Gott spricht Jiddisch (eBook)
576 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77595-0 (ISBN)
Mea Schearim, die Stadt der 100 Tore, ist ein Viertel von Jerusalem, das fast ausschließlich von ultraorthodoxen Juden bewohnt wird. Um diese unfassbar aufregende und fremde Welt und ihre Spiritualität erfassen und verständlich machen zu können, muss man dort gelebt haben - so wie Tuvia Tenenbom, der in Mea Schearim aufgewachsen ist und nach vielen Jahren in New York hierher zurückgekehrt ist, um sich seiner Vergangenheit zu stellen: Denn Tenenbom entstammt selber einer ultraorthodoxen Familie, lernte in einer Jeschiwa, und ihm wurde eine Zukunft als einer der ganz großen Rabbis prophezeit. Dies machte seinen Aufenthalt auch zu einer Reise in die eigene Kindheit.
Tenenbom wollte wissen, wie sich die orthodoxe Kultur und Lebensweise verändert und wie sich eine restriktive Welt in einer immer restriktiver werdenden Welt entwickelt hat. Um diese Frage zu beantworten, wird er für lange Monate wieder einer von ihnen und tut das, was sie tun: in die Synagogen und in die Jeschiwas gehen, zum Rebbe, zum Rabbi, auch zu den Extremisten unter ihnen, mit ihnen zu essen und stundenlang zu singen, zum Schabbat mit den Familien zusammenzusitzen und Jiddisch mit ihnen zu sprechen, und er gewinnt so ihr Vertrauen, dass sich ihm die Menschen öffnen und dass ihre Welt des Glaubens in ihrer ganzen Faszination und in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit offenbar wird.
Tuvia Tenenbom, 1957 in Tel Aviv geboren, stammt aus einer deutschjüdisch-polnischen Familie und lebt seit 1981 in New York. Er studierte u. a. englische Literatur, angewandte Theaterwissenschaften, Mathematik und Computerwissenschaften sowie rabbinische Studien und Islamwissenschaften. Er arbeitet als Journalist, Essayist und Dramatiker und schreibt für zahlreiche Zeitungen in den USA, Europa und Israel, darunter für DIE ZEIT. 1994 gründete er das Jewish Theater of New York. Zuletzt erschienen die Bestseller <em>Allein unter Deutschen</em> (2012), <em>Allein unter Juden</em> (2014), <em>Allein unter Amerikanern</em> (2016), <em>Allein unter Flüchtlingen</em> (2017) sowie <em>Allein unter Briten</em> (2020).
Kündigen Sie meine Beerdigung an?
Raus hier, Ungläubiger!
In letzter Zeit ist er öfter um mich herumgetanzt, ein reizender Knabe von zwölf, dann 13, zuletzt 14 Jahren. Er trägt ein weißes Hemd, schwarze Hosen, schwarze Schuhe, eine schwarze Kippa, und er hat zwei schöne Schläfenlocken. Seine Lehrer bewundern ihn und lassen ihn die eine oder andere Klasse überspringen. Als er 14 wird, versucht er es seinen Klassenkameraden gleichzutun, die 18 und 19 sind, und fängt an zu rauchen.
Eines Tages bekam er mit 14 eine Lungenentzündung oder etwas in der Art. Er war im Schlafsaal seiner Jeschiwa (Rabbinerseminar) ans Bett gefesselt und konnte seiner Lieblingsbeschäftigung nicht nachgehen, dem Lernen. Ein Klassenkamerad, 19 Jahre, lieh ihm ein Buch aus, einen Roman über John und Patricia, Namen, die ihm unvertraut waren. Welcher Jude, der noch bei Trost ist, würde sich John nennen, wenn er auch Moische heißen könnte? Welche Jüdin, die noch bei Verstand ist, würde mit dem Namen Patricia die Straße entlanglaufen, wenn sie auch Zisale heißen könnte? Noch interessanter und echt merkwürdig war allerdings, was dieser John und diese Patricia taten. Sie lernten sich, so las er, bei einem romantischen Candlelight-Dinner kennen, ein Abendessen, zu dem John Patricia einlud, oder war es umgekehrt, und Patricia lud John ein. Wie absurd, dachte er, denn welcher Mann, der noch bei Verstand ist, würde eine Frau zu sich einladen, eine Frau, die er noch nicht einmal kennt, und welche Frau, die noch bei Trost ist, würde einen Mann zu sich einladen, einen Mann, den sie noch nicht einmal kennt? Wie unzüchtig.
