Pilgern. Die Seele mit auf Reisen nehmen (eBook)
208 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-787-3 (ISBN)
Peter Butenuth ist als Geschäftsführer in der Medienbranche tätig sowie als Trainer, Coach und Berater. Er hält Vorträge und Workshops in der von ihm gegründeten Initiative »natural life-art« zum Themenbereich Pilgern und Wald / Waldbaden. Außerdem engagiert er sich als aktiver Pilgerbegleiter. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Nordhessen. www.PeterButenuth.de
Einleitung
»Ich bin unterwegs, genau wie an den Tagen zuvor. Mir ist heiß, meine Füße und Waden schmerzen seit Stunden. Irgendwie scheint sich das Gewicht meines Rucksacks seit heute früh verdoppelt zu haben. Aber mein Kopf ist befreiend leer. Und immer wieder erlebe ich den Luxus, einfach nur da zu sein, ohne zu denken, Schritt für Schritt zurückzulegen. Das Leben hier ist so einfach – aufstehen, laufen, essen, trinken, fühlen, denken, mit anderen reden, schlafen. Diese ungewohnt einfache Struktur der letzten Tage schenkt mir eine Klarheit meiner Gefühle, die ich so noch nie erlebt habe. Danke für das, was hier gerade mit mir geschieht.«
Aus meinem 1. Pilgertagebuch, 13. April 2003
Auch wenn sich die meisten Pilger sehr bewusst zu einer Pilgerfahrt entschließen, gibt es doch viele, die mehr oder weniger nur durch glücklichen Zufall auf den Jakobsweg geraten.
So auch bei mir: Aus einer beruflichen Sinnkrise heraus wollte ich mir im Frühjahr 2003 eine Auszeit in Form einer mehrwöchigen Motorradtour durch Thailand und Kambodscha nehmen und damit gleichzeitig einen Jugendtraum erfüllen. Leichtes Gepäck, eine kleine, geländegängige Enduro vor Ort mieten und dann einfach jeden Tag woanders sein …
Aufgrund von Empfehlungen anderer Asienreisender hatte ich mehrere Arzttermine für entsprechende Schutzimpfungen vereinbart. Gleich beim ersten Termin geschah es dann: Gelangweilt blätterte ich in einer der herumliegenden Frauenzeitschriften (Neue Post oder Ähnliches) und stieß zufällig auf einen zweiseitigen Bericht über den sogenannten Jakobsweg von Frankreich nach Santiago de Compostela. Ein paar Fotos, ein kurzer Text und der Hinweis, dass wohl immer mehr Menschen diese Pilgerreise mit einer Länge von über 800 Kilometern für sich entdecken.
Vom Jakobsweg hatte ich damals noch nie gehört, Pilgern war für mich irgendetwas aus dem Mittelalter. Trotzdem traf der Bericht einen Nerv tief in mir und ich riss – unauffällig und mit viel Hüsteln, um das Geräusch zu überspielen – die beiden Seiten aus dem Heft.
Internet-Recherchen in dem Umfang wie heute waren 2003 noch nicht möglich, also besorgte ich mir am nächsten Tag in einer Buchhandlung das Buch »Auf dem Jakobsweg«, Paulo Coelhos sehr persönliches Tagebuch seiner Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Und dazu einen Wanderführer für den Camino Francés, also die bekannte Route von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Santiago. Und es packte mich immer mehr: Nach dem Lesen beider Bücher wusste ich, ich muss anstatt auf die Motorradtour unbedingt den Camino gehen. Keine Ahnung, warum eigentlich, aber das Gefühl war einfach da.
Ich glaube, am meisten hat mich nach den vorangegangenen stressigen Berufsjahren gereizt, einmal ohne jegliche Verpflichtungen über Wochen nur noch eine Aufgabe zu haben: morgens aufzustehen, den ganzen Tag zu laufen, zwar ein Ziel zu haben, aber ohne den Druck, es auch erreichen zu müssen.
Und so kam es, dass meine Familie mich dann tatsächlich einige Wochen später im März 2003 in Kassel zum Zug brachte, der mich über Paris nach Saint-Jean-Pied-de-Port führen sollte, dem Ausgangspunkt meiner Pilgerreise.
Saint-Jean-Pied-de-Port
Die Motorradtour habe ich im Folgejahr nachgeholt und seitdem viele andere faszinierende Fernreisen erlebt, aber keine Reise meines Lebens und kein späterer Pilgerweg ist mir so in Erinnerung und im Herzen geblieben wie mein erster Camino …
»Gibt es eigentlich ein Fazit oder eine besondere Erkenntnis aus deinem ersten Pilgerweg?«
… werde ich oft gefragt.
Die Antwort darauf ist komplex und jeder Mensch erlebt den Camino anders. Aber ich versuche es trotzdem:
Beim ersten Pilgern auf dem Jakobsweg bin ich mir in einer Tiefe selbst begegnet, die oftmals schmerzhaft war, gleichzeitig aber reinigend und befreiend. Ich habe buchstäblich über mein gesamtes Leben nachgedacht und wusste anschließend besser, wer ich eigentlich bin.
Das Pilgern hat Lücken in meiner Vergangenheit geschlossen und so neue Wege in meine Zukunft eröffnet.
Unterwegs wurden schöne und schmerzhafte Erinnerungen wieder lebendig und ich bin auf viele unerfüllte Hoffnungen und Träume gestoßen. Gleichzeitig aber wurde mir bewusst, wie oft ich kleine Geschenke und wertvolle Momente meines Lebens übersehen habe.
