Grenzgängerinnen (eBook)
240 Seiten
Knesebeck Verlag
978-3-95728-738-0 (ISBN)
Julia Hägele studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Neuere Deutschen Literatur in München und Paris, bevor sie die Deutsche Journalistenschule absolvierte. Obwohl Sport das einzige Schulfach war, neben dem die maximale Punktzahl in ihrem Abiturzeugnis stand, überlässt sie die sportlichen Extreme lieber anderen. Leichte Dehnübungen und Fernwanderungen mit wenig Steigung mag sie gerne. Sie arbeitet als Journalistin und Autorin in München.
Julia Hägele studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Neuere Deutschen Literatur in München und Paris, bevor sie die Deutsche Journalistenschule absolvierte. Obwohl Sport das einzige Schulfach war, neben dem die maximale Punktzahl in ihrem Abiturzeugnis stand, überlässt sie die sportlichen Extreme lieber anderen. Leichte Dehnübungen und Fernwanderungen mit wenig Steigung mag sie gerne. Sie arbeitet als Journalistin und Autorin in München.
Vorwort
Dieses Buch versammelt Frauen, die ihre persönlichen Grenzen in Frage stellen. Viele davon sind Sportlerinnen, die sich an ihr Maximum herantasten, wie die Extrembergsteigerin Tamara Lunger, die die Winterbesteigung des Nanga Parbat und des K2 an ihre körperlichen und emotionalen Grenzen brachte. Oder die Läuferin Anne-Marie Flammersfeld, die jeweils 250 Kilometer durch vier Wüsten lief und die Ultramarathonserie 4 Deserts dabei als erste Frau gewann. Daneben finden sich Frauen im Buch, die sich neben ihrem Hauptberuf an ihre Grenzen herantasten: etwa die Lehrerin Julia Wittig aus Burghausen, die Weltmeisterin im Eisschwimmen wurde, oder die Flughafenmitarbeiterin Alexandra Mitschke, die bei ihrem härtesten Triathlon in Alaska mit Robben schwamm.
Als ich einer Freundin von dem Plan erzählte, mit zwanzig Frauen über ihre Abenteuer zu sprechen und auch darüber, wie sie die Welt sehen, sagte sie: »Die werden wahrscheinlich alle ein ähnlicher Typ Frau sein, oder?« Damals konnte ich das nicht so recht beantworten. Nach den Gesprächen kann ich sagen: auf keinen Fall – und unbedingt.
Jede Frau ist einzigartig in dem, was sie geleistet hat, welchen Widrigkeiten sie begegnet ist und welche Schlüsse sie aus ihnen gezogen hat. Es gibt auch Eigenschaften, die sich bei allen Frauen, mit denen ich gesprochen habe, decken.
Aber zunächst zu dem, was sie unterscheidet, dazu gehören natürlich die Orte und Disziplinen, in denen die Frauen an und über ihre Grenzen gehen. Silvia Furtwängler zum Beispiel begegnet ihnen bei den härtesten Schlittenhunderennen der Welt, wenn sie nur für ein, zwei Stunden im Schlafsack neben dem Schlitten schläft. Die Kletterin Angela Eiter traf auf ihre an einem spanischen Felsen mit einem Schwierigkeitsgrad, den noch keine Frau zuvor geklettert war – sie übte so lange, bis sie die Route durchstieg und diese Grenze überwand. Anna Bader springt von Klippen, sie war zu Beginn ihrer Karriere oft die einzige Frau bei Wettkämpfen. Anna von Boetticher taucht als Apnoetaucherin ohne Sauerstoff und bringt Marinetauchern bei, unter Wasser nicht in Panik zu geraten. Laura Dekker brach im Alter von vierzehn Jahren unter kritischer Berichterstattung auf, alleine die Welt zu umsegeln. Der holländische Staat sorgte sich damals um ihr Kindeswohl. Als ich mit ihr sprach, hörte ich ihre beiden noch kleinen Söhne im Hintergrund. Ich war gespannt, zu hören, ob sie ihre Kinder später einmal alleine losziehen lassen würde, wenn sie es denn wollten.
