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Im Zweifel gegen das Kind (eBook)

Wie Gerichte, Jugendämter und Polizei die Kinderrechte mit Füßen treten | Streit ums Sorgerecht. Von Umplatzierung bis Heimunterbringung: Was Trennungs-Kinder erleiden
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
368 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3021-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Zweifel gegen das Kind -  Sonja Howard,  Jessica Reitzig
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Mehr als 200.000 Paare streiten sich alljährlich im Trennungsfall vor Gericht um das Sorgerecht für ihre Kinder. Der Staat hat den Auftrag, diese Kinder zu schützen und scheitert daran kläglich: Familiengerichte, Jugendämter und die Polizei treten Kinderrechte immer öfter mit Füßen, trennen selbst die Kleinsten regelmäßig von ihrer Hauptbezugsperson. Die Kinderschutz-Expertin Sonja Howard und die Journalistin Jessica Reitzig sind die ersten, die geballt über das Schicksal dieser Kinder berichten. Sie kritisieren das Justizsystem, das vor Fehlurteilen und Willkür nur so strotzt. In acht Erlebnisberichten von Eltern wird die Fallhöhe einer jeden Partnerschaft mit Kindern deutlich. Die Autorinnen liefern eine schockierende Bestandsaufnahme unseres 'Rechtsstaats' und zeigen, wie die Politik dringende Reformen immer wieder vertagt - Hausaufgaben für die Verantwortlichen inklusive.

Sonja Howard, geboren 1988, ist Expertin für Kinderschutz. Sie ist Mitglied im 'Nationalen Rat' der Bundesregierung gegen Kindesmissbrauch, arbeitet zum Thema Behörden- und Justizversagen und als Referentin und Sachverständige zu allen Themen rund um Gewalt in der Kindheit. Zudem co-hostet sie den Podcast der Kinderschutz-Stiftung Hänsel+Gretel. Sie leitet die NGO 'In dubio pro infante' und lebt mit ihren vier Kindern in Bonn.

Sonja Howard, geboren 1988, ist Expertin für Kinderschutz. Sie ist Mitglied im "Nationalen Rat" der Bundesregierung gegen Kindesmissbrauch, arbeitet zum Thema Behörden- und Justizversagen und als Referentin und Sachverständige zu allen Themen rund um Gewalt in der Kindheit. Zudem co-hostet sie den Podcast der Kinderschutz-Stiftung Hänsel+Gretel. Sie leitet die NGO "In dubio pro infante" und lebt mit ihren vier Kindern in Bonn.

Die Lügen-Mutter


ODER
Was, wenn dir niemand glaubt?

Daniela Hamer steht in ihrer Küche und drückt den Knopf ihres Kaffeeautomaten. Über uns poltert es laut, sie entschuldigt sich. Die Nachbarn, die Wohnungen über uns, leider alles etwas hellhörig hier, meint sie. Das Zuhause von Daniela Hamer liegt mitten in einer westdeutschen Großstadt. Die hohen Altbauwände in der Küche sind liebevoll dekoriert: Hier sitzt ein bunter Schmetterling an der Tapete, dort ruht eine silberne Libelle auf der Stuckleiste. Die Möbel zeugen von einem zusammengewürfelten Haushalt. Einiges habe sie von den Vormietern übernommen oder gebraucht erstanden, erklärt Daniela Hamer, als wolle sie sich dafür entschuldigen. Wahrscheinlich hat sich diese Frau mit ihren 45 Jahren schon viel zu oft für Dinge entschuldigt, für die sie eigentlich nichts kann, vermute ich. In den Regalen hinter ihr ist alles penibel sortiert und gestapelt, sogar die Einkaufstaschen aus Jute sind gefaltet abgelegt. Es sieht aus, als wolle hier eine Frau Ordnung schaffen, die sich sonst regelmäßig mit dem Chaos des Lebens konfrontiert sieht.

Im Flur turnt ein aufgeweckter Zehnjähriger umher. Sein roter Kapuzenpulli sitzt locker auf den Schultern, Hannes sieht ein bisschen mager aus unter dem dicken Pullover. Auf der Kommode steht ein Foto von ihm und seinem drei Jahre älteren Bruder Lukas. Der hat eine schicke schwarze Hornbrille auf der Nase, lächelt frech in die Kamera und legt dem Kleinen dabei den Arm um die Schultern. Typische Beschützergeste, denke ich, während Mama Daniela noch schnell einen Apfelschnitz macht, den Jungen damit ins Wohnzimmer schiebt und ihm noch einen Kuss auf die Wange drückt. Natürlich nicht, ohne ihm vorher eine Hörgeschichte anzustellen und ihm die Kopfhörer aufzusetzen. Dieses Kind hat in seinem kurzen Leben definitiv schon viel zu viele Erwachsenenprobleme mitgehört, schlussfolgere ich. Da braucht er nicht auch noch mitzuhören, was mir, Jessica, seine Mutter gleich in der Küche berichten wird.

