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Diskursive Kämpfe (eBook)

Agonalität im politischen Sprachgebrauch am Beispiel des französischen Präsidentschaftswahlkampfs 2017
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
702 Seiten
Walter de Gruyter GmbH & Co.KG (Verlag)
978-3-11-098176-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Diskursive Kämpfe -  Thea Göhring
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Ausgehend vom Konzept der Agonalität als einer breit verstandenen kompetitiven Opposition zwischen zwei oder mehr konkurrierenden Perspektivierungen der Wirklichkeit beleuchtet die Arbeit die Aushandlung konkurrierender Ansprüche auf Gültigkeit und Wahrheit von Aussagen im Diskurs. Im Zentrum der Arbeit steht der eigens geprägte Begriff der «diskursiven Kämpfe», der diese agonalen Aushandlungsprozesse beschreibt und sich mittels eines um Perspektiven der Pragmalinguistik sowie der Kognitiven Linguistik erweiterten diskursanalytischen Ansatzes erfassen lässt. Empirisch werden der Nutzen des Konzepts sowie dessen vielfältige Manifestationen am Beispiel des vielfach als revolutionär beschriebenen französischen Präsidentschaftswahlkampfs 2017 nachgewiesen.

Die Arbeit bietet damit nicht nur einen theorie- und ideengeschichtlich fundierten Beitrag zur Explikation eines linguistischen Agonalitätsbegriffs, sondern schafft durch die Entwicklung eines geeigneten theoretischen wie methodischen Rahmens für die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Agonalität sowie die exemplarische empirische Anwendung desselben auf den politischen Sprachgebrauch eine neue Grundlage für weitere diskursanalytische und an Agonalität interessierte Arbeiten.



Thea Göhring, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Deutschland.

1 Einleitung


Wettbewerb, Wettkampf, Wettstreit, Wetteifer und Konkurrenz spielen in zahlreichen Lebensbereichen über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg eine Rolle. Dies gilt zum Beispiel für den Sport. Sportliche Wettkampfveranstaltungen, in denen die sportlichen Leistungen der Beteiligten aneinander oder anhand eines festgelegten Maßstabs gemessen werden, prägen die Welt des Sports und den Alltag aller Berufs- und auch nicht weniger Amateursportler.1 Vergleichbare Veranstaltungen gibt es in Musik und Kunst. Vom Musikwettbewerb und Malwettbewerb über den Dichterwettstreit bis hin zum Poetry-Slam oder Battle-Rap sind die Darsteller dazu aufgerufen, ihr Können unter Beweis zu stellen und sich an anderen zu messen. Neben institutionalisierten Wettkampfveranstaltungen wie diesen – die Reihe ließe sich lange fortsetzen, man denke nur an Jugend musiziert, Jugend komponiert, Jugend malt, Jugend tanzt, Jugend debattiert, Jugend forscht, Jugend hilft etc. – sind zahlreiche Lebensbereiche auf einer höheren Abstraktionsebene von einem kompetitiven Moment geprägt. Dies gilt zum Beispiel für die Wirtschaft. Der wirtschaftliche Wettbewerb steuert die Verteilung von Gütern und ist Motor für Fortschritt, die Entwicklung neuer Produkte und das Streben nach möglichst kostengünstiger Produktion. Der Markt wird durch die Konkurrenz zwischen Angebot und Nachfrage bestimmt; der Wettbewerb ist damit das wichtigste Gestaltungselement der Marktwirtschaft. Auch die Wissenschaft lebt, neben Kooperation, von Konkurrenz. Das Einwerben von Drittmitteln, die Platzierung in Top-Journals, der Kampf um einen Spitzenplatz im Ranking – all das prägt, neben der Zusammenarbeit, die für das Generieren wissenschaftlicher Erkenntnis mindestens ebenso essentiell ist, den wissenschaftlichen Alltag. Auch das alltägliche Leben ist immer wieder von Konkurrenz geprägt. Im privaten oder beruflichen Umfeld, zwischen Familienmitgliedern, Freunden oder Kollegen kann es zu Rivalitäten und damit verbundenen Auseinandersetzungen kommen. Nicht zuletzt ist auch die Politik in besonderem Maße von Wettbewerb und Konkurrenz geprägt. Politische Akteure kämpfen um die Durchsetzung eigener Positionen und Interessen, sie konkurrieren um Posten, um Wählerstimmen, um die Macht. Für demokratische Systeme, für die Meinungsvielfalt und ein Mehrparteiensystem unerlässlich sind, ist der Wettbewerb sogar unabdingbare Voraussetzung und damit geradezu konstitutiv. Das, was die Konzepte der Konkurrenz, des Wettbewerbs, Wettkampfs, Wettstreits oder Wetteifers im Kern verbindet, wird in der Sprachwissenschaft als Agonalität bezeichnet.