Einige haben ihre Träume hinterfragt und teilweise losgelassen, wie Ute Kranz, die immer eine große Familie haben wollte und selbst die Vorstellung bedrückend fand, alleine zu verreisen – umso beeindruckender, dass sie heute neunzig Länder besuchte, davon gut fünfundachtzig ohne Begleitung. Oder die Abenteuerfotografin Ulla Lohmann, die mit Vorliebe in aktive Vulkane steigt und die auf der Suche nach Antwort auf die ganz großen Fragen für sich gemerkt hat, dass der Mensch viel zu klein ist, um sie überhaupt zu stellen.
Auch die Motivationen, weshalb die Frauen weit aus ihrer Komfortzone getreten sind und immer wieder treten, sind vielfältig. Manche suchen die rein sportliche Herausforderung, wie Freya Hoffmeister, die mit ihrem Kajak um Kontinente paddelt, wenn sie sich nicht gerade um ihre Eisdielen in Husum kümmert. Manche brechen in einer Krise auf, um Kopf und Seele wieder zurechtzurücken, wie die Schweizer Ausnahmesportlerin Evelyne Binsack vor ihrer Expedition zum Nordpol. Andere, wie Olga von Plate, suchen Entschleunigung. Sie plante einen bevorstehenden Umzug daher nicht mit einem Sprinter, sondern mit Gleitschirm und Wanderschuhen. Anna von Boetticher suchte Stille beim Tauchen und fand sie in Vollkommenheit in der arktischen See, in deren Eiswelten sie nach dem Tod ihrer Mutter hinabtauchte. Für Jacqueline Fritz war ihre Alpenüberquerung ein großes »Trotzdem«. Nach einer Beinamputation verlor sie ihren Lebensmut und fand ihn in den Bergen wieder. Mit Krücken machte sie sich auf den Weg von Garmisch nach Meran.
Einige Sportlerinnen suchen ein Gefühl von Freiheit – die Klippenspringerin Anna Bader etwa findet es im freien Fall. Viele erleben dabei den Widerspruch, dass, wer Freiheit und Flow sucht, sich zunächst in ein Korsett aus Training und Disziplin begeben muss. Wie viel Training, Selbstzweifel und Kämpfe für einen Zwei-Sekunden-Sprung von einer Klippe unter Jubel notwendig sind, könnten sich die wenigsten vorstellen, erzählte mir Bader.
Wieder andere gehen hinaus, um sich Gott zu nähern. Flammersfeld erlebt das, wenn sie beim Laufen in der Natur an einen kathartischen Punkt kommt, an dem sie überhaupt nichts mehr denkt und nur noch läuft. Das Leben, wie es war, bevor acht Stunden vor einem Computer zu sitzen normal wurde, reizt Kathrin Heckmann. Die Reisebloggerin Fräulein Draußen schmiss ihren Bürojob und machte ihre Liebe zum Draußensein zum Beruf. Alleine im Zelt in der englischen Wildnis zu übernachten, machte ihr nur in der ersten Nacht Angst, danach nie wieder.
Zum Ende eines jeden Gesprächs fragte ich meine Gesprächspartnerinnen oft, ob wir etwas Wichtiges vergessen haben, denn manchmal kommt am Ende noch etwas Unerwartetes. Heckmann sagte mir in diesem Moment, sie werde oft erwartungsvoll nach ihrem Beweggrund für ihren Lebensstil als Reisende gefragt. Aber Frauen können sich auch auf ein Abenteuer einlassen, weil sie Lust haben, draußen zu sein und sich selbst zu begegnen, und nicht, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen.
Ich ertappe mich manchmal dabei, bei überaus aktiven Menschen zu denken, sie müssten sich permanent ablenken, um das Leben mitsamt seiner gelegentlichen Zumutungen besser nehmen zu können. Als ich mit den Abenteurerinnen sprach, bin ich jedoch nicht auf diese Art von Rastlosigkeit gestoßen, eher auf zwanzig reflektierte Suchen nach einem intensiven Leben – nach einem glücklichen Leben.
Und es gibt noch mehr Eigenschaften und Haltungen, die die Sportlerinnen teilen. Alle Frauen finden, es lohne sich, die eigenen Grenzen in Frage zu stellen, und wollen andere ermutigen, ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen. Auch wenn die Wirklichkeit nicht so makellos ist wie die Vorstellung davon, dafür echt.
