Der indigene Kontinent (eBook)
800 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-578-0 (ISBN)
Pekka Hämäläinen, geboren 1967 in Helsinki, ist seit 2012 Rhodes Professor für Amerikanische Geschichte an der Universität Oxford.
Pekka Hämäläinen, geboren 1967 in Helsinki, ist seit 2012 Rhodes Professor für Amerikanische Geschichte an der Universität Oxford.
EINLEITUNG
DER MYTHOS VOM KOLONIALEN AMERIKA
EINE ALTE, TIEF VERWURZELTE GESCHICHTE über Amerika geht ungefähr so: Kolumbus stolpert über einen fremden Kontinent und kehrt mit Erzählungen über unermessliche Reichtümer zurück. Die europäischen Imperien machen sich sofort auf den Weg, sie wollen sich so viel wie möglich von dieser erstaunlichen Neuen Welt unter den Nagel reißen. Obwohl sie dabei aneinandergeraten, lösen sie eine Ära kolonialer Expansion aus, die rund vier Jahrhunderte lang andauert, von der Eroberung der Insel Hispaniola im Jahr 1492 bis zum Massaker von Wounded Knee im Jahr 1890. Zwischen diesen beiden historischen Augenblicken ergreifen die europäischen Imperien und das aufkommende amerikanische Imperium Besitz von Seelen, Sklaven und Territorien, sie enteignen und zerstören Hunderte von indigenen Gesellschaften. Die Indianer wehren sich, können den Angriff aber nicht aufhalten. Es fehlt ihnen zwar nicht an Einfallsreichtum und Widerstandswillen, aber dem rohen Ehrgeiz der Neuankömmlinge, deren überlegener Technik und den eingeschleppten tödlichen Mikroben, die die Körper der Indigenen mit schockierender Mühelosigkeit zerstören, sind sie nicht gewachsen. Die Indianer sind dem Untergang geweiht; die Europäer sind zur Übernahme des Kontinents bestimmt; die Geschichte ist ein linearer Prozess, der unumkehrbar auf die Vernichtung der Indigenen zusteuert.
Der indigene Kontinent erzählt eine andere Geschichte. Dieses Buch zeigt die amerikanische Historie in neuem Licht, indem es die Ansicht infrage stellt, wonach die koloniale Expansion unvermeidlich gewesen sei und der Kolonialismus das Geschehen auf dem Kontinent ebenso bestimmt habe wie die Lebenserfahrungen der Menschen vor Ort. Dieses Buch löst sich von derart veralteten Annahmen und berichtet von einer Welt, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in überwältigendem Ausmaß indigen geprägt blieb. Es vertritt den Standpunkt, dass wir nicht von einem »kolonialen Amerika«, sondern von einem indigenen Amerika sprechen sollten, das nur langsam und ungleichmäßig kolonialisiert wurde. Verschiedene europäische Kolonialmächte beanspruchten bis zum Jahr 1776 zusammengenommen fast den gesamten Kontinent für sich, aber die indigenen Völker und Mächte kontrollierten ihn. Die Karten in modernen Lehrbüchern, die einen großen Teil des frühen Nordamerika mit hübschen farbigen Markierungen darstellen, verwechseln absonderliche imperiale Ansprüche mit tatsächlichem Besitz. Die hier erzählte Geschichte der überwältigenden und anhaltenden indigenen Macht ist nach wie vor weitgehend unbekannt und ist zugleich der größte blinde Fleck im gemeinsamen Verständnis der amerikanischen Vergangenheit.
Die Realität eines indigenen Kontinents ist weitgehend verborgen geblieben, weil die europäischen Mächte und ganz besonders die Vereinigten Staaten den Staat und seine Bürokratie mit Machtbefugnissen ausgestattet haben, während indigene Nationen ihre Macht über Verwandtschaftsverhältnisse definierten und sicherten. Die europäischen Neuankömmlinge beurteilten die Indianer von Anfang an nach europäischen Maßstäben. Spätere Historiker hielten es genauso und konzentrierten sich auf die staatliche Macht als treibende Kraft des Geschehens in Amerika. Verwandtschaft konnte aber ebenso eine Quelle großer Macht sein, und indigene Nationen verfügten über entwickelte politische Systeme, die eine flexible Diplomatie und Kriegsführung ermöglichten, selbst wenn die Euroamerikaner dies oft nicht erkannten. Indianer blockierten und zerstörten immer wieder koloniale Projekte und zwangen die Kolonialisten jahrhundertelang, die indigene Lebensweise, Souveränität und Dominanz zu akzeptieren. Das können historische Überlieferungen zeigen, dafür muss sich aber die amerikanische Geschichtsschreibung von den historischen Mainstream-Erzählungen lösen, die europäische Ambitionen, Perspektiven und Quellen bevorzugen.
