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Wir sind die Türken von morgen (eBook)

Neue Welle, neues Deutschland
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
254 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12141-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir sind die Türken von morgen -  Ulrich Gutmair
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Die Neue Deutsche Welle war nicht (so) deutsch. Antirassismus, Feminismus, Sex- und Geschlechterfragen - um 1980 erfanden ein paar junge Künstler:innen Deutschland radikal neu. Ulrich Gutmair geht zurück zu den Anfängen unserer Gegenwart und erzählt eine neue deutsche Geschichte, in der die Rolle der Einwanderer angemessen gewürdigt wird. Grelle Synthiesounds; Röhrenjeans mit Loch; Coolness und Ironie; T-Shirts mit selbstgemachten Slogans drauf; deutsche Texte, in denen das Wort geil vorkommt. So erinnert man die frühen Achtziger. Doch die Bundesrepublik ist da noch ein Land von gestern, nach den 68ern beginnt gar eine neue Phase der Deutschtümelei. Intellektuelle von rechts bis links bringen den Begriff der Identität ins Spiel, woraus schnell der Ruf nach nationaler Identität wird. Der queere Spanier Gabi Delgado-López, bekannt als Frontmann von DAF, und andere junge Künstler:innen wie der sizilianische Gastarbeiter Angelo Galizia stellen sich radikal dagegen. Ihre Antwort auf deutsche Überfremdungsangst: Wir sind die Türken von morgen. Ulrich Gutmair zeigt die Jugend um 1980 und die Welt, in die sie hineinwächst, in einem neuen Licht. Ohne die Korrektur der Popkultur wäre das multi-ethnische 'Schland von heute undenkbar.

Ulrich Gutmair wurde 1968 in Dillingen an der Donau geboren. Er schreibt seit gut dreißig Jahren für Tageszeitungen und Magazine über Pop und Geschichte. Seit 2007 ist er Kulturredakteur der taz. Zuletzt erschien »Die ersten Tage von Berlin« (2013).

Ulrich Gutmair wurde 1968 in Dillingen an der Donau geboren. Er schreibt seit gut dreißig Jahren für Tageszeitungen und Magazine über Pop und Geschichte. Seit 2007 ist er Kulturredakteur der taz. Zuletzt erschien »Die ersten Tage von Berlin« (2013).

Kebabträume in der Mauerstadt


Im Januar des Jahres 1978 geben die Sex Pistols ihr letztes Konzert in San Francisco. Im Februar hebt die Volksrepublik China das Verbot der Schriften von Aristoteles, William Shakespeare und Charles Dickens auf. Die Vereinigten Staaten von Amerika schicken den ersten Satelliten ihres neuen globalen Positionsbestimmungssystems GPS in die Erdumlaufbahn. Im April entscheidet US-Präsident Jimmy Carter, den Bau der Neutronenbombe aufzuschieben; die Neutronenbombe ist eine Waffe, die Menschen vernichtet, aber Infrastrukturen intakt lässt, weswegen sie vielen Zeitgenossen als obszöner Höhepunkt des Wettrüstens im Kalten Krieg erscheint. Die erste Folge von Dallas wird in den Vereinigten Staaten ausgestrahlt, die Ära der Soap Operas hat begonnen. Ihr erster Star ist ein verschlagener, aber liebenswerter texanischer Öl-Baron namens J. R. Ewing. Er verkörpert den neoliberalen Zeitgeist. Am 25. Juli wird in Oldham, Greater Manchester, ein Mädchen namens Louise Brown geboren. Louise ist der erste in vitro gezeugte Mensch. Die deutschen Medien bezeichnen sie als »Retortenbaby«. Am Tag der Geburt von Retortenbaby Louise sprengt der niedersächsische Verfassungsschutz ein Loch in die Außenmauer des Hochsicherheitsgefängnisses in Celle. Das »Celler Loch« soll einen Anschlag der RAF vortäuschen. Echte baskische Terroristen verüben einen Anschlag auf Schloss Versailles. Einige Öltanker gehen auf Grund. Das iranische Militär schießt auf Demonstranten, das wird das Regime des Schah aber nicht retten. Nach der Revolution wird ein islamistisches Regime einen »Gottesstaat« errichten. Das japanische Unternehmen Taito bringt derweil das Videospiel Space Invaders auf den Markt.

Es sind moderne Zeiten, die es zu verstehen und zu umarmen gilt, wenn man ein modernes Mädchen oder ein gewitzter Junge ist. Der einfachste Weg, das zu tun, ist eine Band oder eine Zeitschrift zu gründen und sich die Haare abzuschneiden.

