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»Wir waren hochgemute Nichtskönner« (eBook)

Die rauschhaften Jahre der Kölner Subkultur 1980-1995
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31863-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Wir waren hochgemute Nichtskönner« -  Gisa Funck,  Gregor Schwering
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Heute strömen Kulturschaffende scharenweise nach Berlin, doch in den 80er- und 90er-Jahren lag das unbestrittene Zentrum der bundesdeutschen Kunst- und Kulturszene ganz woanders: in Köln. Der Startschuss für Kölns Aufstieg fiel am 15. Januar 1980, als im Basement die unbekannte britische Band Joy Division spielte. Peter Bömmels, Mitglied der Künstlergruppe »Mühlheimer Freiheit«, war von diesem neuen Sound dermaßen beeindruckt, dass er kurz darauf mit sieben Mitstreiter:innen die Zeitschrift SPEX gründete. Hier meldete sich ein ganz neuer Musikjournalismus zu Wort, dessen kulturwissenschaftliche Analysen und steile Thesen nachts an denselben Kneipentresen ersonnen wurden, an denen zur gleichen Zeit etwa die späteren Gründer des Technolabels Kompakt standen, während sich nebenan New Yorker Künstler:innen und die Köpfe der legendären Autorenwerkstatt betranken. Die ganze Stadt flirrte vor kreativer Energie, und während wenige Kilometer weiter die Regierungsgeschicke gelenkt wurden, strahlte rund 15 Jahre lang die Kulturmetropole Köln weit über die Grenzen des Rheinlands hinaus. Gisa Funck und Gregor Schwering haben Akteurinnen und Akteure aus der Zeit getroffen. Sie haben Geschichten gesammelt, Zeitdokumente studiert und in der eigenen Erinnerung gegraben. Ihr Buch ist das Porträt einer vergangenen Epoche und der letzten vordigitalen Bohème.

Gisa Alexandra Funck, geboren 1968, lebt in Köln und arbeitet als Literaturkritikerin und Autorin für den Deutschlandfunk und den WDR. Davor war sie lange als Feuilletonistin für verschiedene Zeitungen (FAZ, SZ, Tagespiegel, taz) tätig und Denis Schecks Assistentin bei der ARD-Literatursendung »Druckfrisch«. Ihr Buch »Echt fertig - Tagebuch einer Examenskandidatin« (ebenfalls erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) wurde ein Longseller.

Gisa Alexandra Funck, geboren 1968, lebt in Köln und arbeitet als Literaturkritikerin und Autorin für den Deutschlandfunk und den WDR. Davor war sie lange als Feuilletonistin für verschiedene Zeitungen (FAZ, SZ, Tagespiegel, taz) tätig und Denis Schecks Assistentin bei der ARD-Literatursendung »Druckfrisch«. Ihr Buch »Echt fertig – Tagebuch einer Examenskandidatin« (ebenfalls erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) wurde ein Longseller. Gregor Schwering, geboren 1962, lebt in Köln, besuchte 1980 das dortige Joy Division-Konzert, war Mitte der 1990er-Jahre Leiter der Kölner Autorenwerkstatt und arbeitete als Journalist sowie für diverse Kölner Galerien. Heute ist er als Literatur- und Medienwissenschaftler an der Universität Bochum beschäftigt. 

»You can’t take my Dreams«: Aufschwung zum Meta-Fanzine


Auch die Idee, als Laie seine eigene Musikzeitschrift zu machen, war vor vierzig Jahren keineswegs besonders ungewöhnlich. Ganz im Gegenteil. Je strikter sich die bildungsbürgerliche Elite damals der Punkrevolte verweigerte, desto öfter nahmen deren Fans auch anderswo in der Republik die Berichterstattung einfach selbst in die Hand. Nicht weniger als dreihundert private Fanzines (Kurzform für »Fan-Magazine«) kursierten um 1980 in Westdeutschland, darunter etwa das 1977 gegründete Pionierheft The Ostrich von Franz Bielmeier aus Düsseldorf, für das Szenegrößen wie Gabi Delgado von DAF oder Peter Hein von Fehlfarben schrieben. Hohes Ansehen unter Punkfans genoss außerdem das von Christian Wegner, Michael Reinboth und Thomas Elsner herausgegebene Fanzine Elaste (aus Hannover, ab 1982 aus München), das zum Vorläufer der späteren Lifestyle-Magazine Tempo und Wiener wurde. Das SPEX-Team stand also mit seiner Mission, aus Fan-Perspektive über die angesagte »Musik zur Zeit« zu berichten, keineswegs alleine da. Ja, sogar direkt vor Ort, in Köln, existierte 1980 bereits Fanzine-Konkurrenz in Gestalt der Heftchen Kolonie (initiiert vom späteren SPEX-Autor Dirk Scheuring) und Wellenreiter, das ein Gymnasiast namens Ralf Niemczyk herausgab.

