Zu erschöpft, um wütend zu sein (eBook)
Die Burn-out-Expertin Helen Heinemann hat in ihren Seminaren in über 50.000 Stunden die Lebens- und Alltagsgeschichten von Tausenden Müttern kennengelernt, die sich ihr und den anderen Frauen oft unter Tränen anvertrauen. In ihrem Buch zeigt sie konkrete Wege aus der individuellen Erschöpfung und welche Veränderungen zum Wohle aller dringend notwendig sind: vom Umgang mit Familienleben & Beruf, Zeit & Partnerschaft, Wohnraum & Nachhaltigkeit bis hin zu betrieblichen, finanzpolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Kleine Schritte mit großer Wirkung für mehr Erholung, Selbstbestimmung und Lebensqualität!
»Verlass dich nicht auf gesellschaftliche Hilfssysteme und politische Entscheidungen, damit es dir besser geht. Nimm dein gutes Leben selbst in die Hand! Jetzt!«
Helen Heinemann, Jahrgang 1955. Die Pädagogin mit einer psychotherapeutischen Ausbildung arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Gesundheitsförderung und gründete 2005 das Institut für Burnout-Prävention in Hamburg. Sie ist eine inzwischen vielfach gefragte Expertin zum Thema Stress, Erschöpfung und Burnout. Ihr Buch 'Warum Burnout nicht vom Job kommt' wurde zum Bestseller und liegt inzwischen in der 5. Auflage vor.
Mütter am Limit –
Meine Wut und mein Entsetzen
Ich bin wütend. Ich bin wütend, weil für Mütter in den letzten fünfzig Jahren nichts besser geworden ist – auch wenn es oft so erzählt wird. Ich bin wütend, weil die Lebensbedingungen von Frauen und Müttern in allen Lebensbereichen nicht nur nicht besser, sondern tatsächlich schlechter geworden sind. Seit sechzehn Jahren biete ich in Kooperation mit Krankenkassen fünftägige Intensivseminare für erschöpfte Menschen an. Ihr Ziel ist es, die alltäglichen und letztendlich doch ganz individuellen Energieräuber ausfindig zu machen und gemeinsam passgenaue Lösungen für eine gesündere Work-Life-Balance zu entwickeln. Über die Jahre wanderten allein in diesem Krankenkassenkurs mehr als 1200 berufstätige Mütter durch die Gruppen und vertrauten mir und den anderen Frauen ihre Lebens- und Alltagsgeschichten an. Oft unter Tränen. Vierzig Stunden und mehr haben wir zusammengesessen, über ihr Leben gesprochen und zugehört. 1200 Mütter. Fast 50 000 Stunden deutsches Alltagselend gut gebildeter, kluger Mittelschichtmütter. Es ist kaum auszuhalten!
Ich bin so wütend, weil bisher kaum etwas von dem, was sich in meiner Jugend als hoffnungsvolle Entwicklung für Frauen und Mütter abgezeichnet hat, eingetreten ist. Im Gegenteil: Den Müttern geht es heutzutage oftmals seelisch und materiell schlechter als zu der Zeit, als ich mir meine vier Kinder gewünscht und bekommen habe. Ich selbst hatte Glück: Ich wurde in den 1970er-Jahren erwachsen. Die 1968er gaben die Richtung vor: Wir nahmen kein Blatt vor den Mund. Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten wurden schonungslos benannt. Ganz gleich, ob in der Schule, im Studium oder im Freundeskreis. Es war die Zeit der sexuellen Befreiung. Es gab schon die Pille und noch kein Aids. Es galt das Lustprinzip, passend zur Hippiebewegung. Wir glaubten an das Motto »Make love, not war« oder auch »Ich bin okay, du bist okay«. Wir traten ein für Toleranz und Umweltschutz; Demonstrationen am Brokdorfer Bauzaun, Wasserwerfer mit Tränengas, Sitzblockaden – all das gehörte zu meinem Alltag. Ich lebte in einer Frauen-WG. Wir lernten uns in unserer Weiblichkeit kennen, tauschten uns über Sex und Regelschmerzen aus und experimentierten mit Menstruationsschwämmchen. Mit meinem Rucksack zog ich allein durch Europa. Schlief am Strand. Machte mein Ding. Selbstbestimmt.
