Meine Grenze ist dein Halt (eBook)
194 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86743-8 (ISBN)
Nora Imlau ist Autorin mehrerer »Spiegel«-Bestseller, gefragte Speakerin und Journalistin für Familienthemen in Print- und Online-Medien. Sie ist Kolumnistin in der Süddeutschen Zeitung, hat eine weitere Familienkolumne in der Zeitschrift ELTERN, ist die Familienexpertin im ARD Familienmagazin sowie die Erziehungsexpertin in der MDR-Sendung »Hier um 4« und bildet im von Jesper Juul gegründeten Ausbildungsinstitut familylab Deutschland angehende Familienbegleiter*innen aus. Darüber hinaus folgen ihr etwa 100 000 Menschen auf ihren Social-Media-Kanälen. Seit vielen Jahren engagiert sie sich für die Rechte von Eltern und Kindern. Ein weiterer Schwerpunkt ist ihre Arbeit mit Schwangeren und Hebammen. Die vierfache Mutter gilt als eine der wichtigsten Stimmen einer neuen Elterngeneration, die ihren Kindern mit Vertrauen und Respekt begegnen will und nach Wegen sucht, die Bedürfnisse der Großen und Kleinen in einer Familie auf liebevolle Weise unter einen Hut zu kriegen. www.nora-imlau.de
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2. Kapitel
Meine Grenze spüren lernen
Die eigenen Grenzen wahrnehmen und wahren zu können ist keine Selbstverständlichkeit. Viele, die heute Eltern sind, haben das nie gelernt. Insbesondere viele Frauen und Mädchen nicht. Denn wer wie Grenzen vertreten kann und darf, ist in unserer Gesellschaft stark gegendert. In sehr vielen Familien sind etwa die weiblichen Personen dafür zuständig, den Familienfrieden zu wahren. Das liegt an uralten Rollenzuschreibungen und letztlich am Patriarchat, hat jedoch auch in augenscheinlich modernen, aufgeklärten Familien oft zur Folge, dass insbesondere sensible, empathische Mädchen ihre Tochterrolle oft mit sehr viel Verantwortung beladen: die Mutter entlasten, den Vater glücklich machen, für Harmonie zwischen den Geschwistern sorgen. Natürlich gibt es auch Jungen und nicht-binäre Kinder, die in eine solche Rolle hineinwachsen. Die Folge ist immer dieselbe: Wer sich dafür verantwortlich fühlt, dass der Haussegen nicht schief hängt, geht dafür weit über die eigenen Grenzen. Eigene Bedürfnisse werden systematisch weggeschoben und verdrängt, alle Aufmerksamkeit gilt den Bedürfnissen der anderen.
Besonders stark entfaltet sich diese Dynamik in Familien mit seelisch oder gesundheitlich stark belasteten oder instabilen Elternteilen, in denen letztlich ein Kind oft die emotionale Versorgerrolle einnimmt, häufig sowohl für Eltern als auch Geschwister. Der Fachbegriff dafür ist Parentifizierung, also die Übernahme der Elternrolle durch ein Kind. Die Kinder ziehen daraus oft zunächst eine diffuse Art Stolz, so eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe zu tragen, sind jedoch gleichzeitig emotional oft völlig überfordert davon, eine Last zu tragen, die nicht die ihre ist. Um diese Überforderung zu kompensieren, verschieben sie ihre eigene Belastungsgrenze immer mehr und trösten sich damit, durch ihren besonderen Einsatz auch besondere Wertschätzung zu verdienen. So wird in vielen Menschen bereits im Kindesalter die Annahme gefestigt, Liebe und Aufmerksamkeit müssten durch Leistung und das Zurückstellen eigener Bedürfnisse zugunsten der Gemeinschaft verdient werden. Diese Prägungen wirken noch lange fort: Wer nie gelernt hat, sich selbst wichtig zu nehmen, tut sich meist auch im Erwachsenenleben schwer damit, klar für sich einzustehen. Stattdessen wiederholen Menschen, die bereits als Kinder zu viel emotionale Verantwortung getragen haben, als Erwachsene oft unbewusst dieses Muster. Nur, dass sie jetzt die alleinige Verantwortung für das Wohlergehen aller Mitglieder ihrer eigenen, selbst gegründeten Familie tragen – nur nicht für ihr eigenes.
