Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen (eBook)
554 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-3200-7 (ISBN)
Zum ersten Mal erzählt: das Schicksal deutscher Künstler in Churchills Internierungslagern
Im Mai 1940 ließ Winston Churchill alle männlichen Deutschen und Österreicher zwischen 16 und 60 Jahren als »feindliche Ausländer« internieren. Die Flüchtlinge waren den Nazis gerade entkommen und wurden nun auf die Isle of Man zwischen Irland und England verbannt. Das Hutchinson Camp wurde daraufhin zu einem kreativen Zentrum, in dem einige der begabtesten Denker, Schriftsteller, Musiker und Künstler des 20. Jahrhunderts lebten - unter ihnen Dadaist Kurt Schwitters.
Der preisgekrönte Historiker Simon Parkin beleuchtet zum ersten Mal dieses ungewöhnliche Kapitel des Zweiten Weltkriegs.
»Geschichtsschreibung vom Feinsten.« BOOKLIST
»Akribisch recherchiert und unmöglich aus der Hand zu legen.« DAILY EXPRESS
WINGATE LITERARY PRIZE 2023
Simon Parkin ist ein britischer Autor und Journalist. Er schreibt für den 'New Yorker', ist regelmäßiger Mitarbeiter der 'Long Read'-Reihe des 'Guardian', Kritiker der Zeitung 'The Observer' und Mitglied der 'Royal Historical Society' (RHS). Parkin lebt in West Sussex, England. Henning Dedekind, geboren 1968, übersetzt aus dem Englischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Ronan Farrow, Masha Gessen, David Graeber, Evgeny Morozov und Bob Woodward. Elsbeth Ranke, geboren 1972, Studium der Romanistik und Angewandten Sprachwissenschaft. Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen, u. a. Erin Hunter, Frédéric Lenoir, E. O. Wilson, Dave Goulson, Lewis Wolpert, Hélène Beauvoir. André Gide-Preis 2004.
II.
Fünf Schüsse
Paris Zwei Jahre früher
Kurz nachdem die Sonne aufgegangen war, die Schatten kürzer wurden und das Treiben des Tages begann, öffnete Madame Carpe die eisernen Fensterläden ihres Ladens im fünften Arrondissement von Paris. »Ich möchte eine Waffe kaufen«, hörte sie eine Stimme hinter sich rufen. Die Frau wandte sich um und erblickte einen schlaksigen Jungen mit traurigen Augen, der einen Anzug mit breitem Revers, eine Krawatte und einen weiten Mantel trug. Sie rief nach ihrem Mann, Leopold, der in der Tür erschien. Es war 8.35 Uhr am Morgen des 7. November 1938. À la fine lame (Zur feinen Klinge) war zwar noch nicht geöffnet, doch der Ladenbesitzer, der sich auf den Beginn des Tagesgeschäfts freute, winkte seinen ersten Kunden gern herein. »Wozu brauchst du eine Waffe?«, fragte er den Jungen, der die schwer beladenen Regale an den Wänden betrachtete. Der Junge öffnete sein Portemonnaie, in dem ein Bündel Geldscheine steckte, und erklärte, dass er etwas zum Schutz benötige, da sein Vater ihn oft damit beauftrage, große Geldsummen zu überbringen. Die Erklärung war sowohl ausreichend als auch überflüssig. Nach französischem Recht konnte ein Waffenhändler den Verkauf an einen Kunden nur dann verweigern, wenn er die Person für unzurechnungsfähig hielt. Der Junge war mürrisch und erschöpft. Er hatte in der vorangegangenen Nacht kaum geschlafen, da er dreimal von Nachtschwärmern wachgerüttelt worden war und sein Herz so schnell schlug, dass er eine Hand auf seine Brust legen musste, um sich zu beruhigen. Doch wenn sein Kunde Anzeichen von Erschöpfung zeigte, sah sich Carpe nicht veranlasst, weitere Fragen zu stellen. Der Junge wirkte angespannt, aber nicht beunruhigt.