Aber ich wollte auch eine Familie, viele Kinder, einen großen Garten, in dem sie spielen und toben konnten. Bullerbü eben. Ich traf den richtigen Mann zur rechten Zeit. Vier Kinder war die Verabredung, vierzehn Tage nach dem ersten Kuss. Die wesentlichen Dinge besprachen wir bereits vor der ersten Schwangerschaft. Hausgeburten und Stützräder fürs Radfahrenlernen unserer Kinder haben wir heiß und lang diskutiert. Rascher zum Ziel kamen wir mit der Arbeitsteilung in den nächsten Jahren. Ich wollte als Pädagogin gerne viel Zeit mit unseren Kindern verbringen. Familienarbeit sollte in den ersten Jahren also schwerpunktmäßig mein Job sein. Er übernahm die Erwerbsarbeit. Klar, dass bei dieser Arbeitsteilung sein Verdienst, und später auch die Rente, fraglos und vollständig auf unser gemeinsames Konto ging. Das war der Deal, der so lange gelten sollte, bis es einem von uns, oder auch beiden, nicht mehr passte. Klar entsprach diese Entscheidung der traditionellen Rollenverteilung. Doch sie lief nicht fraglos ab, sondern war Ausdruck meiner und unserer freien Entscheidung. Weder der Staat noch meine feministischen Freundinnen hatten mir in Bezug auf mein persönliches Lebensglück Vorgaben zu machen.
Man könnte sagen: Glück gehabt. Oder auch: Alles richtig gemacht. Doch auch mein Freigeist und die gute Planung schützten mich nicht vor den Problemen, die kamen und mit denen ich nicht gerechnet hatte: Die Kinder ließen sich länger bitten als erwartet. Ich wurde nicht sofort schwanger, und schon stellten sich erste Zweifel ein, ob ich überhaupt fähig wäre, Kinder zu bekommen. Zwei Fehlgeburten kamen hinzu. Mein Selbstwert sank, bis sich das erste Kind anmeldete und blieb.
Ich war mit Leidenschaft Mutter. Und dennoch vermisste ich den Austausch mit anderen Erwachsenen, intellektuelle Herausforderungen und Weiterentwicklungen. Die Anforderungen der Familienarbeit ließen mir dafür fast keinen Raum mehr. Mein Mann dagegen konnte seine Zeit mit Erwachsenen verbringen. Er konnte interessante Gespräche führen und auch die Themen in einem gewissen Rahmen selbst bestimmen. Es gab Pausen, in denen das Team gemeinsam Essen ging, und manche kreative Idee fand dort ihren Anfang. Ich erwischte mich dabei, dass ich neidisch auf ihn und sein Leben draußen in der Welt war. Neidisch, obwohl ich genau das tat, was ich mir immer gewünscht hatte. Dennoch war ich zuversichtlich, dass meine Zeit auch im Beruf kommen würde. Meine Mutter war mir ein gutes Vorbild. Nach intensiver Familienarbeit mit drei kleinen, durchaus herausfordernden Kindern ohne Unterstützung durch staatliche Betreuungsangebote startete sie zeitgleich mit unserem Übergang in die weiterführenden Schulen durch und ließ meinen Brüdern und mir Raum für ein wildes, freies Leben, an das wir uns bis heute gern erinnern. Wir übten uns im Kochen und Backen und genossen gemeinsam die mehr oder weniger geglückten Marmorkuchen. Sie selbst machte sich als Vertreterin für ausgewählt schöne Stücke im Kunstgewerbe selbstständig, machte den Führerschein, kleidete sich schick und fuhr täglich davon, um ihr Geschäft voranzutreiben. Sie wurde sehr erfolgreich und verdiente bald mehr als mein Vater. Ich vertraute darauf, dass mir das auch gelingen würde. Aber: Die Zeit bis dahin war lang. Ich hatte vier Kinder, geboren im Abstand von je drei Jahren ...
Wie habe ich diese Durststrecke meiner persönlichen und beruflichen Entwicklung überbrückt? Ich hatte Glück – und eine große Wissbegierde. Intensives Lesen und mich Weiterbilden war schon immer mein Ding. Dazu kamen Freundinnen, die oftmals mit ihren Kindern nicht nur Tage, sondern auch Nächte bei uns verbrachten. Diese Stunden waren Kraftquellen und Inspiration für mich. Irgendwann fing ich an, mein Wissen und meine Fähigkeiten in Kursen an werdende Eltern weiterzugeben und sie in Krisenzeiten zu beraten. Mein vorangegangenes Studium war die Grundlage für eine professionelle Arbeit. Hier fanden meine Fähigkeiten, die weit über das Familienleben hinausreichten, einen vorläufigen Platz, der sich gut mit unserem Familienleben vereinbaren ließ. Bald schon wurde ich Ausbilderin für Frauen (und auch für einen Mann), die ebenfalls gern in die Familienbegleitung einsteigen wollten. Nun war ich ganze Wochenenden auf Achse, und mein Mann lernte die Familienarbeit von einer ganz anderen Seite kennen.