Nicht jedes Elternteil ist im gleichen Maße von diesen frühkindlichen Prägungen betroffen, doch es ist für mich immer wieder erschreckend, wie häufig mir gerade besonders liebevolle, zugewandte und bemühte Eltern erzählen, dass sie eigentlich ihr Leben lang schon Verantwortung für alles und jeden übernommen haben. Nur liebevoll für sich selbst zu sorgen, haben sie nie gelernt. Das dauerhafte Übergehen der eigenen Bedürfnisse setzt dabei oft eine unheilvolle Spirale in Gang. Denn genauso wenig, wie die Bedürfnisse unserer Kinder verschwinden, wenn wir sie ignorieren, gehen unsere eigenen Bedürfnisse einfach irgendwann weg. Stattdessen stauen sie sich in uns auf wie Wasserdampf in einem Schnellkochtopf. Äußerlich ist davon lange nichts zu bemerken, und auch wir selbst können uns an diesen permanenten latenten Überdruck so gewöhnen, dass wir ihn kaum mehr wahrnehmen. Passiert dann jedoch irgendeine Kleinigkeit, die uns emotional unvorbereitet trifft und enttäuscht oder verletzt, ist es, als würde unverhofft der Deckel des Schnellkochtopfs abgesprengt, und alles, was sich darin an Druck aufgebaut hat, entlädt sich unkontrolliert. Leider sind es oft ausgerechnet unsere eigenen Kinder, die solche explosiven Ausbrüche unterdrückter Bedürfnisse und Gefühle auslösen – nicht aus böser Absicht, sondern einfach, weil sie uns so nah sind und oft mit traumwandlerischer Sicherheit unsere wunden Punkte erwischen. Werden sie dann plötzlich angebrüllt, beschimpft oder geschüttelt, weil wir Eltern die Nerven verlieren, ist das für sie natürlich ein schrecklicher Schock. Schließlich beruht ihre emotionale Sicherheit darauf, dass wir Eltern ihr sicherer Hafen sind: verlässlich und beständig immer für sie da. Unkontrollierte Wutausbrüche vermitteln das Gegenteil dieser Sicherheit. Und weil gute Eltern das wissen, haben sie hinterher auch immer ein furchtbar schlechtes Gewissen. Dann entschuldigen sie sich wortreich, nehmen sich vor, nie wieder so auszurasten, und schlucken weiter sämtliche Bedürfnisse hinunter – bis irgendein Tropfen das Fass wieder zum Überlaufen bringt.
Es gibt jede Menge Tipps und Tricks, die Eltern helfen sollen, aus dieser zerstörerischen Dynamik auszusteigen. Sie sollen Atem- und Entspannungsübungen machen, ganz langsam bis zehn zählen, Mandalas malen und Tee trinken. Sie sollen sich klarmachen, dass ihr Kind sie nicht mit Absicht ärgert, dass Schreien sich für Kinder wie Schlagen anfühlen kann, dass vieles, was uns auf die Palme bringt, schlicht Teil der normalen kindlichen Entwicklung ist. Doch ich bin überzeugt: Das Einzige, was Eltern wirklich langfristig hilft, ihre Kinder nicht niederzubrüllen, nicht durchzuschütteln, nicht mit Dingen zu werfen, Türen zu knallen, Gemeinheiten zu schreien und fiese Verbote auszusprechen, ist, die eigenen persönlichen Grenzen zu kennen und zu wahren. Wir müssen also damit aufhören, unsere Bedürfnisse so lange zu ignorieren, bis sie uns um die Ohren fliegen, und anfangen, wieder wahrzunehmen, was wir brauchen. Und dafür einzustehen. Auch, wenn sich das für uns erst einmal ganz fremd und ungewohnt anfühlt.
