Nur in Freiheit wird man frei (eBook)
192 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-51002-7 (ISBN)
Theodor Fontane (1819-1898) schrieb mit »Irrungen und Wirrungen«, »Effi Briest« oder »Der Stechlin« einst Werke, die zur Weltliteratur geworden sind, und gilt als bedeutendster Vertreter des literarischen »Realismus«. In jungen Jahren war er Teil der Märzrevolution 1848 in Berlin und publizierte radikaldemokratische Artikel.
Theodor Fontane (1819–1898) schrieb mit »Irrungen und Wirrungen«, »Effi Briest« oder »Der Stechlin« einst Werke, die zur Weltliteratur geworden sind, und gilt als bedeutendster Vertreter des literarischen »Realismus«. In jungen Jahren war er Teil der Märzrevolution 1848 in Berlin und publizierte radikaldemokratische Artikel. Iwan-Michelangelo D'Aprile, geboren1968, ist ein deutscher Historiker und Literaturwissenschaftler. Seit 2015 hat er an der Universität Potsdam die Professur für Kulturen der Aufklärung.
Der achtzehnte März
Erstes Kapitel
Der achtzehnte März
Die Jungsche Apotheke, Ecke der Neuen Königs- und Georgenkirchstraße, darin ich den »18. März« erleben sollte, war ein glänzend fundiertes Geschäft, aber von vorstädtischem Charakter, so dass das Publikum vorwiegend aus mittlerer Kaufmannschaft und kleineren Handwerkern bestand. Dazu viel Proletariat mit vielen Kindern. Für letztere wurde seitens der Armenärzte meist Lebertran verschrieben – damals, vielleicht auch jetzt noch, ein bevorzugtes Heilmittel –, und ich habe während meiner ganzen pharmazeutischen Laufbahn nicht halb so viel Lebertran in Flaschen gefüllt wie dort innerhalb weniger Monate. Dieser Massenkonsum erklärt sich dadurch, dass die durch Freimedizin bevorzugten armen Leute gar nicht daran dachten, diesen Lebertran ihren mehr oder weniger verskrofelten Kindern einzutrichtern, sondern ihn gut wirtschaftlich als Lampenbrennmaterial benutzten. Außer dem Tran wurde noch abdestilliertes Nussblätterwasser, das kurz vorher durch Dr. Rademacher berühmt geworden war, ballonweise dispensiert; ich kann mir aber nicht denken, dass dies Mittel viel geholfen hat. Wenn es trotzdem noch in Ansehen stehen sollte, so will ich nichts gesagt haben.
Der Besitzer der Jungschen Apotheke, der bekannten gleichnamigen Berliner Familie zugehörig, war ein älterer Bruder des um seiner vorzüglichen Backware willen in unserer Stadt in freundlichem Andenken stehenden Bäckers Jung Unter den Linden. Beide Brüder waren ungewöhnlich schöne Leute, schwarz, dunkeläugig, von sofort erkennbarem französischem Typus; sie hießen denn auch eigentlich Le Jeune, und erst der Vater hatte den deutschen Namen angenommen. Es ließ sich ganz gut mit ihnen leben, soweit ein Verirrter, der das Unglück hat, sich für »Percy’s Reliques of Ancient English Poetry« mehr als für Radix Sarsaparillae zu interessieren, mit Personen von ausgesprochener Bourgeoisgesinnung überhaupt gut leben kann. Aber freilich mit der Kollegenschaft um mich her stand es desto schlimmer, die Betreffenden wussten nicht recht, was sie mit mir anfangen sollten, und als in einem damals erscheinenden liberalen Blatte, das die »Zeitungshalle« hieß, ein paar mit meinem Namen unterzeichnete Artikel veröffentlicht wurden, wurde die herrschende Verlegenheit nur noch größer. Im Ganzen aber verbesserte sich meine Stellung dadurch doch um ein nicht unbeträchtliches, weil die Menschen mehr oder weniger vor jedem, der zu Zeitungen irgendwelche Beziehungen unterhält, eine gewisse Furcht haben, Furcht, die nun mal für Übelwollende der beste Zügel ist. Wer glaubt, speziell hierzulande, sich ausschließlich mit »Liebe« durchschlagen zu können, der tut mir leid.