Wenig später sitzen wir am Küchentisch, trinken frischen Kaffee, und in die blauen Augen von Daniela Hamer treten Tränen. Eben noch hatte sie mir von der Verliebtheit erzählt, die die ersten gemeinsamen Jahre mit dem Vater ihrer beiden Jungs prägte. 2005 kennengelernt, 2006 geheiratet, 2007 erblickt Lukas das Licht dieser Welt. Er Arzt, sie Krankenschwester. Ihre Welt war rosa getüncht in dieser Zeit, ihre Erinnerungen reihen sich aneinander wie die Bilder einer Foto-Love-Story aus einer Teenager-Zeitschrift. Jetzt hat sie die ersten schwierigen Situationen angerissen, es ist 2011, der zweite Sohn, Hannes, ist inzwischen wenige Monate alt. Da passiert es zum ersten Mal: Im Oktober liegt Stefan nach dem Besuch einer Hochzeitsfeier neben ihr auf dem Hotelbett, die Kinder sind in ihre Decken eingekuschelt. Sie liegen in eigenen Bettchen zu den Füßen ihrer Eltern in dem engen Hotelzimmer. Stefan hat getrunken an diesem Abend. Er ist gereizt, mal wieder, so wie schon in den vergangenen Tagen und Wochen. Daniela beginnt zu reden, will die wenige Zeit, die die beiden mit ihren ruhig schlafenden Kindern haben, für ein Gespräch nutzen. Kurz zuvor hatte sie entdeckt, dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer seiner Angestellten hat, die Möglichkeit einer Trennung bisher nur im Stillen erwogen. Sie will es noch mal versuchen, schauen, ob sie nicht doch an ihn rankommt. Aber es gelingt ihr nicht. An diesem Abend erlischt nicht nur der letzte Funke Hoffnung, ihre Ehe doch noch zu retten. Auch das letzte bisschen Vertrauen in den Vater ihrer Kinder zerrinnt. Übrig bleibt von diesem Abend, neben der verdunkelten Erinnerung an die Szenen, die sich im Ehebett abspielen, von Daniela nur noch ein ganz kleiner Rest Mensch.

Am nächsten Morgen traut sich Daniela erst nicht an den gemeinsamen Frühstückstisch mit der verbliebenen Hochzeitsgesellschaft. Zu groß ist ihre Scham, zu auffällig sind ihre Verletzungen. Die blauen Handabdrücke an ihren Oberarmen verbirgt sie zwar unter dem Pullover, aber die Verletzungen im Gesicht sind zu auffällig, um sie mit Schminke zu überdecken. Dann geht sie doch runter zum Frühstück, schließlich braucht ihr dreijähriger Sohn etwas im Magen. Es dauert nicht lange, bis ein Freund der Familie sie beiseitenimmt. Eindringlich überzeugt er sie davon, am nächsten Morgen zum Arzt zu gehen und ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen.

Als Daniela mit ihrer Schilderung zu Ende ist, laufen Tränen ihr Gesicht hinab. Das alles ist mehr als zehn Jahre her, und doch konnte sie noch keinen Abstand gewinnen. Seitdem begleitet die Sorge um ihre Kinder sie wie ein täglicher Schatten. Wann ist der nächste Umgang mit dem Vater? Werden die Nachbarn schon wieder die Polizei rufen, weil ihr Ex Stress macht? Kommen die Jungs heil vom Vater zurück? Was, wenn nicht? Müssen Lukas und Hannes dann schon wieder zum Jugendamt, um eine Aussage zu machen? Werden die Kinder auch verständlich zusammenfassen, was wirklich passiert ist? Und: Warum glaubt ihr niemand, wenn sie von der Gewalt gegen sich und die Kinder berichtet? Warum hilft den Jungs niemand?