Die meteorologischen Verhältnisse passen gut zum nahen Ende eines depressiven Jahrzehnts. Der Sommer des Jahres 1978 ist außergewöhnlich kalt. Am 11. August macht sich die Düsseldorfer Punkband Mittagspause auf den Weg nach West-Berlin. Im Auto sitzen George Nicolaidis, der den Trip als Bandfotograf dokumentiert, Sänger Peter Hein, Gitarrist Franz Bielmeier, Schlagzeuger Markus Oehlen und Gabi Delgado-López. Gabi spielt bei der Band Diktafon. Das ist ein kleines analoges Gerät mit Mikrofon, in dem eine Mini-Kassette steckt. Damit nimmt Gabi Klänge auf, lässt jemanden etwas reinsprechen oder diktiert sich selbst auf Band. Wenn Mittagspause auftreten, gibt Gabi das Aufgenommene mit seinem Gerät wieder. Bei manchen Liedern singt er mit. Vor allem aber tanzt er. Er ist ein guter Tänzer, das hat er in der Disco gelernt. Seit er 15 ist, geht er im Ruhrpott in die Discos.

Mittagspause fahren nach West-Berlin, weil sie anlässlich der Eröffnung des SO36 in Kreuzberg beim ersten Punkfestival Deutschlands spielen sollen. Diese Reise nach West-Berlin wird Gabi wenig später zu einem Lied inspirieren, das zeigt, wie Punk, dieser Import aus New York und London, in Deutschland klingen kann. Es wird ein Szene-Hit werden, vielleicht der berühmteste deutsche Punksong überhaupt. In neun Zeilen wird Gabi den Gemütszustand eines Lands auf den Punkt bringen. Aber das ahnt in diesem Moment noch keiner der fünf jungen Männer.

Aus Wuppertal kommend hat Gabi seine Düsseldorfer Freunde in einem alten Alfa oder Fiat abgeholt, darüber streiten sich die Zeitzeugen. An der Raststätte Helmstedt wird ein letztes Mal vor der deutsch-deutschen Grenze Halt gemacht. Dort entsteht ein Schwarzweißfoto, das Schlagzeuger Markus Oehlen aufnimmt. Die jungen Männer tragen allesamt schwarze Kleidung, Gabi eine runde John-Lennon-Brille. Die Haare von Sänger Peter Hein ragen wild verstrubbelt in die Luft. Noch radikaler ist der Haarschnitt von Gitarrist Franz Bielmeier, der wie ein expressionistischer Künstler aus den 1920ern aussieht. An den Schläfen verläuft sein Haaransatz in schrägem Winkel und in einer geraden Linie von den Ohren hoch zur Stirn. Auch der Pony scheint mit dem Lineal gezogen worden zu sein. Bandfotograf George Nicolaidis, der Jüngste in der Gang, trägt eine unauffällig-moderate Kurzhaarfrisur. George ist erst 14. Den Eltern hat er kurz vor seiner Abreise einen Zettel zurückgelassen: »Bin für ein paar Tage mit Band Fotos machen und in West-Berlin. Werde vor Ende der Sommerferien zurück sein.« Hätte er vorher gefragt, hätten sie ihn womöglich nicht fahren lassen.

Die Punkkarriere von George Nicolaidis begann ein Jahr zuvor, als er am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Düsseldorf die Mitglieder der Punkband Male kennenlernte. Im März 1977 gaben Male vor mehreren Hundert Zuhörern ihr erstes Konzert in der Aula ihrer Schule. Sie verstören ihr Publikum mit ihrem harten, schnellen Sound. Das reicht ihnen aber nicht. Sie wollen ein Zeichen setzen, das unübersehbar ist. Am Ende des Konzerts verbrennen sie eine Deutschlandfahne. Der Parkettboden der Aula beginnt ebenfalls zu brennen. »Der Hausmeister kam angerannt mit zwei Wassereimern und hat versucht zu löschen. Es gab einen Riesenaufruhr. Die Leute in der Schulaula, da waren glaub ich tausend Leute drin, sind ausgerastet,« erinnert sich Jürgen Engler, der bei Male Gitarre spielt und singt.

