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Im Land Gottes (eBook)

Wie Amerika wurde, was es heute ist | Amerikanische Gesellschaftsgeschichte erzählt von einer wichtigsten Stimme der USA

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
186 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3202-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Land Gottes -  Joan Didion
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Zur US-Wahl 2024: Amerikanische Gesellschaftsgeschichte erzählt von einer wichtigsten Stimme der USA.  Im Wahljahr 2024 richtet sich der Blick der Weltöffentlichkeit auf die USA. Wie ist die Supermacht zu dem geworden, was sie heute ist? In sieben brillanten Reportagen entwirft Joan Didion ein präzises Bild der Entwicklung der amerikanischen Demokratie zwischen 1988 und 2000. Ausgehend von ihren persönlichen Beobachtungen unmittelbar nach den Anschlägen auf das World Trade Center, dringt ihr messerscharfer Blick durch die Fassade der US-Demokratie, bis zum inneren Terror der Siebzigerjahre. Faktenreich berichtete sie aus den Zentren der Macht und erforscht die Verquickung von Religion und Politik innerhalb der konservativen Eliten. 

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021 in New York.

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion verstarb im Dezember 2021.

Starre Positionen oder
der Angelpunkt der Geschichte


1


Acht Tage nach dem 11. September 2001 verließ ich New York zu einer zweiwöchigen Lesereise, die unter anderen Umständen eine Reise mit ziemlich vorhersehbaren Abläufen gewesen wäre. Man fliegt in diese oder jene Stadt, bestreitet eine halbe Stunde in der Lokalredaktion des National Public Radio, ein paar Minuten einer Sendung für Autofahrer im Berufsverkehr, nimmt an einer Veranstaltung teil – einem Vortrag oder einer Podiumsdiskussion. Man signiert Bücher, beantwortet Fragen aus dem Publikum. Man kehrt zum Hotel zurück, bestellt beim Zimmerservice ein Club-Sandwich und lässt sich um fünf Uhr morgens wecken, damit man zeitig am Flughafen ist und zur nächsten Stadt weiterfliegen kann. In der Woche zwischen dem 11. September und dem Mittwochmorgen, als ich zum JFK fuhr, um mich ins Flugzeug zu setzen, schien keiner dieser sonst so normalen Begleitumstände einer Buchveröffentlichung eine vielversprechende oder auch nur halbwegs angemessene Beschäftigung zu sein. Aber – wie die meisten von uns, die während jener Woche in New York waren – befand ich mich in einer Art schützendem Koma, schlafwandelte gleichsam durch einen Zeitplan, der gemacht worden war, als man noch planen konnte.

Tatsächlich erwies sich dieser Selbstschutz als so erfolgreich, dass ich nicht einmal ahnte, wie versehrt wir alle waren, bis zu dem ersten Abend, in San Francisco, wo mir auf der Bühne ein Buch gereicht und ich gebeten wurde, ein paar markierte Zeilen aus einem Essay über New York zu lesen, den ich 1967 geschrieben hatte.

Später erinnerte ich mich, gedacht zu haben: 1967, kein Problem, kein vermintes Gelände.

Ich setzte meine Brille auf. Ich fing an zu lesen.

»New York war nicht bloß eine Großstadt«, begannen die markierten Zeilen. »Es war stattdessen eine unermesslich romantische Idee, der geheimnisvolle Nexus von lauter Liebe und Geld und Macht, der leuchtende und verderbliche Traum an sich.«

Ich kam zu dem Wort »verderblich« und konnte es nicht aussprechen.

