Wendepunkte (eBook)
349 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77682-7 (ISBN)
Wohin steuert die Welt?
Die internationale politische und wirtschaftliche Ordnung sowie deren Erklärungsmodelle sind durch eine Krisenkaskade erschüttert worden, die mit Putins Angriff auf die Ukraine ihre Klimax erreicht hat. Vor diesem Hintergrund identifiziert der renommierte Politikwissenschaftler Ulrich Menzel die Wendepunkte einer Welt in Aufruhr. Die Globalisierung ist entzaubert, die USA und China ringen um die Hegemonie. Wir erleben eine Rückkehr alter Grenzen, der Anarchie der Staatenwelt, des Autoritären (weltweit und in den liberalen Gesellschaften), ja sogar des Krieges in Europa. Stehen wir am Übergang vom liberalen amerikanischen zum autoritären chinesischen Jahrhundert? Wie soll sich Europa, wie soll sich Deutschland in dieser Übergangsphase positionieren?
Ulrich Menzel, geboren 1947, ist Politikwissenschaftler und war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU Braunschweig.
7Einleitung
Eine Wortmeldung aus gegebenem Anlaß
In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 hat Olaf Scholz in Reaktion auf den Angriff russischer Truppen gegen die Ukraine mit dem viel zitierten Begriff »Zeitenwende« das Stichwort zur Kennzeichnung der Weltlage geliefert. »Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.«[1] Seitdem drehte sich die Debatte um die praktischen Konsequenzen des Begriffs und welche Zeit diese in Anspruch nehmen. Anfang des Jahres 2023 verengte sie sich immer wieder auf die Frage, welche Waffen die Bundesrepublik in welchem Zeitraum und in welcher Stückzahl bereit und vor allem in der Lage ist, an die Ukraine zu liefern, ohne damit in einen regelrechten Krieg mit Rußland hineingezogen zu werden. Ein echtes Dilemma, dessen scheinbare Auflösung immer neue »rote Linien«, 8die nicht überschritten werden dürfen, verlangte. Die Gegenposition lautete, einen Verhandlungsprozeß in Gang zu setzen, ohne klarzumachen, wie Putin dazu bewegt werden könnte.
Dieses enge Verständnis des Begriffs »Zeitenwende« verschleiert leider, daß die Welt an einer viel epochaleren Wende steht. Es reduziert den Begriff auf das Kriegerische, verwendet ihn aus einer eurozentrischen Perspektive, weil es nur auf den Krieg in Europa fokussiert ist, es unterschlägt, daß es in den letzten Jahren nicht nur einen, sondern eine ganze Kette von Anlässen gegeben hat, von einer Zeitenwende zu sprechen, und es macht sie vor allem an einem Ereignis, gar an einem Tag, nämlich dem 24. Februar 2022, fest. Demgegenüber läßt sich anführen, daß auch 9/11, der Tag des Angriffs auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 und der anschließende weltweite Kampf gegen den Terror eine Zeitenwende markiert hat. Der Terror ist dadurch nicht weniger geworden, sondern hat eine neue Konfrontation zwischen der westlichen und der muslimischen Welt befördert. Oder die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 mit der anschließenden globalen Finanzkrise, die etliche Staaten an den Rand des Staatsbankrotts getrieben hat und trotz einer bis vor Kurzem von den Zentralbanken rund um den Globus verfolgten Null-Zins-Politik noch keineswegs überwunden ist. Oder die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, die sich zu einer neuen Völkerwanderung und einer Abschottung des Nordens gegenüber dem Süden ausgewachsen hat. Oder die Coronakrise 2020/21 mit den weltweiten Lockdowns und Unterbre9chungen der Lieferketten und und und. Kriege gibt und gab es nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Komplex Irak/Syrien, im Komplex Äthiopien/Eritrea, in Afghanistan, im Jemen, in Libyen, im Sudan, in der Sahelzone und und und, wobei jeweils die Grenzen zwischen klassischem Krieg und Bürgerkrieg mit oder ohne Intervention von dritter Seite, ob staatlich oder durch private Söldner exekutiert, verschwimmen. Gerade Letzteres ist auch in der Ukraine der Fall. Wie lassen sich Putins Krieg und dessen leidvolle Folgen gewichten gegenüber der Finanzkrise, der Flüchtlingskrise, der Coronakrise und vor allem der Klimakrise und deren Folgen? Wie kommt es, daß sich in den letzten Jahren die Krisen mit globalen Folgen so sehr häufen, sie in immer dichterer Abfolge auftreten mit dramatischen Wechselwirkungen, die ihre Handhabbarkeit immer schwerer machen? Besonders fatal ist der Effekt, daß der eigentlich prioritär zu führende Kampf gegen den Klimawandel immer wieder aus aktuellem Anlaß in den Hintergrund rückt, manchmal wie im Falle der Energiekrise sogar Maßnahmen verlangt, die kontraproduktiv für die Eindämmung des Klimawandels sind. Nicht zuletzt muß die Frage gestellt werden, warum sich Putin stark genug gefühlt hat, diesen Krieg vom Zaun zu brechen in der trügerischen Annahme, ihn nach wenigen Tagen siegreich beendet zu haben – widerspricht sein Verhalten doch allen empirisch gesättigten und argumentativ schlüssigen Gewißheiten, die die Lehre von den Internationalen Beziehungen mit ihren konkurrierenden Paradigmen Idealismus, Institutionalismus und Realismus anbietet, warum so ein Krieg im Herzen von Europa im 21. Jahr10hundert nicht mehr stattfinden kann. Die Antwort auf alle diese Fragen liefert das vierte Paradigma, der Strukturalismus.[2] Der Begriff »Wende« muß demnach in dem Sinne verstanden werden, daß wir uns in einer Welt des Übergangs befinden, der zudem in mehreren Dimensionen stattfindet. Insofern ist es präziser, von Wendepunkten in einer Übergangsphase zu sprechen, wie der Titel dieses Bandes annonciert.