»Das war der schlimmste Tag meines Lebens«, sagt Daniela Hamer wenig später, während sie auf ihrem Küchenstuhl hin und her rutscht. Damit meint sie nicht den Tag, an dem ihr Mann sich an ihr verging. Damit fasst sie einen Tag im Oktober 2014, vier Jahre nach dem brutalen Vorfall, zusammen. Damals ist Daniela 37, seit vier Jahren getrennt und alleinerziehend. Sie hat zu diesem Zeitpunkt bereits zwölf Gerichtsverfahren mit ihrem Ex hinter sich. Drei Mal hat sie über eine Beratungsstelle versucht, gemeinsam mit dem Vater ihrer Kinder zu einer Lösung zu kommen. Drei Mal scheiterten die Gespräche. Die Jungen wurden immer wieder aufs Neue befragt, angehört, verhört. Von Jugendamt, Verfahrensbeiständen, Gutachtern und Polizei. Daniela weiß heute nicht mehr, wie oft genau. An diesem Tag im Oktober 2014 sitzt sie im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts. Vor ihr auf der Richterbank sitzen drei Männer. Alle gucken gelangweilt zu ihr hinunter. Einer schnippt immer wieder ein Gummiband zwischen den Fingern hindurch. Daniela wartet auf die Verkündung von Urteil Nummer 13 zum Streit ums Sorgerecht. Zuvor hatte das Amtsgericht ihr das alleinige Sorgerecht für ihre Söhne übertragen. Kein großer Erfolg, sondern die Konsequenz nach vier Jahren Krieg um die Kinder. Die Verfahrensbeiständin, die gerichtlich zugewiesene Anwältin der Kinder, und die Mitarbeiterin des Jugendamts machen ihr Hoffnung, dass das OLG die Entscheidung des Amtsgerichts bestätigen wird. Doch der Termin läuft ganz anders als gedacht. Die Richter halten Daniela für überspannt. Sie sagen ihr, es sei normal, dass es unterschiedliche Erziehungsansichten zwischen Mutter und Vater gebe. Daniela wird emotional, wehrt sich argumentativ. So lange, bis der Vorsitzende Richter sie unterbricht. Er macht ihr klar, dass es ihre Aufgabe als Mutter sei, sich mit dem Vater zu einigen, denn sie hätten nun einmal gemeinsames Sorgerecht. Und er droht ihr: Wenn ihr das nicht gelingen würde, könnte er ihr auch das Sorgerecht entziehen – und es komplett an den Vater übertragen.

Einige Wochen später bekommt Daniela das Urteil zugeschickt. Sie liest nach, wie die Richter argumentieren. Versucht nachzuvollziehen, wie es so weit kommen konnte. Es überrascht sie beim Lesen der Unterlagen, dass das Oberlandesgericht den krassen Konflikt zwischen Mutter und Vater sogar erkannt hat:

»Daneben zeigen die zahlreichen Auseinandersetzungen um die Besuchskontakte des Vaters mit den Söhnen, dass die elterliche Beziehung zueinander derart zerrüttet ist, dass sie bei anstehenden Entscheidungen das Wohl der Kinder aus dem Blick verloren haben. Auch die Eskalationen bei der Wahrnehmung des Umgangsrechts, etwa durch Polizeieinsätze, haben dazu geführt, dass die Beziehungsebene unter den Eltern weitreichend gestört ist und von einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber dem anderen Elternteil beherrscht wird. Eine konstruktive gemeinsame Entscheidungsfindung der Eltern ist nach der Überzeugung des Senats auf dieser Basis ausgeschlossen.«17

Die Richter erkennen, dass sich die Eltern nicht einigen werden. Sie beharren dennoch auf dem gemeinsamen Sorgerecht. Die Eltern müssen teilen. Auch wenn die Richter selbst sehen, dass Mutter und Vater das nicht können. Als kleinen Vorgeschmack auf seine Macht entscheidet der Vorsitzende übereinstimmend mit seinen beiden Kollegen, dass der Vater seine Rechte in weiten Teilen zurückerhält. Das Gericht beschließt:

»Auf Beschwerde des Kindesvaters wird der Beschluss des Amtsgerichts wie folgt neu gefasst: Die Gesundheitssorge für die Kinder wird auf die Mutter übertragen. Im Übrigen bleibt es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge für die Kinder. Die Kindesmutter vermochte nicht aufzuzeigen, inwiefern tatsächlich Handlungsbedarf in anderen Bereichen der elterlichen Sorge besteht, in welchen eine gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Vater notwendig ist, aber voraussichtlich nicht möglich sein wird.«18

Hätte Daniela den Richtern erklären müssen, mit welchen rechtlichen Fallstricken Alleinerziehende in Deutschland konfrontiert sind? Wer sein Kind alleine erzieht, ist dazu gezwungen, sich über jede wesentliche Entscheidung...

Erscheint lt. Verlag 19.9.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Betreuungsmodell • Bindungsintoleranz • Eltern • Entfremdung • Familiengericht • Gewalt • Gutachter • Inobhutnahme • Jugendamt • Justiz • Kinderrechte • Kinderschutz • Kindeswohl • Konflikt • Mama • Männerrechtler • Missbrauch • Papa • Scheidung • Sorgerecht • Staatsgewalt • Trennung • Umgang • Umgangsrecht • Wechselmodell
ISBN-10 3-8437-3021-0 / 3843730210
ISBN-13 978-3-8437-3021-1 / 9783843730211
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