Da saß ich also auf der Bühne des Herbst Theatre in San Francisco und war unfähig, die Passage zu Ende zu lesen, unfähig, während der nächsten vielleicht dreißig Sekunden auch nur ein Wort zu sprechen. Über den Rest des Abends und die zwei darauf folgenden Wochen kann ich nur sagen, dass sie vollkommen anders waren als alles, was ich erwartet hatte, vollkommen anders als alles, was ich bis dahin erlebt hatte, eine außergewöhnlich offene Art des Gedankenaustauschs, die Begegnung mit einem Amerika, das offenbar immun gegen konventionelle Weisheiten war. Political Fictions, das Buch, das ich auf dieser Reise eigentlich hatte vorstellen wollen, besteht aus einer Reihe von Artikeln, die ich für den New York Review über den politischen Mechanismus in Amerika von den Präsidentschaftswahlen 1988 bis hin zu denen im Jahre 2000 verfasst hatte. Die Menschen, mit denen ich mich in San Francisco und in Los Angeles und Portland und Seattle unterhielt, stellten Verbindungen her, auf die ich in meinem betäubten Zustand noch gar nicht gekommen war: Verbindungen zwischen besagtem politischem Mechanismus und dem, was am 11. September geschehen war, Verbindungen zwischen unserem politischen Leben und der Form, die unsere Reaktionen annehmen würden und ja bereits annahmen.

Diese Menschen erkannten, dass schon wenige Tage nachdem die Flugzeuge eingeschlagen waren, die Gelegenheit ergriffen worden war, unter dem Deckmantel einer ja tatsächlich dringend erforderlichen Verstärkung unserer Sicherheit neues Terrain zu besetzen. Diese Menschen erkannten, dass zu einer Zeit, als im Südwesten Manhattans noch Flammen zu sehen waren, die Worte »parteiübergreifend« und »nationale Einheit« schon eine neue Bedeutung angenommen hatten, nämlich die Billigung der bereits existierenden Regierungsagenda – etwa des Gebots weiterer Steuersenkungen, der Notwendigkeit von Bohrungen in der Arktis, des systematischen Abbaus gesetzlicher und tariflicher Bestimmungen zum Schutz der Arbeitnehmer, ja sogar der Bereitstellung von Mitteln für das neueste Raketenabwehrsystem –, als hätten wir nicht mitbekommen, was uns gerade erst vorgeführt worden war: wie beschränkt eine überlegene Technologie angesichts einiger weniger Teppichmesser und der Bereitschaft zu sterben sein kann.

Diese Menschen begriffen, dass an dem Abend, als sich der Präsident zum ersten Mal an die Nation wandte und Judy Woodruff auf CNN erzählte, »ein paar Berater der Demokratischen Partei« hätten ihr gegenüber verlauten lassen, der Präsident müsse sich neu positionieren – dass auch an diesem Abend in Washington die Geschäfte weitergingen. Sie begriffen, dass am selben Abend, als der politische Analyst William Schneider davon sprach, der Präsident habe »seine große Vision gefunden«, und dies werde »nicht mehr die Bush-Ökonomie sein, sondern die Osama-bin-Laden-Ökonomie« – dass am selben Abend Washington immer noch über den Schutz und die Wahrung seiner eigenen Interessen redete.

Diese Menschen kapierten, was da lief.

Und waren nicht angetan.

Sie standen auf und redeten in aller Öffentlichkeit darüber.

Erst als ich nach New York zurückkehrte, stellte ich fest, dass die Menschen dort, wenn sie denn kapiert hatten, was da lief, aufgehört hatten, darüber zu reden. Auf meinem Weg vom JFK in die Stadt sah ich amerikanische Fahnen entlang der ganzen Upper East Side wehen, mindestens bis hoch zur 96th Street, Fahnen, die in der ersten Woche nach dem Ereignis nicht geweht hatten. Ich sage »mindestens bis zur 96th Street hoch«, weil ich ein paar Tage später auf der Rückfahrt von den Washington Heights an den großen Wohnblocks vorbeikam, aus denen sicherlich ein Teil der Truppen rekrutiert würde, wenn es in den »Krieg gegen den Terrorismus« ging – als wäre Terrorismus ein Staat und keine Methode –, und nur wenige Fahnen sah: zwischen der 168th und der 96th Street gerade mal ein halbes Dutzend. So viele hingen allein an dem Gebäude, in dem ich wohne: drei an jedem der beiden Eingänge. Ich deutete dies nicht als einen Ausdruck mangelnder patriotischer Gefühle nördlich der 96th Street. Ich deutete es als einen Ausdruck mangelnden Vertrauens in die Wirksamkeit rhetorischer Gesten.