Grenzen müssen wir nicht »setzen«
Wenn im Erziehungskontext von Grenzen die Rede ist, dann fast immer in der Kombination mit dem Verb »setzen«. Eltern, so lesen wir in der Zeitung, haben verlernt, Grenzen zu setzen. Deswegen benehmen sich die Kinder heutzutage so unmöglich. Deshalb müssen jetzt die Lehrkräfte mehr Grenzen setzen, und die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas. Zum Glück gibt es aber auch noch Eltern, die ihren Kindern Grenzen setzen. Diese Kinder werden dann zu gut geratenen Erwachsenen. Und wie sieht das aus, dieses Grenzensetzen? Nun: Die Erwachsenen legen fest, wo Schluss ist. Und setzen eine Grenze: Zack, nun ist sie da. Übertreten bei Strafe verboten.
Denken wir einen Moment darüber nach, was allein diese sprachliche Wendung über das dahinterstehende Verständnis von Erziehung aussagt: Wer etwas setzt, legt etwas fest, das dann gesetzt ist. Organisiere ich beispielsweise einen Flohmarkt für den Förderverein des Kindergartens, kann ich festlegen, wann dieser stattfindet und wie viel Geld ich pro Verkaufsstand nehme. Diese Rahmenbedingungen sind dann gesetzt und damit Gesetz: So läuft das hier, darüber diskutieren wir nicht, das habe ich mir so ausgedacht, und jetzt gilt es. Ich bin die Chefin, ich mache die Regeln. Und wer sie nicht mag, soll eben nicht kommen.
Solche zackigen Entscheidungen ohne Diskussionsmöglichkeit können sinnvoll sein, wenn ich etwas auf die Beine stellen will, ohne mich in zig verschiedenen Meinungen zu verlieren. Sie sind jedoch nicht förderlich für zwischenmenschliche Beziehungen. Denn wenn ich mit Menschen in Verbindung stehen und ihre Anliegen in meine Entscheidungen einfließen lassen will, helfen zackig gefasste Beschlüsse, auf denen ich um jeden Preis beharre, nicht weiter. Ich brauche viel mehr Geduld und Gespür für meine Grenzen und die meines Gegenübers, um zu einem für alle Seiten befriedigenden Ergebnis zu kommen.
Diesen Anspruch hatte Kindererziehung über viele Jahrhunderte nicht. Im Gegenteil: Kinder sollten nicht diskutieren, Kinder sollten gehorchen. Entsprechend willkürlich und autoritär ging vielmals auch das Grenzensetzen vonstatten: Eltern beschlossen, was ihre Kinder dürfen sollten und was nicht. Stellten entsprechende Regeln auf. Und drohten mit Strafen, sollten diese nicht eingehalten werden. Im politischen Kontext würde man eine solche Herrschaftsform als Diktatur bezeichnen: Es gibt Machthaber, die die Gesetze machen. Und Untertanen, die sich ohne Mitspracherecht an sie zu halten haben. Legitimiert wurde diese immense Machtposition von Eltern im familiären Setting durch die tief in unserer Kultur verankerte Überzeugung, dass Kinder ihren Eltern gehören – und dass diese das Recht haben, diese nach Gutdünken so zu formen, wie sie es für richtig halten.
Noch heute gibt es viele Eltern, die genau aus diesem Selbstverständnis heraus agieren: Wir sind die Eltern, wir bestimmen. Und dann bestimmen sie: mit wem ihr Kind spielen ...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
ISBN-10 | 3-407-86743-3 / 3407867433 |
ISBN-13 | 978-3-407-86743-8 / 9783407867438 |
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