Die traditionelle Mustererzählung ist tief in unserer Kultur und Denkweise verankert. Man muss sich dabei nur vergegenwärtigen, wie Red Clouds Krieg und Custers »Last Stand« üblicherweise verstanden werden. Die Lakota-Indianer und ihre Cheyenne- und Arapaho-Verbündeten besiegten die Vereinigten Staaten zwischen 1866 und 1876 in zwei Kriegen – zunächst entlang des Bozeman Trails in einem Konflikt, der unter der Bezeichnung Red Clouds Krieg bekannt geworden ist, und in der Schlacht am Little Bighorn, in der sie George Armstrong Custers 7. US-Kavallerieregiment vernichteten. Beide Niederlagen werden in der herkömmlichen amerikanischen Geschichtsschreibung als Abweichungen oder – je nach Sichtweise – (un)glückliche Zufälle gesehen. Schließlich hatten sich die Vereinigten Staaten bis zu diesem Zeitraum bereits zu einer den gesamten Kontinent umfassenden militärisch-industriellen Macht entwickelt, die sich anschickte, die Expansion über die Westküste hinaus fortzusetzen. Die Lakota hatten die Vereinigten Staaten in einem geschichtsträchtigen Augenblick gedemütigt, in dem die Nation drauf und dran war, ihre Frontier-Identität abzulegen und in ein modernes Zeitalter der Wirtschaftsunternehmen, der Bürokratie und der Wissenschaft einzutreten. Die katastrophalen Niederlagen wurden schlechter militärischer Führung und einem schlauen Gegner zugeschrieben, der mit dem Kampfgebiet vertraut war.
Aus der Perspektive der Native Americans wirken Red Clouds Krieg und Custers Last Stand jedoch nicht wie historische Anomalien, sondern wie der logische Höhepunkt einer langen Geschichte indigener Macht in Nordamerika. Es handelte sich eher um erwartbare als um außergewöhnliche Ereignisse. Seit dem Beginn des Kolonialismus in Nordamerika bis zu den letzten militärischen Triumphen der Lakota kämpfte eine große Zahl von indigenen Nationen erbittert um den vollständigen Erhalt ihrer Gebiete und ihrer Kulturen und widersetzte sich den imperialen Absichten Frankreichs, Spaniens, Großbritanniens, der Niederlande und schließlich auch der Vereinigten Staaten. Zu dieser indigenen »Unendlichkeit der Nationen« (»infinity of nations«) zählten die Irokesen, Catawba, Odawa, Osage, Wyandot, Cherokee, Comanchen, Cheyenne, Apachen und viele andere. Jede einzelne Nation war und ist zwar eine charakteristische Gemeinschaft, aber die europäischen Neuankömmlinge trennte eine kulturelle Kluft von allen indigenen Bewohnern des Kontinents, und diese Kluft sorgte für Angst, Verwirrung, Zorn und Gewalt. Diese Spaltung befeuerte einen der längsten Konflikte der Geschichte, gleichzeitig war sie Ausgangspunkt für eine jahrhundertelange Suche nach gegenseitigem Verständnis und einer Beilegung des Streits – für eine Suche, die bis zum heutigen Tag andauert.1
Als große Fallstricke beim Blick auf die Native Americans erweisen sich grobe Verallgemeinerungen einerseits und eng gefasste Besonderheit andererseits. Historikerinnen und Historiker neigten lange dazu, die Indianer als menschlichen Monolithen zu betrachten, der einem einzigen – und urzeitlichen – kulturellen Geflecht entstammte, als eine Rasse, die durch ihre tragische Geschichte der Enteignung und ihren heroischen Kampf ums Überleben definiert war. Diese Tradition liegt vielen populären Büchern zugrunde, die die Geschichte des indigenen Amerika als Ideendrama gestalten, das sich oft mehr mit den Vereinigten Staaten beschäftigt als mit den Indianern selbst. In diesen Darstellungen treten Indianer als eindimensionale Klischeegestalten auf, deren Komplexität und Unterschiedlichkeit aus dramaturgischen Gründen glatt gebügelt wurden. Sie werden zu bloßen Requisiten bei der gewalttätigen Transformation der Vereinigten Staaten zu einer Weltmacht herabgestuft: Indigener Widerstand und indigene Leiden steigern die dramatische Wirkung und ermöglichen den Menschen heute einen flüchtigen Blick darauf, wie viel verloren ging und um welchen Preis.
Am anderen Ende des Spektrums befindet sich eine ehrwürdige Tradition von Stammesgeschichten, die sich jeweils auf eine einzige Nation konzentrieren und eine umfassende Darstellung ihrer Traditionen, politischen Strukturen, ihrer materiellen Kultur und historischen Erfahrungen bieten. Diese notwendige und oft hervorragende wissenschaftliche Arbeit hat Hunderte von zuvor in die Obskurität verbannte indigene Gruppen als energische, kreative und widerstandsfähige Akteure der Geschichte zu neuem Leben erweckt und einen im Halbdunkel verharrenden Kontinent mit menschlicher Struktur erfüllt. Der Nachteil dieser Vorgehensweise ist ihre Kleinteiligkeit. Jede Nation tritt uns als einzigartige Gruppe entgegen, die in ihrer jeweils eigenen Mikrowelt fest verankert ist. Wenn man sich vorstellt, dass man diese detaillierte Darstellung fünfhundert Mal wiederholen müsste, erkennt man schnell die Problematik. Eine Untersuchung des indigenen Amerika auf diese Art gleicht der Betrachtung eines pointillistischen Gemäldes aus einer Entfernung von nur wenigen Zentimetern: Sie überwältigt; sie verliert den Zusammenhang; die umfassenderen Strukturen sind nicht zu erkennen.
Durch eine leicht...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2023 |
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Übersetzer | Helmut Dierlamm, Werner Roller |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | Amerika • Indigene Völker • Kolonialismus • Postkolonialismus |
ISBN-10 | 3-95614-578-X / 395614578X |
ISBN-13 | 978-3-95614-578-0 / 9783956145780 |
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