Meine Rückkehr nach New York verlief in vielerlei Hinsicht nicht wie erwartet. Ich hatte erwartet, dass die verheerende Ökonomie des Ereignisses – die Art und Weise, wie sich die komplizierten Verständnisse und Missverständnisse des letzten Jahrhunderts zu einem einzigen, nicht reduzierbaren Bild verdichtet hatten – untersucht, lesbar gemacht würde. Stattdessen musste ich feststellen, dass das, was geschehen war, bearbeitet wurde, verdunkelt, systematisch von Geschichte und damit Bedeutung gelöst, bis es schließlich schlechter zu entziffern war, als dies noch am Morgen des Ereignisses den Anschein gehabt hatte. Als ob dieses Ereignis, mit dem man sich nicht abfinden konnte, über Nacht handhabbar gemacht worden wäre, reduziert auf das Sentimentale, auf Amulette, Totems, Knoblauchgirlanden, Mythenbildung, die bald darauf in mancher Hinsicht ebenso destruktiv erscheinen würden wie das Ereignis selbst. Jetzt hatten wir »die Liebsten«, hatten »die Nächsten«, hatten »die Helden«.

Tatsächlich war es die reflexartige Wiederholung des Wortes »Held«, die uns auf das einstimmte, was im folgenden Jahr zu einer uneingeschränkten Vorliebe dafür werden würde, die eigentliche Bedeutung des Ereignisses zugunsten einer alles rigoros einebnenden Verherrlichung seiner Opfer zu negieren, zu einer beunruhigend aggressiven Idealisierung historischer Ignoranz. »Taktgefühl« und »Sensibilität«, so wurde immer wieder suggeriert, verbot es uns, die Geschehnisse zu hinterfragen. Bilder der noch stehenden Türme wurden aus der Werbung entfernt, als sollten wir tunlichst vergessen, dass sie je da gewesen waren. Das Rondabout Theatre hatte die Wiederaufnahme von Stephen Sondheims Assassins mit der Begründung gestrichen, dies sei »nicht die richtige Zeit«, um vom Publikum zu erwarten, »sich auf eine kritische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten der amerikanischen Erfahrung einzulassen«. Das McCarter Theatre in Princeton hatte eine Inszenierung von Richard Nelsons The Vienna Notes – in der ein terroristischer Akt vorkommt – mit der Begründung abgesetzt, »es wäre unsensibel, wenn wir das Stück zu diesem Zeitpunkt unserer Geschichte aufführen würden«.

In New York stellte ich fest, dass »der Tod der Ironie« bereits ausgerufen worden war, zum wiederholten Mal und, besonders befremdlich, ausgerechnet in dem Moment – da die Tragweite des 11. September ja nicht zuletzt auf seiner konstruierten Implosion historischer Ironien beruhte –, als wir sie vielleicht am bittersten nötig gehabt hätten. »Ein Gutes könnte aus diesem Horror erwachsen: Er könnte das Ende des Zeitalters der Ironie bedeuten«, schrieb Roger Rosenblatt wenige Tage nach dem Ereignis im Time-Magazine – ein Gedanke,...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Übersetzer Sabine Hedinger, Mary Fran Gilbert
Vorwort Antje Rávik Strubel
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Schlagworte 2024 • Amerika • Annabelle Dunne • Céline • Demokraten • Dokumentation • Griffin Dunne • Juergen Teller • Klassiker • Netflix • Politik • Religion • Reportagen • Republikaner • Sachbuch • Skandale • The Center Will Not Hold • USA • US-Wahl • Weißes Haus • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-8437-3202-7 / 3843732027
ISBN-13 978-3-8437-3202-4 / 9783843732024
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