Sprechen Sie noch oder werden Sie schon verstanden? (eBook)
223 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61585-8 (ISBN)
Prof. Dr. Hartwig Eckert lehrte am Englischen Seminar der Europa-Universität Flensburg und ist heute als Kommunikationstrainer in den Bereichen Persönlichkeitsentwicklung und Verhandeln tätig.
Prof. Dr. Hartwig Eckert lehrte am Englischen Seminar der Europa-Universität Flensburg und ist heute als Kommunikationstrainer in den Bereichen Persönlichkeitsentwicklung und Verhandeln tätig.
1Maximierung des Informationsgewinns
1.1Informationsgewinn durch Hören auf die Stimme
1.1.1Die Botschaft der Wörter und die der Stimme: Verbale und vokale Botschaften
Gottfried Hausmann lehrte in den 60er-Jahren an der Ankara-Universität auf einem UNESCO-Lehrstuhl für Pädagogik. Die vorlesungsfreie Zeit nutzte er für weite Reisen im Lande. Bei einer solchen Reise war er Gast bei an der türkischsyrischen Grenze lebenden Arabern. Eines Abends kam eine Kamelkarawane von Süden über die Grenze: eine Schmugglerkarawane. Unter den abgeladenen Waren befand sich ein Tonbandgerät – so groß und schwer, wie diese Geräte damals eben waren. Sein Gastgeber hörte das auf dem Gerät befindliche Tonband ab. Es sei eine Nachricht von seinem Partner jenseits der Grenze. Auf die Frage, warum man keine Briefe wechsele oder sich mündlich durch Boten Nachrichten zukommen lasse, kam die Antwort: „So kann ich hören, ob er das auch meint, was er sagt.”
Zuhören lernt man am besten durch angeleitetes Zuhören. Das Medium des Zuhörens ist die Akustik. In der mündlichen Kommunikation ist das die gesprochene Sprache. Die Verschriftlichung des Sprechens, die sogenannten Transkriptionen, sind eine Hilfe, weil man die geschriebenen Wörter in beliebigem Tempo lesen und analysieren kann. Man ist also nicht dem tatsächlichen Sprechtempo des Sprechers ausgesetzt. Aber Transkriptionen sind immer nur ein Hilfsmittel. Rezepte, Speisekarten und kulinarische Beschreibungen führen sicher zu einer Verfeinerung des Empfindens, aber niemand wird nur lesen, ohne je kosten zu wollen.
Ein Rat zum Umgang mit den folgenden Hörübungen: Erst hören, dann lesen. Wenn Sie immer gleich weiterlesen in der Meinung, so kämen Sie schneller an die Information – denn der Autor wird ja schon die Erklärung für seine eigenen Hörbeispiele haben, und warum sollten Sie sich da erst selber den Kopf zerbrechen –, dann berauben Sie sich einer echten Hör-Erfahrung, vieler Aha-Erlebnisse und einer Freude am Miterleben des Gesprochenen.
Hören Sie sich jetzt bitte die erste Hörprobe der Download-Dateien eines natürlichen Gesprächs an und notieren Sie sich alle Eindrücke, die Sie von der Sprecherin und dem Gesprochenen gewonnen haben.
Sie haben nach dem Anhören vielleicht versucht, die verbale Botschaft mit Ihren eigenen Worten wiederzugeben. Vermutlich haben Sie die Sprecherin irgendwo auf einer Skala von „sympathisch bis unsympathisch“ eingeordnet und sich Gedanken darüber gemacht, wie sie aussieht, für wie alt Sie sie halten, ob sie sich in dieser Sprechsituation wohlfühlt und vieles andere mehr. Rufen Sie sich jetzt noch einmal die Anweisung zur Hörübung ins Gedächtnis: „… notieren Sie sich alle Eindrücke, die Sie von der Sprecherin und dem Gesprochenen gewonnen haben.“ Die Formulierung „Eindrücke, die Sie gewonnen haben“ ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens, weil es auf Informationsgewinnung ankommt, und zweitens, weil Ihre Aussagen über Ihre Eindrücke nicht falsch sein können. In Seminaren mache ich dazu stets eine kleine Übung:
Trainer: Welches ist Ihre Lieblingsfarbe?