Sie betonten, mentale Stärke sei mindestens genauso von Bedeutung wie körperliche Stärke, Beweglichkeit oder Ausdauer. Der Geist kann nicht ohne Körper und der Körper nicht ohne Geist, da sind sich alle einig. Die Frauen haben außerdem gemein, dass sie das Risiko, zu scheitern, beherzt in Kauf nehmen. Ich war erstaunt, dass auch Frauen, die Höchstleistungen erbringen, sich daran erinnern müssen, dass der erste, katastrophale, furchtbar schlechte Schritt einer mehr als keiner ist, wie von Boetticher mir versicherte.
Alle Frauen haben sich irgendwann in mindestens einer Situation wiedergefunden, in der sich ein Bewusstsein dafür bildete, dass sie als Frauen in dem, was sie tun, oft noch die Abweichung von der Norm sind. Damit gehen sie ganz unterschiedlich um. Manche konzentrieren sich auf ihren Sport und kümmern sich nicht um Geschlechterfragen, andere, wie die Parakanutin Edina Müller, entwickeln ein politisches Bewusstsein und fordern mehr Gleichberechtigung und Familienfreundlichkeit – im Leistungssport, aber auch gesamtgesellschaftlich. Müller kämpfte dafür, ihren Sohn mit zu den Paralympischen Spielen nach Tokio nehmen zu dürfen, setzte sich durch – und holte Gold. Tamara Lunger wusste lange nicht so recht, was sie mit ihrer weiblichen Seite anfangen sollte, bis sie zuließ, weicher, mehr dolce zu werden, wie sie sagt. Die 1940 geborene Marathonläuferin Sigrid Eichner zog drei Kinder de facto alleine groß, ihren Kopf bekam sie beim Laufen frei. Mittlerweile ist sie so viele Wettkämpfe gelaufen, als hätte sie die Erde etwa viereinhalb Mal zu Fuß umrundet. Anja Blacha hinterfragt den Stereotyp der wagemutigen Abenteurerin und arbeitet lieber akribisch an einer guten Planung ihrer Expeditionen, als sich blindlings in Gefahr zu begeben.
Die geschilderten Abenteuer, Wettkämpfe und Expeditionen haben alle gezeigt, dass zweierlei dazugehört: das kühle Kalkulieren der eigenen Ressourcen und der objektiven Gefahren sowie die Offenheit für den Zauber, den die Verausgabung in der Natur und den Naturgewalten birgt. Draußen, zum Beispiel im Gebirge, zeigen sich die Menschen dann besonders authentisch. Die Bergführerin Nina Schlesener erlebt das immer wieder, wie sich Menschen öffnen und Machtgefüge sich verschieben. Ob jemand Vorstandsvorsitzende ist oder nicht, spielt dann keine Rolle mehr, alle müssen hoch, alle schnaufen wie blöd, alle müssen wieder runter.
Jede der zwanzig Frauen übt sich darin, das Leben zu genießen. Sie alle schätzen es zu sehr, um es aufs Spiel zu setzen. Anna von Boetticher taucht wieder auf, wenn sie den Druckausgleich nicht im Griff hat, Anna Bader tritt von der Klippe zurück, wenn sie ihren Fokus nicht findet, Evelyne Binsack geht in einem Team zum Nordpol, obwohl sie ursprünglich alleine gehen wollte, Tamara Lunger kehrt siebzig Meter unterhalb des Gipfels am Nanga Parbat um, weil sie sonst aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lebend nach Hause geschafft hätte.
Allen ist gemein, dass sie auf der Suche nach Freiheit und frischer Luft...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2022 |
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Zusatzinfo | 20 farbige Abbildungen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Sport |
Reisen ► Reiseberichte | |
Schlagworte | Abenteuer • Abenteuerlust • Abenteurerin • Apnoetauchen • Athletinnen • außergewöhnliche Frauen • Bergsteigen • Biografien • Dokumentation • Expeditionen • Extremsport • Extremsportlerin • Frauen im Sport • Frauen-Porträts • Frauenpower • Freeclimbing • Interviewband • Interviews • Kanu fahren • Klettern • Klippenspringen • Kurzgeschichten • mutige Frauen • Outdoor • Outdoorsport • Reportage • Sportlerinnen • Starke Frauen • Ultramarathon • weibliche Rolemodels • weibliche Vorbilder • Weitstreckenwandern |
ISBN-10 | 3-95728-738-3 / 3957287383 |
ISBN-13 | 978-3-95728-738-0 / 9783957287380 |
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