, dessen Sportplatz auf dem Betzenberg steht. Ottmar überredet auch seinen Freund Ernst Liebrich und dessen Bruder Werner, zum 1. FCK zu gehen.
In den Sommerferien reisen die Walters meist nach Berlin. Die Schwester der Mutter lädt sie ein. Ottmar und seine Brüder verbringen viel Zeit am Wannsee, aber auch auf den Straßen der Stadt. «Am Brabanter Platz und in den Hinterhöfen haben wir mit den Kindern der Nachbarschaft natürlich auch Fußball gespielt», wird sich Ottmar später erinnern. «Mitunter waren wir dann die Stars – oder wollen wir es mal so sagen: Die Großstadtbuben haben über uns Jungs aus der Provinz nicht schlecht gestaunt, was wir so alles mit dem Ball machten.»[3] Berlin ist für die Walter-Kinder eine zweite Heimat.
Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, verändert sich Ottmars Tagesablauf. Die nationalsozialistische Partei hat große Pläne für Deutschlands Jugend. Sie soll im Geist des neuen Regimes geschult werden. Die Mädchen müssen zum Bund Deutscher Mädels, die Jungs wiederum kommen in die Hitlerjugend. Die Nachmittage und Wochenenden stehen ganz im Zeichen des Führers. Ottmar Walter kickt nunmehr nicht nur auf der Straße und für den 1. FC Kaiserslautern, sondern auch unter dem Wappen Fähnlein 3. Dazwischen müssen die Jugendlichen immer wieder paramilitärische Übungen absolvieren. «Ein guter...
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2024 |
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Zusatzinfo | Zahlr. s/w Fotos |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Schlagworte | 1954 • 1974 • Beckenbauer • Das Wunder von Bern • Deutsche Geschichte • Deutsche Nationalmannschaft • Deutschland • Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre • Deutschland in der Nachkriegszeit • Eine deutsche Begegnung • EM 2024 • Franz Beckenbauer • Fritz Walter • Fußball • Fußball als Profisport • Fußballbuch • Fußballer Biografien • Fußball in der Nachkriegszeit • Fußball-Weltmeisterschaft Bern • Geschichte • Geschichte der WM 1954 • Geschichte des deutschen Fußball • Gesellschaft • Helmut Rahn • Kicker • Nachkriegsdeutschland • Ronald Reng • Sepp Herberger • Von Wundern und Weltmeistern • Weltmeisterschaft • Wunder von Bern |
ISBN-10 | 3-644-01984-3 / 3644019843 |
ISBN-13 | 978-3-644-01984-3 / 9783644019843 |
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