Teilnehmerin: Blau.
Trainer (den Kopf zur Seite neigend): Ähmmm, nnnein, aber ich gebe Ihnen noch eine zweite Chance. Also??
Wenn der Trainer bei seiner eigenen absurden Reaktion auf die Nennung der Lieblingsfarbe ernst bleiben kann, entsteht meist eine kurze peinliche Pause, dann ein Schulterzucken der Teilnehmerin, und schließlich erfolgt allgemeines Grinsen der Gruppe, die den Sinn der Übung erkannt hat. Die Antwort „blau“ auf die Lieblingsfarbe kann nicht falsch sein, selbst dann nicht, wenn die Teilnehmerin an dem Tag von oben bis unten in Rot gekleidet ist.
Für unsere Hörbeispiele heißt das: Wenn Sie nach Ihrem Eindruck gefragt werden und Sie sagen: „Die Sprecherin macht einen sympathischen Eindruck auf mich“, dann ist es sinnlos zu antworten: „Nein, macht sie nicht!“, denn Sie sind die einzige Person auf der Welt, die mit Autorität eine Aussage über dieses eigene, subjektive Empfinden machen kann.
Wenn Ihr persönlicher Eindruck von den gehörten Stimmen nicht falsch sein kann, worin besteht dann der Sinn der Kommentare dazu in diesem Buch? Ich kann Ihnen jetzt die Ergebnisse der Sprechwirkungsforschung mitteilen, also Information darüber geben, wie die meisten Versuchspersonen, denen diese Hörprobe vorgespielt wurde, die Sprecherin eingeordnet haben. In diesem ersten Hörbeispiel war das deutlich auf der sympathischen Seite der Skala. Es ist interessant zu erfahren, ob man mit seiner eigenen Einschätzung als Hörerin von Stimmen und Sprechproben mit den meisten anderen Menschen übereinstimmt oder oft die Ausnahme bildet. Das gibt Anlass zum Nachdenken z. B. darüber, ob man weniger oder mehr hört als die anderen, ob man sich häufiger oder seltener als andere Menschen vom ersten Eindruck her getäuscht sieht.
Aus der Perspektive der Sprecherin ist Information aus der Sprechwirkungsforschung darüber, wie andere Menschen ihre Stimme einschätzen, extrem wichtig und – merkwürdigerweise – extrem vernachlässigt.
Ich kann Sie jetzt auch auf bestimmte Sprechweisen aufmerksam machen, wobei Sie entscheiden, ob auch Sie das gehört hatten oder ob es Ihnen entgangen war. Das ist Hörtraining, und im Laufe dieses Buches wird sich Ihr Informationsgewinn durch Zuhören optimieren. Im ersten Hörbeispiel spricht die Sprecherin eine extrem lange Passage, ohne Luft zu holen:
„Mm wenn ich jetzt nicht sage, ich möchte in Flensburg bleiben und nichts anderes außer Flensburg, denke ich, es ist absolut (mit Sprechlacher) möglich, noch ’ne Stelle zu bekommen, also man muss schon sagen können, gut ich geh auch da hin, wo irgendwas frei ist.“
Sie haben die Passage als Höreindruck empfunden. Um nun auch ein Empfinden dafür zu bekommen, wie sich das aus der Sprecherinnenperspektive anfühlt, sollten Sie versuchen, diesen Satz in einem Atem zu sprechen. Sie werden damit beim ersten Versuch Schwierigkeiten haben, noch dazu, wenn Sie – wie die Sprecherin – in der Mitte der Redeeinheit bei „absolut“ durch Lachen weitere Atemluft „verschenken“. Hören Sie sich jetzt bitte diese Passage noch einmal an und achten Sie genau darauf, wie die Sprecherin nach „frei ist“ zwar verhalten, aber deutlich vernehmbar tief Luft holt. Also auch für diese Sprecherin muss diese Redeeinheit eine lange Tauchstrecke gewesen sein.