Schutzhütte für Hirten in den Pyrenäen
Das körperlich härteste Stück des Caminos war trotz guter Vorbereitung gleich die erste Etappe, die Überquerung der Pyrenäen. Im März, völlig allein mit mir, beginnend bei Sonnenschein, der dann plötzlich in Nebel, Regen und zuletzt in Schnee überging. Hier kam ich das erste Mal in jeder Beziehung an meine Grenzen: ein viel zu schwerer Rucksack, teilweise orientierungslos, verängstigt und irgendwann in einem kleinen Hirtenunterstand weinend mit der Frage konfrontiert, was in aller Welt mich eigentlich dazu gebracht hat, jetzt hier unterwegs zu sein.
Dann endlich die viel zu späte Ankunft auf der spanischen Seite in Roncesvalles, durchgefroren und frustriert und ernsthaft vor der Frage stehend, am nächsten Tag einfach abzubrechen und nach Hause zurückzukehren.
Aber – der nächste Morgen, leichter Sonnenschein und das überraschend gute Gefühl: Wenn du das gestern geschafft hast, dann schaffst du auch den restlichen Weg. Ich empfand plötzlich wieder Vorfreude auf das Kommende. So schnell ändert sich die Stimmung auf dem Camino …
Was bedeutet Pilgern für mich?
Pilgern hat für mich einen Dreiklang, der viel mit dem normalen Leben zu tun hat:
Es gibt einen Weg, ein Ziel und eine Last in Form des Gepäcks, des Rucksacks, den du mit dir trägst.
Der Jakobsweg wie auch jeder andere längere Pilgerweg ist für mich ein klassisches Symbol unseres Lebensweges. Wir alle sind ständig unterwegs, unser Weg ist begleitet von Übergängen und Umbrüchen, wir leben mit und für andere Menschen, wir tragen eine Last und jeder weitere Schritt kann freiwillig oder willkürlich eine Veränderung mit sich bringen.
Das Ziel des Jakobsweges, nämlich das Erreichen von Santiago de Compostela, ist ebenfalls auf unser Leben übertragbar: Ohne Ziel im Leben unterwegs zu sein, nimmt uns den Sinn. Die Bestandteile von Sinn sind vor allem die Zugehörigkeit zu anderen Menschen und zur Schöpfung, Spiritualität sowie eine persönliche Mission bzw. Vision für das eigene Leben. Für den bekannten Psychologen Viktor Frankl ist das Wesentliche im Leben des Menschen die Frage »Wofür lebe ich?«. D. h. jeder Mensch hat das Bedürfnis, einen Sinn bzw. ein Ziel in seinem Leben zu finden und zu realisieren.
Und nicht zuletzt gibt es noch dein Gepäck, deinen Rucksack. Er steht für deinen »Lebensrucksack«. Der Rucksack meiner ersten Pilgerreise hatte ein Gewicht von fast 20 Kilogramm, und um ihn leichter aufsetzen zu können, musste ich mir nach Möglichkeit immer eine Bank oder einen großen Stein zum Abstellen suchen. Ich schleppte viel zu viel mit mir herum, sowohl in meinem Rucksack als auch in der Seele und in meinem Herzen.
Unser Lebensrucksack ist oftmals überfüllt: Verantwortungen, Verpflichtungen, verschiedene Rollen, Glaubenssätze, festgelegte Denkmuster, richtige und falsche Überzeugungen, Ängste und Erinnerungen.
Auf dem Jakobsweg beginnst du irgendwann, deinen eigenen Lebensrucksack bis auf den Grund auszupacken, und findest dort viel unnötigen Ballast, aber auch überraschend Wertvolles, das man aus den Augen verloren hat. Menschen, die einem geholfen haben, schwierige Situationen durchzustehen, und die Erinnerung an wichtige Momente des Vertrauens und des Glaubens: alles was half, dort anzukommen, wo du jetzt gerade bist. Und nicht zuletzt findest du manchmal ganz unten im Gepäck versteckt deine Begabungen, Stärken, Talente und besondere Fähigkeiten wieder.
»Das schwerste Gepäck beim Pilgern ist nicht im Rucksack.«
Torsten Marold (geb. 1962), deutscher Spiele-Autor
Pilgern trifft auf eine uralte Sehnsucht der Menschen: Wir sehnen uns danach, aus dem Alltagstrott auszubrechen, Traumatisches hinter uns zu lassen und eigene, neue Wege zu suchen, um so über Umwege vielleicht doch an das persönliche Ziel zu gelangen. Von dieser Sehnsucht getrieben und getragen begeben sich immer mehr Menschen auf eine Pilgerreise. Eine besondere Motivation und Antrieb ist dabei das »Sich sortieren«.
Pilgern ist spirituelles Wandern, das stärkt und Kraft gibt. Das damit verbundene »Ausklinken« aus dem Alltag in Form einer selbst gewählten Auszeit, die einen Tag, aber auch mehrere Wochen dauern kann, ist eine Wohltat für Körper, Geist und Seele.
Während die Pilger im Mittelalter überwiegend aus rein religiöser Überzeugung auf Pilgerwegen oder zu Wallfahrtsorten unterwegs waren, haben sich die Motive weiterentwickelt. Neben ausschließlich religiösen Gründen interessieren sich viele Pilger vor allem für die Geschichte und die historischen Bauten oder möchten zu Fuß, sozusagen Schritt für Schritt, diese lange Geschichte des menschlichen Suchens selbst wiederentdecken. Alle haben gemeinsam, dass sie sich dabei auf den Spuren derer bewegen, die vor langer Zeit zu demselben Ziel aufbrachen.
Und wir alle sind dabei weit weniger vom...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber |
ISBN-10 | 3-96362-787-5 / 3963627875 |
ISBN-13 | 978-3-96362-787-3 / 9783963627873 |
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