Aber wie merkwürdig auch immer, so war es.
Sie aßen ein wenig und tranken ein wenig, aßen noch ein wenig und tranken noch ein wenig, als John plötzlich begann, Patricia auszuziehen, und sie lächelnd Gleiches mit Gleichem vergalt.
Wie entsetzlich!
Der reizende Knabe von 14 Jahren war schockiert. Nie zuvor war ihm der Gedanke gekommen, eine Person könnte eine andere ausziehen, geschweige denn ein Mann eine Frau. Tun die Leute so etwas?, fragte er sich. In seiner Gemeinschaft, dort, wo er aufwuchs, gilt es bereits als große Sünde, wenn ein Mann eine Frau ansieht; warum also zog dieser komisch klingende Name von einem Mann diesen komisch klingenden Namen von einer Frau aus?
Als er ein bisschen mehr über die Sache nachgedacht und versucht hatte, sie zu analysieren, fand er, dass eine Frau auszuziehen – oder von einer Frau ausgezogen zu werden – letztlich ein interessantes Konzept war und weiter erforscht werden musste.
Aber wie es erforschen? Das wusste er nicht.
Noch nicht.
Krank, wie er war, erhob er sich vom Bett und trat ans Fenster, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Er sah Männer und Frauen vorübergehen, und zum ersten Mal in seinem Leben wandte er seine Augen beim Anblick einer Frau nicht ab. Ja, normalerweise machte er das so. Wenn ihm eine Frau begegnete, dann senkte er stets den Blick und schaute in die andere Richtung, sodass seine Augen die Frau nicht sehen konnten, weil sich, wie seine Rabbiner ihm immer erklärten, Satan unter der Kleidung der Frauen verbarg. Ja. Und wenn, was der Himmel verhüten möge, vielleicht ein Windstoß unter das Kleid einer Frau fahren und er einen Blick auf Satan erhaschen würde, dann würde er von ihm geschnappt und zu seinem Sklaven auf Lebenszeit gemacht werden. Dennoch schaute er sich jetzt die Frauen an. Sie waren schön anzusehen, sagte er sich, und so gar nicht satanisch. Frauen, schoss es ihm durch den Kopf, sind viel schöner als Männer. Wie hießen sie wohl alle?, fragte er sich. Waren sie alle Patricias? Ob auch er sie zu einem Candlelight-Dinner einladen und ausziehen könnte?
Nein, sagte er sich, könnte er nicht. Er ist kein John.
Könnte er aber John werden?
Gute Frage.
Er stand am Fenster, blickte in den Himmel und dankte Gott, dessen Name Der Name ist, dass er solche schönen Wesen erschaffen hatte.
Von neuer Energie erfüllt, zog er sich an und ging auf die Straße, um Frauen aus der Nähe zu betrachten.
Was er sah, gefiel ihm so gut, dass er nicht mehr ein noch aus wusste und zu seinen Rabbis rannte.
Er wandte sich an einen Rabbi nach dem anderen und wollte von ihnen wissen, warum er Frauen nicht anschauen durfte. Durfte er das nicht, weil sie schön waren und er sich aller Freuden enthalten sollte, fragte er sie, oder weil die Rabbis sie hässlich fanden und ihn vor der Hässlichkeit der Welt bewahren wollten? Und übrigens, fragte er sie: Wo steht geschrieben, dass Männer keine Frauen anschauen dürfen? War es Der Name, der am Berge Sinai zu Moses gesagt hatte: Du sollst keine Frauen anschauen? Wenn ja, wo genau steht es, dass Er das gesagt hat? Und davon abgesehen, von wem stammt die Vorstellung, dass sich Satan unter den Frauenkleidern verbirgt, und wo steht das?
Diese Fragen, antworteten die Rabbis, sind kfire, ketzerisch, daher sollte man sich auch nie mit solchen Fragen beschäftigen. Nur Ungläubige, sagten sie, schauten Frauen an, und nur Ungläubige würden Fragen zu Glaubensangelegenheiten stellen. War er etwa, fragten sie, ein Ungläubiger? War Satan, Gott bewahre, in seinen Körper eingedrungen?