1.1.2Innerer Nachvollzug
Wenn sich jemand beim Bildaufhängen mit dem Hammer auf den eigenen Daumennagel schlägt, zucken die Anwesenden so zusammen, als fühlten sie den Schmerz. Eine solche Reaktion nennt man inneren Nachvollzug oder auch interne Simulation. Dieses Phänomen ist in keinem anderen Bereich des menschlichen Organismus stärker ausgeprägt als in dem Vokaltrakt. Mit Vokaltrakt bezeichnet man die unmittelbar am Sprechen beteiligten Partien, nämlich Kehlkopf, Rachen-, Mund- und Nasenraum. Der innere Nachvollzug ist gemeint in Redensarten wie „Gähnen steckt an“. Man erlebt auch häufig, wie das Publikum sich räuspert, wenn der Redner einen Frosch im Hals hat, aber krächzend weiterspricht.
Ein Hörverhalten, das nicht nur den verbalen Teil und den akustischen Eindruck registriert, sondern bei dem die Zuhörerin auch noch analysiert bzw. nachvollzieht, welche physiologischen Funktionen sich im Sprecher abspielen, nennt man funktionales Hören.
In unserem ersten Hörbeispiel waren die Phänomene des funktionalen Hörens und des inneren Nachvollzugs gegeben, wenn Sie die extrem lange Atemeinheit wahrgenommen und schon beim Zuhören das Bedürfnis verspürten, tief Luft zu holen. Ein so extrem langer Redefluss, ohne Atem zu schöpfen, sollte den Zuhörer nachdenklich stimmen und ihn überlegen lassen, ob die zwischenmenschlichen Beziehungen in Ordnung sind. Offensichtlich fühlt sich die Sprecherin unter Druck gesetzt. Dafür gibt es viele mögliche Gründe, wie z. B.:
- Es könnte sein, dass sie befürchtet, beim Luftholen unterbrochen zu werden, und sie deswegen unbedingt noch zu Ende sprechen möchte. Gegen diese Annahme spricht der verbale Teil, denn der zweite Teil ihrer Redeeinheit ist wenig mehr als die Wiederholung des ersten Gedankens und wird dementsprechend mit „also“ eingeleitet.
- Es könnte sein, dass die Sprecherin die Situation als unnatürlich empfindet.
- Vielleicht meint sie auch, die Frage des Interviewers „Was heißt ‚flexibel‘?“ sei banal, weil die Antwort darauf selbstverständlich ist. In diesem Fall sähe sie sich zu einer Art Gehorsamssprung verpflichtet: Sie hält ihre Erklärung für überflüssig, muss das Offensichtliche aber dennoch sagen, weil es die Höflichkeit gebietet. Diese Hypothese würde den Sprechlacher zwischendurch erklären, so als wolle sie sagen: „Mein Gott, ist doch im Grunde völlig klar, was ich mit ‚flexibel‘ gemeint habe“; und die hohe Sprechgeschwindigkeit ohne Luftholen könnte bedeuten: „Also bringen wir’s rasch hinter uns.“
Nachdem Sie die Transkription gelesen und sich über die möglichen Deutungen Gedanken gemacht haben, hören Sie sich jetzt bitte das Beispiel 1 noch einmal an. Wenn Sie Ihren Höreindruck mit dem Lesen der Transkription vergleichen, werden Sie erkennen, wie viel mehr an Information aus dem...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie | |
Wirtschaft | |
Schlagworte | Kommunikation • Persönlichkeitsentwicklung • Ratgeber • Rhetorik • Selbstmanagement • Stimme |
ISBN-10 | 3-497-61585-4 / 3497615854 |
ISBN-13 | 978-3-497-61585-8 / 9783497615858 |
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Größe: 9,3 MB
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