Der Ladenbesitzer legte eine Auswahl an Waffen auf den Tresen. Sein Kunde blickte ausdruckslos von einer zur anderen. Monsieur Carpe erkannte das Zögern des Neulings, widerstand aber vorerst dem Drang, ihn zu belehren. Schließlich fragte der Junge, ob Carpe eine Pistole des Kalibers 45 vorrätig habe, das er aus amerikanischen Filmen kenne.1
Dies sei leider eine schlechte Wahl für die genannte Aufgabe, erklärte der Ladenbesitzer: zu schwer, zu sperrig. Besser wäre ein 6,35‑Millimeter-Revolver, eine Waffe, die klein genug sei, um sie verdeckt zu tragen, leicht genug, um sie schnell zu ziehen, und dennoch bedrohlich genug, um einen Dieb abzuschrecken.
Carpe demonstrierte, wie man die Waffe lud, abfeuerte und entlud. Der Junge beobachtete die geschmeidigen, gut geübten Bewegungen des Verkäufers. Schließlich legte Carpe eine Schachtel mit 25 Patronen auf den Ladentisch und erklärte, dass er vor dem Verkauf der Waffe einen Ausweis sehen müsse. Der junge Mann schob seinen Reisepass über den Tresen. Carpe las einen ausländischen Namen auf dem Dokument: Herschel Grynszpan.
Am Abend zuvor hatte Herschel das Geschäft À la fine lame entdeckt. Der 17‑Jährige war ziellos umhergestreift, erregt von einem vorangegangenen heftigen Streit. Er war aus dem Haus gestürmt, in dem er mit seinem Onkel und seiner Tante lebte. Angeblich war es bei dem Streit um Geld gegangen, aber er hatte sich durch unausgesprochene und unbenannte Vorbehalte und Frustrationen sowie durch Umstände, auf die keiner der Beteiligten Einfluss hatte, noch verschärft.
Herschel war ein Einwanderer ohne Papiere. Zwei Jahre zuvor hatte er seine engste Familie in seiner Heimatstadt Hannover zurückgelassen, war nach Frankreich gekommen und bei seinen Verwandten eingezogen. Herschels Vater hatte erfolgreich 3000 Francs aus Deutschland geschmuggelt, um den Unterhalt seines Sohnes zu finanzieren. Nun wollte der Junge dieses Geld an seine Familie zurückgeben, die er in Lebensgefahr wähnte.
Seine Eltern besaßen eine kleine Schneiderei in Hannover. Seit Adolf Hitler fünf Jahre zuvor an die Macht gekommen war, hatten sie enorme wirtschaftliche Schwierigkeiten erdulden müssen. Die Hoffnung, dass sich der Antisemitismus auf eine Minderheit von verrückten, eingefleischten Parteianhängern beschränkte, wurde zunichte gemacht, als ein örtlicher Polizeibeamter ihnen Auslieferungspapiere überreichte: Zusammen mit etwa 12 000 anderen polnischen Juden, die in Deutschland lebten, sollten sie aus dem Land zwangsausgewiesen werden, das sie ihre Heimat nannten. Auf der trostlosen Fahrt zum Bahnhof, wo sie einen Zug zur polnischen Grenze besteigen sollten, waren die Straßen gesäumt von Menschen, die riefen: »Juden raus!«2
Die Deportation war chaotisch und grausam. Nachdem sie in Zbąszyń an der polnischen Grenze ausgestiegen war, wurde Herschels Familie über die deutsche Grenze gejagt und danach von den polnischen Grenzposten zurückgewiesen. Die Männer und Frauen schleppten sich zurück auf deutsches Gebiet, um auch dort wieder abgewiesen zu werden. Erst als die Nazis Hunde auf die Gruppe hetzten, lenkten die polnischen Grenzer ein und ließen die erschöpften Menschen ins Niemandsland, wo sie in Scheunen und Schweineställen übernachteten. Zu Beginn der Woche hatte Herschel eine Postkarte von seiner älteren Schwester Esther erhalten, die ihm die Situation schilderte und mit einer Erklärung über die Mittellosigkeit der Familie endete: »Wir haben keinen Pfennig.«
Onkel Abraham – wie sein Bruder ein Schneider – wusste, dass sich die Ereignisse bald überschlagen würden. Es wäre unverantwortlich, Geld in ein Chaos zu schicken, erläuterte Abraham seinem Neffen. Klüger wäre es, die weitere Entwicklung abzuwarten. Herschel, der zu Wutausbrüchen neigte, die oft in Selbstmorddrohungen gipfelten, nahm das Zögern seines Onkels als Beweis dafür, dass sich außer ihm niemand für die Lage seiner Eltern interessierte. Die Anschuldigung verletzte Abraham.