Dennoch reichte unser Einkommen vorn und hinten nicht. Dabei verdiente mein Mann mit seiner Führungsposition im sozialen Bereich recht gut. Und auch meine Honorare konnten sich sehen lassen. Aber das Geld war für unsere sechsköpfige Familie phasenweise so knapp, dass es zu Kontosperrungen kam. Oftmals alberten wir herum: Was wäre, wenn wir unsere Kinder in öffentliche Erziehung geben, »da weitere Verwahrlosung droht« und uns als Pädagogen für unsere eigenen Kinder als Betreuer anstellen lassen würden? Der Gewinn wäre enorm: Wir bekämen nicht nur zwei Gehälter mit der entsprechenden Rentenversicherung, sondern auch die Kosten für Haus und Garten erstattet, Haushaltshilfen und Vertretungskräfte für freie Zeiten und einen echten Urlaub zur Erholung. Selbstverständlich gäbe es auch jederzeit Beratungen, wenn es bei uns oder mit den Kindern mal kriselt, und nicht zuletzt bekämen wir als Profis sogar noch die öffentliche Anerkennung für unseren gesellschaftlichen Einsatz.
Um den Geldsorgen ein Ende zu bereiten, nahm ich eine Dreißig-Stunden-Stelle als Koordinatorin für die Vernetzung von sozialpsychiatrischen Einrichtungen an. Die Tätigkeit entsprach mir. Ich hatte nette Kolleginnen und Kollegen und konnte mein Potenzial entfalten. Aber: Ich wurde nach Tarif bezahlt. Da zählt vor allem die Dauer der Betriebszugehörigkeit mit den entsprechenden Aufstiegsetappen. Die harte Lehre, die zusätzlich zu meinem Studium durch das Leben mit unseren Kindern hinter mir lag, zählte in keiner Weise. Trotz meiner pädagogischen Erfahrungen war es eine immense kognitiv-emotionale Herausforderung, einen Menschen, der sich noch nicht verbal äußern kann, lesen zu lernen, angemessen auf seine Bedürfnisse zu reagieren, seine Gesundheit zu sichern, Entwicklungen zu ermöglichen und passgenaue Wachstumsreize zu setzen. Es interessierte schlicht niemanden, was »Mutti« so gemacht hatte. Und es zählte auch in keiner Weise meine Meisterschaft in Geduld, Organisation, planerischem Handeln, Streitschlichtung und Mediation, die durch die Anwesenheit mehrerer Kinder tagtäglich erforderlich war. Niemand stellte mir ein diesbezügliches Diplom aus, das ich bei meinen Bewerbungen vorweisen konnte. Stattdessen musste ich beschämt die »Lücken« in meinem Lebenslauf erklären. Und ich durfte dankbar sein, dass ich dennoch – wenn auch schlecht bezahlt – von meinem Arbeitgeber eingestellt wurde.
Die mangelnde Honorierung meines Einsatzes frustrierte mich. Doch ich hielt noch eine Weile durch, der Familie zuliebe. Aber langfristig wollte ich mehr, und so suchte ich mir eine Karriereberatung. Mir wurde klar, dass mir meine Herkunftsfamilie einiges mitgegeben hatte, was ich jetzt nutzen konnte. Ich stamme aus einer Familie, deren Motto über Generationen hinweg lautete: »Egal, womit du dein Geld verdienst: Hauptsache selbstständig.« Außerdem hatte ich einen Mann geheiratet, der mich in meiner beruflichen und auch...
Erscheint lt. Verlag | 25.10.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | 2023 • Beziehung • Beziehungsratgeber • bindung ohne burn-out • Burn-out bei Frauen • Burnout Mutter • Care-Arbeit • Coaching • Corona-Eltern • Das Geheimnis ausgeglichener Mütter • Depression • Depressionen überwinden • eBooks • Ehegattensplitting • Einsamkeit • Eltern • Elternzeit • Entspannung • Equal Care • Equal Pay • Erschöpfung • Familienpolitik • Familienzeit • Gefühle • Gelassenheit • Gender care gap • Gesundheit • Gewohnheiten ändern • Hilfssysteme • Mental Load • mutterfalle • Muttermythos • Muttersein • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Ratgeber • Schlaf • selbstbewusstsein stärken • Selbstreflexion • Selbstvertrauen • Sorgearbeit • Soziologie • Stress • weibliche Solidarität • Wut |
ISBN-10 | 3-641-30853-4 / 3641308534 |
ISBN-13 | 978-3-641-30853-7 / 9783641308537 |
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