»Ralf Niemczyk: Der Wellenreiter war eine Ein-Mann-Zeitung, die, unterstützt von ein paar Kumpels, aus vielleicht zwanzig fotokopierten, zusammengetackerten DIN-A4-Seiten bestand. Aus heutiger Sicht war das ein Blog auf Papier, ermöglicht durch einen Technologie-Sprung: Fotokopien wurden billiger.

Tatsächlich kam die deutsche Popkritik-Revolte in den frühen Achtzigern erst durch eine technische Neuerung so richtig in Schwung. Denn erst dadurch, dass kurz vorher überall in westdeutschen Großstädten zahlreiche Kopierläden neu eröffnet hatten, wurde es für Hobbyschreiber überhaupt bezahlbar, private Texte in hoher Auflage zu drucken. Unter Punks und New Wavern wurde es daraufhin schick, nicht nur seine eigene Band zu gründen, sondern auch sein eigenes Musikblättchen herauszugeben.

»Ralf Niemczyk: Das hatte man sich von den Engländern und Amis abgeschaut. Support your local scene! Put your city on the map! Auch in anderen Städten gab’s solche selbst gebastelten Heftchen, die Indie-Papst Alfred Hilsberg dann in der Hamburger Musikzeitung Sounds auf seiner Kolumnenseite Neuestes Deutschland neben Kassetten und ähnlichem Grassroots-Kram besprach. Auf diese Weise entstanden untereinander Kontakte. Das war eine frühe, analoge Vernetzung von regionalen Underground-Typen.

Seinen Wellenreiter verkaufte der Oberstufenschüler aus Nippes damals für eine Mark pro Stück in Kölner Szenekneipen und in Herbert Egoldts Plattenladen Rock-O-Rama in der Weidengasse. Die Artikel tippte er mühevoll auf einer mechanischen Schreibmaschine ab und schnitt die Seiten hinterher »erpresserbriefmäßig« auseinander, um sie im Anschluss per Klebestift wieder zu lustig-chaotischen Layouts zusammenzusetzen. Eine aufwendige Gestaltungsweise, die zwar stundenlange Bastelarbeit erforderte, dem Wellenreiter aber ein freches Outfit verlieh, das ihn von anderen Blättchen abhob.

Schaut man sich im Vergleich dazu frühe SPEX-Ausgaben an, springt einem sofort ins Auge, wie sehr das selbst ernannte Szene-Sprachrohr schon rein optisch vom Do-it-yourself-Spirit der Fanzines geprägt war. Die ersten Nummern in existenzialistischem Schwarz-Weiß fielen vor allem durch ihre DIN-A3-Übergröße auf. Im Inneren hantierte Layouter Christoph Pracht dann gern mit dem Eddingstift und griff auf Comicfiguren, Sprechblasen oder Barcodes als Grafikelemente zurück.

Der innovative Charme der ersten Hefte speiste sich aber auch aus deren Inhalt. Strotzten die ersten Nummern doch nur so vor Stilblüten, Rechtschreib- und Kommafehlern. »Power und Dynamik« wurde im Februar 1981 da etwa tapfer als »Pauer und Dünamik« abgedruckt, »tolerant« mit doppeltem »ll« geschrieben; Genitive trennten die frühen SPEX-Schreiber häufig englisch und falsch mit Apostroph-S ab, oder sie versahen das Wort »Widerspruch« auch schon mal mit langem »ie«. In einem Lästertext über den Schlagersänger Udo Jürgens (ja, auch über den wurde zu Anfang berichtet!) war im Oktober 1981 von einem merkwürdig »deliciösen Büffett« die Rede, während der frühe Kolumnist Xao Seffcheque stur das Wort »Diktus« statt »Duktus« benutzte – und noch im Mai 1983 »Philosoph« eiskalt als »Vilosof« buchstabierte.

Ganz im Sinne des 1981 in Berlin ausgerufenen »genialen Dilletantismus« folgten die SPEX-Pioniere der ungestümen Punk-Devise: Fuck auf die Rechtschreibregeln! Hauptsache, die Message stimmt.

Was sich in den frühen Ausgaben dann auch des Öfteren in recht unbeholfenen Formulierungen niederschlug. Etwa dort, wo die ersten Spexler Musikern in Interviews ständig banale Verlegenheitsfragen stellten à la: »Wie fandet ihr’s denn so heute Abend?« – oder »Was wollt ihr mit eurer Musik bewirken?« (Interview mit den Inmates im Oktober 1980). Oder auch dort, wo sie immer wieder aufs Neue das Punk-Sündenthema Nummer eins aufs Tapet brachten: die große »Schwindelfrage«, ob sich eine Undergroundband nun womöglich politisch indiskutabel an die böse Major-Plattenindustrie verkauft hatte – oder eben nicht. Bis ungefähr 1982 war das eine hitzig debattierte Grundsatzfrage innerhalb der jugendlichen Subkultur. Da Punk und Postpunk als Soundtrack des antibürgerlichen Protests galten, wurden kommerzielle Absichten oder Chart-Erfolge solcher Bands von deren Fans gelinde gesagt argwöhnisch betrachtet. Geld mit der heiligen Message der Anarchie zu verdienen oder als Punkrocker gar zu einer zahlungskräftigeren Plattenfirma zu wechseln, hieß für viele Szenegänger, sich ans kapitalistische System zu verkaufen, sprich: Verrat an der rebellischen Sache zu begehen.