Die grotesk komische Furcht vor mir steigerte sich selbstverständlich von dem Tag an, wo die Nachricht von der Pariser Februar-Revolution eintraf, und als in der zweiten Märzwoche kaum noch ein Zweifel darüber sein konnte, dass sich auch in Berlin irgendwas vorbereite, begann sogar die Prinzipalität mich mit einer gewissen Auszeichnung zu behandeln. Man ging davon aus, ich könnte ein verkappter Revolutionär oder auch ein verkappter Spion sein, und das eine war geradeso gefürchtet wie das andere.
So kam der achtzehnte März.
Gleich nach den Februar-Tagen hatte es überall zu gären angefangen, auch in Berlin. Man hatte hier die alte Wirtschaft satt. Nicht dass man sonderlich unter ihr gelitten hätte, nein, das war es nicht, aber man schämte sich ihrer. Aufs Politische hin angesehen, war in unserem gesamten Leben alles antiquiert, und dabei wurden Anstrengungen gemacht, noch viel weiter zurückliegende Dinge heranzuholen und all dies Gerümpel mit einer Art Heiligenschein zu umgeben, immer unter der Vorgabe, »wahrer Freiheit und gesundem Fortschritt dienen zu wollen«. Dabei wurde beständig auf das »Land der Erbweisheit und der historischen Kontinuität« verwiesen, wobei man nur über eine Kleinigkeit hinwegsah.
In England hatte es immer eine Freiheit gegeben, in Preußen nie; England war in der Magna-Charta-Zeit aufgebaut worden, Preußen in der Zeit des blühendsten Absolutismus, in der Zeit Ludwigs XIV., Karls XII. und Peters des Großen. Vor dieser Zeit staatlicher Gründung, beziehungsweise Zusammenfassung, hatten in den einzelnen Landesteilen allerdings mittelalterlich ständische Verfassungen existiert, auf die man jetzt, vielleicht unter Einschiebung einiger Magnifizenzen, zurückgreifen wollte. Das war dann, so hieß es, etwas »historisch Begründetes«, viel besser als eine »Konstitution«, von der es nach königlichem Ausspruche feststand, dass sie was Lebloses sei, ein bloßes Stück Papier. Alles berührte, wie wenn der Hof und die Personen, die den Hof umstanden, mindestens ein halbes Jahrhundert verschlafen hätten. Wiederherstellung und Erweiterung des »Ständischen«, darum drehte sich alles. In den Provinzialhauptstädten, in denen sich, bis in die neueste Zeit hinein, ein Rest schon erwähnten ständischen Lehens tatsächlich – aber freilich nur schattenhaft – fortgesetzt hatte, sollten nach wie vor die Vertreter des Adels, der Geistlichkeit, der städtischen und ländlichen Körperschaften tagen, und bei bestimmten Gelegenheiten – das war eine Neuerung – hatten dann Erwählte dieser Provinziallandtage zu einem großen »Vereinigten Landtag« in der Landeshauptstadt zusammenzutreten. Eine solche Vereinigung sämtlicher Provinzialstände konnte, nach Meinung der maßgebenden, das heißt durch den Wunsch und Willen des Königs bestimmten Kreise, dem Volke bewilligt werden; in ihr sah man einerseits die Tradition gewahrt, andererseits – und das war die Hauptsache – dem Königtum seine Macht und sein Ansehen erhalten.
König Friedrich Wilhelm IV. lebte ganz in diesen Vorstellungen. Man kann zugeben, dass in der Sache Methode war, ja mehr, auch ein gut Stück Ehrlichkeit und Wohlwollen, und hätte die ganze Szene hundertunddreißig Jahre früher gespielt – wobei man freilich von der unbequemen Gestalt Friedrich Wilhelms I. abzusehen hat, der wohl nicht dafür zu haben gewesen wäre –, so hätte sich gegen ein solches Zusammenziehen der »Stände«, die zu jener Zeit, wenn auch angekränkelt und eingeengt, doch immerhin noch bei Leben waren, nicht viel sagen lassen. Es gab noch kein preußisches Volk. Unsere ostelbischen Provinzen, aus denen im Wesentlichen das ganze Land bestand, waren Ackerbauprovinzen, und was in ihnen, neben Adel, Heer und Beamtenschaft, noch so umherkroch, etwa vier Millionen Seelen ohne Seele, das zählte nicht mit. Aber von diesem absolutistisch patriarchalischen Zustand der Dinge zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war beim Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. nichts mehr vorhanden.