Der einzige Punk im Publikum des ersten Male-Konzerts hieß Peter Hein, der bald ebenfalls als Sänger einer Punkband von sich reden machen würde. »Er war fünf Meter vor der Bühne gestanden mit Sonnenbrille und Stachelhärchen. Er stach raus aus der Menge. Nach der Show kam er her und hat ein bisschen mit uns geredet. Wir wussten sofort, das ist ein Verbündeter. Er war einer der Ersten, die verstanden haben, was da passiert«, sagt Jürgen Engler. »Das wurde so eine kleine Bewegung, auch in der Schule.« Einer der neuen Punks heißt George Nicolaidis. Ein Jahr später werden George Nicolaidis und Peter Hein von Gabi Delgado-López nach West-Berlin chauffiert. Dort treffen sie ihre Kollegen von Male, die ebenfalls auf Deutschlands erstem Punkfestival spielen.

Auch Gabi Delgado-López ist erst seit Kurzem Punk. Er zieht oft mit Freunden durch die Düsseldorfer Altstadt. Bei einem ihrer Besuche kommen sie am Ratinger Hof vorbei, der seit 1974 von Carmen Knoebel und Ingrid Kohlhöfer betrieben wird. Nachdem die beiden Frauen die Kneipe übernommen haben, verändern sie anfangs nur Details. Die Teppiche auf den Tischen, Zeugnisse des herrschenden Hippie-Orientalismus, werden entfernt. Carmens Mann, der Künstler Imi Knoebel, streicht die Tische im Geist der Avantgarde in Primärfarben, darüber werden Glasscheiben gelegt. Herr Kohlhöfer wiederum streicht die Decke blau und malt Sterne drauf. Das ist nicht mehr hippiesk, aber auch noch nicht Punk. Erst im Frühjahr 1977 wird richtig renoviert. »Wir haben uns zuhause darüber aufgeregt, dass es immer noch so spießig aussah im Ratinger Hof«, sagt Carmen Knoebel. »Danach passte die Musik auch besser.« Doch als die Kneipe wieder eröffnet wird, bleiben die Gäste erst mal aus.

Denn Carmen Knoebel hat die Idee, farbige Neonröhren an die Decke zu hängen und die Wände weiß zu streichen. Wer den Ratinger Hof betritt, kann sich nicht verstecken, ist dem kalten Licht von Leuchtstoffröhren ausgesetzt, die jeden Winkel und jede Ecke ausleuchten und jedes Gesicht, jede Frisur und jeden Look der öffentlichen Begutachtung anheimstellen. In der Düsseldorfer Altstadt hat das moderne Leben Einzug gehalten und die Freaks, die vorher die Kneipe frequentiert haben, verspüren wenig Lust, sich auf diese grell erleuchtete Bühne zu stellen. Stattdessen lungern junge Punks am Flipper und am Tresen herum. Der Ratinger Hof hat schon ab zehn Uhr morgens geöffnet, meint sich Peter Hein zu erinnern, und irgendwer von seiner Gang ist immer da. Die Punks konsumieren wenig, und wenn sie es tun, dann trinken sie Milch, Fruchtsaft oder Kaffee. Alkohol macht bräsig, stumpf und langsam. Sie aber wollen alert, wach und schnell sein. Peter Hein ist Auszubildender bei Rank Xerox und checkt unter der Woche oft schon um vier Uhr nachmittags, direkt nach der Arbeit, im Hof ein. Am Samstagmorgen ist er wieder da. Abends gesellen sich Künstlerinnen und Künstler von der benachbarten Kunstakademie dazu.

Der Ratinger Hof ist zur Düsseldorfer Punkzentrale geworden, und sein Vorratskeller wird bald zum Proberaum von Mittagspause und anderen Bands. Die weißen Wände des Hofs laden die jungen Punks dazu ein, mit Filzstiften ihre Slogans und ihre Lieblingsbands draufzuschreiben. So was hatte man zuvor höchstens auf Toilettenwänden gemacht: Nur Narrenhände beschmieren Tisch und Wände, wie das deutsche Sprichwort sagt. ...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte 1978 • 1980 • 80er • 80er Jahre • 80er-Jahre • Achtziger • Anette Humpe • Anwerbeabkommen • Asylanten • Cem Kaya • DAF • Der Kommissar • Deutsch-Amerikanische Freundschaft • Feminismus • Gastarbeiter • Gender • German Angst • Gleichberechtigung • Grauzone • Habermas • Ich steh auf Berlin • Ideal • Identität • Kollektividentität • Kottbusser Tor • Kreuzberg • Nationale Identität • Ökologie • Rassismus • Sarrazin • The Wirtschaftswunder • Thilo Sarrazin • Türkische Gemeinde • Überfremdungsangst • Wir stehn auf Berlin • Wirtschaftswunder
ISBN-10 3-608-12141-2 / 3608121412
ISBN-13 978-3-608-12141-4 / 9783608121414
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