Er hörte sie an, hörte ihnen zu und fragte: Warum soll man keine Fragen stellen? Wann genau hat Der Name bestimmt, dass nur Ungläubige Fragen stellen dürfen? Warum musste ein Satan in ihm wohnen, wenn er eine Frage stellte? Und weil sie schon einmal dabei waren, wer und was war Satan? Und in welcher Frau wohnte Satan eigentlich, bevor er in seinen Körper eindrang? Könnte er diese Frau nicht anschauen, jetzt, wo Satan sie verlassen hatte? Hatte Satan vor, er ließ nicht locker, auch in die Körper seiner Rabbis einzudringen? Und noch eine Frage: Warum ist es ein Akt der Ketzerei, eine Frau anzuschauen? Leugnete er die Existenz Des Namens in dem Moment, in dem er eine Frau betrachtete?
Noch viele andere Fragen kamen ihm über die Lippen, Tag für Tag und Monat für Monat, bis er eines schönen Tages die charedische (ultraorthodoxe) Gemeinschaft und damit die Welt seiner Herkunft verließ. Außerhalb der charedischen Welt, so hoffte er, würde er anschauen können, wen er wollte, sei es einen Mann oder eine Frau, eine Katze oder einen Affen, und alle Fragen stellen können, die er hatte, und alles sagen können, was ihm in den Sinn käme.
Diese Geschichte des reizenden, wissbegierigen, zähen, vor allem aber reizenden Jungen trug sich vor vielen Jahren zu.
Wer ist dieser reizende Junge? Nun, dieser Junge, das bin ich.
Und als ich wegging, verließ ich nicht nur meine Gemeinschaft. Ich verließ auch Jerusalem, verließ Israel, und der reizende Junge in mir versteckte sich von nun an.
Ich ging in die Vereinigten Staaten, wo ich viele Jahre in New York damit verbrachte, an verschiedenen Universitäten zu studieren, und dabei Abschlüsse und halbe Abschlüsse in verschiedenen Fächern sammelte. Im Lauf der Jahre gründete ich ein jüdisches Theater in New York City, wurde darüber hinaus noch Journalist, machte Deutschland zu meiner zweiten Heimat und schrieb einige Bestseller.
Parallel zu meinen persönlichen Erfolgen aber veränderte sich allmählich in meinen beiden Wahlheimaten etwas, in einem schleichenden Prozess, der letztlich auf eine Gedankenkontrolle zielte.
Wow. Starke Worte, ich weiß. Aber wahr.
Als ich Amerika zu meiner neuen Heimat machte, dachte ich, dass ich im Land der Freien und der Heimat der Tapferen würde sagen und tun können, was immer ich wollte. Nach und nach aber dämmerte mir, dass ich mich zum zweiten Mal getäuscht hatte.
Während die Jahre ins Land zogen, eins ums andere, musste ich immer vorsichtiger damit sein, wohin ich guckte, was ich sagte und was ich tat. In meinen New Yorker Anfängen konnte ich, wenn ich wollte, konservative und liberale Ansichten in den Kommentaren der führenden Tageszeitungen lesen, aber dann verschwanden die Konservativen, bis irgendwann auch die Liberalen weg waren und beide durch puritanische Extremisten ersetzt wurden. In den alten Tagen konnte ich, wenn ich wollte, Stücke inszenieren, in denen nackte Haut mit beißender Gesellschaftskritik verbunden wurde. Das geht nicht mehr. Solche...
| Erscheint lt. Verlag | 21.11.2023 |
|---|---|
| Übersetzer | Michael Adrian |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Allein unter Juden • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Fanatismus • Großreportage • Israel • Jerusalem • Judentum • Jüdisch • Jüdische Gemeinschaft • Jüdisches Leben • Mea Schearim • Naher Osten • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Orthodoxes Judentum • Orthodoxie • Porträt • Preis für ehrlichen Journalismus 2016 • Rabbi • Religion • Religiösität • Reportage • Spiegel-Bestseller-Liste • ST 5335 • ST5335 • Stadt der 100 Tore • suhrkamp taschenbuch 5335 • Synagoge • Ultraothodox |
| ISBN-10 | 3-518-77595-2 / 3518775952 |
| ISBN-13 | 978-3-518-77595-0 / 9783518775950 |
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