Alles hatte sich von Grund aus geändert. Aus den 4 Millionen waren 24 Millionen geworden, und diese 24 Millionen waren keine misera plebs mehr, sondern freie Menschen – wenigstens innerlich –, an denen die die Welt umgestaltenden Ideen der Französischen Revolution nicht spurlos vorübergegangen waren. Der ungeheure Fehler des so klugen und auf seine Art so aufrichtig freisinnigen Königs bestand darin, dass er diesen Wandel der Zeiten nicht begriff und, einer vorgefassten Meinung zuliebe, nur sein Ideal, aber nicht die Ideale seines Volkes verwirklichen wollte.
Friedrich Wilhelm IV. handelte, wie wenn er ein Professor gewesen wäre, dem es obgelegen hätte, zwischen dem ethischen Gehalt einer alten landständischen Verfassung und einer modernen Konstitution zu entscheiden, und der nun in dem Alt-Ständischen einen größeren Gehalt an Ethik gefunden. Aber auf solche Feststellungen kam es gar nicht an. Eine Regierung hat nicht das Bessere bez. das Beste zum Ausdruck zu bringen, sondern einzig und allein das, was die Besseren und Besten des Volkes zum Ausdruck gebracht zu sehen wünschen. Diesem Wunsche hat sie nachzugeben, auch wenn sich darin ein Irrtum birgt. Ist die Regierung sehr stark – was sie aber in solchem Falle des Widerstandes gegen den Volkswillen fast nie ist –, so kann sie, länger oder kürzer, ihren Weg gehen, sie wird aber, wenn der Widerstand andauert, schließlich immer unterliegen.
Die Schwäche der preußischen Regierung vom Schluss der Befreiungskriege bis zum Ausbruch des Schleswig-Holsteinischen Krieges bestand in dem beständigen sich Auflehnen gegen diesen einfachen Satz, dessen unumstößliche Wahrheit man nicht begreifen wollte. Wenn später Bismarck so phänomenale Triumphe feiern konnte, so geschah es, sein Genie in Ehren, vor allem dadurch, dass er seine stupende Kraft in den Dienst der in der deutschen Volksseele lebendigen Idee stellte.
So wurde das Deutsche Reich aufgerichtet und nur so.
Es schien mir wünschenswert, dies vorauszuschicken, ehe ich mich meiner eigentlichen Aufgabe, der Schilderung der März-Tage, zuwende.
Bis zum dreizehnten war nur eine gewisse Neugier bemerkbar, drin vorwiegend das bekannte witzelnde Wesen der Berliner zum Ausdruck kam; die Leute steckten die Köpfe zusammen und warteten auf das, was der Tag vielleicht bringen würde. Jeder mutete dem anderen zu, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Die Welt besteht nun mal nicht aus lauter Helden, und die bürgerliche Welt ist zu freiwilliger Übernahme dieser Rolle besonders unlustig. Als aber die Nachrichten aus Wien eintrafen,[9] fühlte man doch ein Unbehagen darüber, dass nichts so recht in Fluss kommen wollte. Selbst die Bourgeoisie nahm an...
Erscheint lt. Verlag | 9.2.2023 |
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Reihe/Serie | Bibliothek der frühen Demokratinnen und Demokraten | Bibliothek der frühen Demokratinnen und Demokraten |
Vorwort | Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D'Aprile |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Schlagworte | Anfänge der Demokratie • Berliner Zeitungshalle • Bibliothek der frühen Demokratinnen und Demokraten • Demokratiebewegung • Demokratische Legion • deutsche demokratie • Deutsche demokratische Gesellschaft • Deutsche Revolution • Fontane politische Texte • Fontane Texte • Frankfurter Nationalversammlung • Frankfurter Paulskirche • Nationalversammlung • Paulskirche |
ISBN-10 | 3-462-51002-9 / 3462510029 |
ISBN-13 | 978-3-462-51002-7 / 9783462510027 |
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