Der erste Übergang ist politischer Natur und liegt begründet im relativen Abstieg der USA als globale Führungsmacht gemessen an dem Zenit, in dem sie nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und der Auflösung der Sowjetunion in den Jahren 1989/90 gestanden haben. Auch dieses Ereignis wurde damals und wird immer noch, gerade im Hinblick auf die Konsequenzen für die DDR, als »Wende« bezeichnet. Er liegt ferner begründet im relativen Aufstieg Chinas als künftige globale Führungsmacht. Xi Jinping hat angekündigt, die Volksrepublik werde diese Rolle bis zum Jahr 2049, dem Jubiläum zum hundertsten Geburtstag ihrer Gründung, übernehmen. Aus der Perspektive der Hegemonietheorie befinden wir uns also in der kritischen Phase des hegemonialen Übergangs, in der die alte Führungsmacht immer weniger bereit und in der Lage ist, ihre ordnungsstiftende Führungsrolle zu spielen, und die potentielle neue Führungsmacht dazu noch nicht willens ist, weil ihr noch das nötige Fundament fehlt. Deshalb kehrt in der Übergangsphase die Anar11chie der Staatenwelt zurück, wie sie sich in den skizzierten und vielen weiteren Konflikten offenbart. Das Moment der relativen Schwäche der USA, das sich sowohl in der politischen Spaltung des Landes wie den Konflikten mit Europa offenbart, dürfte bei Putins Entscheidung eine Rolle gespielt haben.
Die zweite Dimension des Übergangs ist wirtschaftlicher Natur und betrifft das Thema Globalisierung in gleich doppelter Hinsicht. Die Finanzkrise, die Coronakrise und die Energiekrise als Folge von Putins Krieg haben eindrucksvoll demonstriert, daß die Globalisierung mittlerweile ein Ausmaß erreicht hat, das die Welt bei jeder Störung der Lieferketten an den Rand einer Weltwirtschaftskrise bringt, die nicht mehr mit den Mitteln des Marktes, sondern nur durch massive Staatsinterventionen abgewendet werden kann. Der Neoliberalismus als die große Erzählung vom Segen der Globalisierung ist diskreditiert und der Staat mit seinen Steuerungsfunktionen auf allen Ebenen zurückgekehrt mit der Folge, daß wir an der Wende zur Deglobalisierung stehen, die ein slow and ethical living verlangt.
Mit dieser Wende ist allerdings nur eine Variante der Globalisierung gemeint, nämlich diejenige, die darunter die Durchkapitalisierung der ganzen Welt bis in den letzten Winkel versteht.[3] Es gibt aber noch eine andere 12Form von Globalisierung, die nicht der Logik des Profits, sondern der Logik der Rente entspricht. Letztere ist weiterhin auf dem Vormarsch, hat paradoxerweise durch die genannten Krisen sogar noch weiteren Auftrieb bekommen. Dabei geht es einerseits um die wachsende Zahl rentenbasierter Staaten, wie sie klassischerweise am Persischen Golf mit seinem Ölreichtum zu finden sind. Putins Rußland und seine Oligarchenclique gehören mit seinem Rohstoffreichtum ebenso dazu wie die »Volksrepublik« China, die keineswegs ein Land ist, wo das Kapital oder gar das Volk regiert, sondern die Partei. Deshalb können dort selbst Milliardäre jederzeit kaltgestellt oder verhaftet werden. Andererseits geht es um die vielen neuen rententrächtigen »Geschäftsfelder« – nämlich um Drogen, Waffen, Diamanten, Coltan, die Katastrophenhilfe, das Schleusergeschäft mit den Flüchtlingen, den Handel mit Müll und abgewrackten Schiffen, Schutzgeld, Piraterie, Geldwäsche, Briefkastenfirmen, Cyberkriminalität etc. Der Unterschied zwischen der Logik des Profits und der Logik der Rente besteht kurz gefaßt darin, daß im ersten Fall Einkommen aus unternehmerischer Tätigkeit und im zweiten Fall aus der politischen Kontrolle einkommensträchtiger Ressourcen entstehen,...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • China • edition suhrkamp 2795 • ES 2795 • ES2795 • EU Europäische Union • Globalisierung • Hegemonie • Internationale Beziehungen • Krise • Krisenkaskade • Macht • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Russland • Supermacht • USA |
ISBN-10 | 3-518-77682-7 / 3518776827 |
ISBN-13 | 978-3-518-77682-7 / 9783518776827 |
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