Agonalität kommt von gr. ἀγών ‘Versammlung(splatz), (Wett-)Kampf(platz)’ (Binder 2006). Der Begriff hat seinen chronologischen und konzeptionellen Ursprung im griechischen Agon, sportlichen oder künstlerischen Wettkampfveranstaltungen im antiken Griechenland, zu deren berühmtesten die bis heute bestehende Tradition der Olympischen Spiele zählt. Über Friedrich Nietzsche als Interpret der Antike findet der Begriff des Agonalen Ende des 19. Jahrhunderts Eingang in die philosophisch-wissenschaftliche Diskussion und entwickelt sich im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts zu einem wichtigen kulturtheoretischen und sozio-politischen Terminus. Im Anschluss an den Theoretiker der Postmoderne Jean-François Lyotard und dessen Idee einer agonistique générale kann der Anspruch auf linguistische Bestimmbarkeit von Agonalität erhoben werden. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht lässt sich Agonalität dabei vorläufig bestimmen als «Wettkampf um Geltungsansprüche» (Felder 2013, 13), als «Beschreibung der kontroversen Aushandlung von Wissen mit sprachlichen Mitteln» (Mattfeldt 2020a).

1.1 Gegenstand und Zielsetzung


Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Agonalität im politischen Sprachgebrauch am Beispiel des französischen Präsidentschaftswahlkampfs 2017. Agonalität kann dabei als sprachlicher Ausdruck eines allgemeinen Phänomens aufgefasst werden, dem Prinzip des Wettbewerbs, Wettkampfs, Wettstreits, Wetteifers und der Konkurrenz, das sowohl Individuen als auch Gesellschaften weltweit prägt und, wie oben deutlich geworden ist, in zahlreichen Lebensbereichen eine Rolle spielt. Das Agonale kann als Anthropologikum gelten, als eine «Grundfigur menschlicher Natur» (Nullmeier 2000, 166).2 Damit kann die Erforschung von Agonalität als sprachlichem Ausdruck des Agonalen einen Beitrag zum Verständnis eines grundlegenden Wesenszugs des Menschen und dessen Manifestation in der Sprache als dem wichtigsten Medium menschlicher Kommunikation leisten.

Zwar prägt Agonalität, wie oben gezeigt, den Sprachgebrauch in zahlreichen Lebensbereichen, doch gilt dies in besonderem Maße für die Politik. Wettbewerb und Konkurrenz spielen in der Politik eine zentrale Rolle. Für demokratische Systeme ist der politische Wettbewerb geradezu konstitutiv: Die Demokratie lebt vom Parteiensystem und damit von der Vielfalt unterschiedlicher Meinungen und Positionen, die im Diskurs ausgehandelt werden. Da politisches Handeln zu einem wesentlichen Teil durch sprachliches Handeln erfolgt, wird der politische Wettbewerb vor allem mit und durch Sprache ausgetragen. Der politische Sprachgebrauch ist daher in besonderem Maße von Agonalität geprägt, wobei der Grad der Agonalität je nach kommunikativem Kontext variieren kann. Als hochgradig agonal kann der Wahlkampf gelten, bei dem es neben dem Werben für die eigene Position immer auch darum geht, sich von anderen abzugrenzen, Divergenzen offenzulegen und sich gegenüber anderen durchzusetzen. Die Konfrontation mag dabei zuweilen über das erforderliche Maß hinausgehen und zur besseren Unterhaltung des Publikums inszeniert werden, ein Phänomen, das mit Holly (1993, 192) als «Confrontainment» beschrieben werden kann. Nichtsdestotrotz ist die Tatsache, dass Wahlkampfkommunikation durch Agonalität charakterisiert ist, legitim – um nicht zu sagen, eine Notwendigkeit –, da der außersprachliche Kontext eine Situation der Konkurrenz vorgibt und die politischen Akteure damit zum Wettkampf geradezu aufgerufen sind. Darauf, dass die Politik insgesamt und der Wahlkampf im Speziellen als hochgradig agonale Kontexte wahrgenommen und konzeptualisiert werden, deuten nicht zuletzt Ausdrücke wie dt. politischer Kampf, Wahlkampf, Rennen um die Präsidentschaft, frz. bataille politique, guerre politique, bataille électorale, course à l’Élysée oder auch engl. (to) run for president hin, die sich als Ausdruck der konzeptuellen Metapher Politik bzw. Wahlkampf ist Kampf/Krieg beschreiben lassen.