»Ich habe schon so ziemlich alles für dich getan, was ich konnte«, sagte er zu seinem Neffen. »Wenn du nicht zufrieden bist, kannst du ja gehen.«3
Herschel riss seinen Mantel aus dem Griff seiner Tante, die ihn schluchzend von der Tür zurückhalten wollte.
«Ich gehe«, sagte Herschel. »Auf Wiedersehen.«
Abraham drückte dem Jungen noch 200 Francs in die Hand, bevor er ging. Herschel verbrachte den Rest des Tages schmollend und widerstand allen Bemühungen seines Freundes Naftali Kaufmann – besser bekannt als Nathan –, ihn aufzumuntern. Nathan hatte den Streit mitbekommen und begleitete seinen Freund von der Haustür an. Er versicherte Herschels Tante und Onkel, dass er ihren Neffen unversehrt zurückbringen werde.
Nachdem sie den Rest des Nachmittags mit Freunden verbummelt hatten, besprachen die beiden jungen Männer am frühen Abend im Licht, das durch die Fenster des Rathauses nach draußen fiel, die Ereignisse des Tages. Nathan drängte seinen Freund sanft, in die Wohnung zurückzukehren. Herschels Wut flammte wieder auf.
»Lieber sterbe ich wie ein Hund, als meine Entscheidung rückgängig zu machen«, sagte er. Herschel erläuterte seinen Plan für die Nacht: Er wollte in seinem Lieblingscafé zu Abend essen4 und dann in einem billigen Hotel unterkommen. Die beiden trennten sich.
Herschel ging die Rue du Faubourg Saint-Denis hinab und erblickte dort das Schaufenster des Waffengeschäfts.
Waffe und Patronen kosteten zusammen 245 Francs. Herschel zahlte mit den 200 Francs seines Onkels und beglich die Differenz mit Kleingeld aus seiner eigenen Tasche. Ohne das Preisschild zu entfernen, das an einem Stück roter Schnur vom Abzugsbügel hing, wickelte der Ladenbesitzer die Waffe und die Munition in braunes Papier und verschnürte das Paket.
Herschel war gesetzlich verpflichtet, seinen Kauf bei den Behörden zu registrieren. Als er den Laden verließ, schlug er daher den Weg zur nächstgelegenen Polizeistation ein. Der Junge ging weiter, bis er sicher war, dass er außer Sichtweite war. Dann bog er von der Hauptstraße ab und ging zurück zum Café Tout va bien, wo er am Abend zuvor seinem Freund gesagt hatte, dass er dort essen wolle.
Um 8:55 Uhr stand Herschel vor dem Spiegel in der...
Erscheint lt. Verlag | 15.8.2023 |
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Übersetzer | Henning Dedekind, Elsbeth Ranke |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Island of Extraordinary Captives |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 | |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 | |
Schlagworte | Georg Ehrlich • Hutchinson Camp • Internierungslager • Kurt Schwitters • Lager der Künstler • Zeugenberichte • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-8412-3200-0 / 3841232000 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3200-7 / 9783841232007 |
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