Als entscheidender Ur-Sündenfall galt in dieser Erzählung der Wechsel der Londoner Punkrockgruppe The Clash 1977 zum Major-Label CBS, kurz nachdem die Band gerade erst von der Londoner Musikzeitschrift NME (New Musical Express) zu den Kronprinzen der szeneheiligen Sex Pistols ausgerufen worden war. Entsprechend groß war die Entrüstung vieler Clash-Fans. Zum Zeichen ihrer Verachtung zerstörten einige prompt Platten der Band in der Öffentlichkeit. Und als die gefallenen Idole rund um den Gitarristen Joe Strummer am 19. Mai 1980, also drei Jahre später, in der Hamburger Markthalle auftraten, wurden sie vom jugendlichen Publikum mit Pfiffen und Wurfgeschossen als Verräter begrüßt.

 

Immerhin elf lange Songs hielten die Clash-Musiker damals beim Hamburger Auftritt den Attacken stand, bevor sie letztendlich doch von der Bühne fliehen mussten, weil ihre eigenen Fans sie Fäuste schwingend verfolgten. Im Saal hatte sich vorher das Gerücht verbreitet, Strummer habe einen blutend zusammengebrochenen Punkfan mit seiner Gitarre niedergeschlagen. Kurz danach gab’s im Publikum kein Halten mehr, und es kam zu einer Massenschlägerei, bis die Hamburger Polizei einschritt und unsinnigerweise Clash-Frontmann Strummer als Urheber des Krawalls festnahm.

»Die Clash waren da – es hat gekracht«, bilanzierte Diedrich Diederichsen, damals noch Sounds-Redakteur, das Skandalkonzert in der Markthalle 1980 nüchtern, das als deutscher Vergeltungsschlag für den Unschuldsverlust der Punk-Bewegung in die Musikhistorie einging.

Der Ausverkauf der Revolte hatte also schon lange eingesetzt, bevor die SPEX-Rebellen überhaupt auf der Bildfläche erschienen. Nichtsdestoweniger fühlte sich die Redaktion zunächst weiterhin bemüßigt, ihren Musikidolen regelmäßig (mal mehr, mal weniger direkt) auf den systemkritischen Gewissenszahn zu fühlen. Eine pseudoreligiöse Glaubensinquisition, die in den frühen SPEX-Artikeln dann natürlich dauernd ins Leere lief. Denn was kann bei Glaubensfragen schon anderes herauskommen als Mutmaßungen oder Binsenweisheiten? Von daher fiel auch das Resümee von Gerald Hündgen zum Hamburger Nachfolgekonzert von The Clash im Mai 1981 denkbar banal aus. »Ich wüsste nicht, warum ich mich von Clash verraten fühlen sollte«, urteilte er am Schluss seiner Reportage: »Sie sind immer noch Menschen […]. Leute, die genauso verwirrt sind wie wir (fast) alle heute.«

Tja, wer hätte es gedacht? Selbst die berühmtesten Szeneverräter The Clash waren also letztlich nur Menschen. Ein Fazit, das in seiner Kalenderweisheits-Gültigkeit bezeichnenderweise dann gleich mehrfach in den frühen SPEX-Texten Verwendung fand – und zur Charakterisierung so unterschiedlicher Musiker herangezogen wurde wie den US-amerikanischen Avantgarde-Rockern von Pere Ubu oder den britischen Wohlklangbrüdern von Haircut 100, über die Ralf Berend 1982 urteilte: »Popper sind auch Menschen.« Bei diesen geradezu hilflos anmutenden Bekenntnissen merkt man deutlich, wie mühevoll sich die SPEX-Autodidakten das Artikelschreiben...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Schlagworte Bands • Diedrich Diederichsen • Dietmar Dath • Joy Division • Kölner Kulturszene • Kulturmetropole • Kulturszene • Kunst • Magazin für Popkultur • Mühlheimer Freiheit • Musik • Musikjounalismus • Nachtleben • Popkultur • Rückblick • Spex • Underground • Verschwende deine Jugend • wir waren hochgemute nichts könner
ISBN-10 3-462-31863-2 / 3462318632
ISBN-13 978-3-462-31863-0 / 9783462318630
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