Spätestens seit der nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA im November 2016 neu entbrannten Diskussion um die Frage nach der Wahrheit, die sich unter anderem an Begriffen wie Fake News, alternative Fakten und dem vermeintlichen Eintritt in ein sogenanntes postfaktisches Zeitalter entzündet, kann die Relevanz von Agonalität, vom «Wettkampf um Geltungsansprüche» und der «kontroversen Aushandlung von Wissen mit sprachlichen Mittlen» (cf. supra) für die Politik als unbestritten gelten. Befördert durch jüngere gesellschaftliche Entwicklungen wie das Erstarken populistischer Bewegungen, die nicht selten als Bedrohung repräsentativer Demokratie wahrgenommen werden (cf. Decker 2006), oder auch die zunehmende Mediatisierung der Politik und die damit verbundene Frage, inwiefern sich die Logik der Politik der Logik der Medien anpasst (cf. Meyer 2006; Luginbühl 2017), lässt dies das Bedürfnis nach einer Überprüfung der Wahrheitsbedingungen wachsen, dem Medienvertreter mit sogenannten «Faktenchecks» nachzukommen suchen. Damit rückt das Erheben von Ansprüchen auf Gültigkeit und Wahrheit von Aussagen und die Aushandlung derselben im Diskurs nicht nur in den Fokus der Aufmerksamkeit, sondern erscheint auch in einem neuen Licht.

Mit der Arbeit wird insgesamt ein vierfaches Ziel verfolgt:

  1. die Explikation eines linguistischen Agonalitätsbegriffs auf der Grundlage des Forschungsstands innerhalb wie außerhalb der Sprachwissenschaft sowie der theorie- und ideengeschichtlichen Hintergründe des Konzepts,

  2. die Entwicklung eines geeigneten theoretischen Rahmens für die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Agonalität auf der Grundlage der linguistischen Theoriebildung,

  3. die Entwicklung eines ebensolchen methodologischen Rahmens,

  4. die empirische Anwendung des zuvor entwickelten theoretischen und methodischen Ansatzes zur Untersuchung sprachlicher Manifestationen von Agonalität.

Der Explikation eines linguistischen Agonalitätsbegriffs (Ziel 1) liegt die Annahme zugrunde, dass das Agonale als ein das Wesen des Menschen grundsätzlich prägendes Prinzip auch in der Sprache als dem zentralen Medium menschlicher Kommunikation seinen Ausdruck findet bzw. durch dieses mitkonstruiert wird. Agonalität kann in der Sprache abgebildet werden, die Sprache kann aber auch zur Entstehung oder Verstärkung von Agonalität beitragen. Für die Definition von Agonalität aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die Theorie- und Ideengeschichte...

Erscheint lt. Verlag 5.12.2022
Reihe/Serie Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie
ISSN
Zusatzinfo 35 b/w and 3 col. ill., 16 b/w tbl.
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie
Schulbuch / Wörterbuch Wörterbuch / Fremdsprachen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Romanistik
Schlagworte Agonalität • agonality • Discourse analysis • Diskursanalyse • Französisch • French • political language • Politische Sprache
ISBN-10 3-11-098176-9 / 3110981769
ISBN-13 978-3-11-098176-6 / 9783110981766
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