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Wir wünschten uns Flügel (eBook)

Eine turbulente Jugend in der DDR - und ein Fluchtversuch
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01515-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir wünschten uns Flügel -  Harald Stutte
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Die DDR in den 80er Jahren. Harry und seine Freunde stoßen ständig an Grenzen. Der Staat will sie schon mit 11 auf eine Armeelaufbahn verpflichten. Sie selbst wollen die Freiheit, Punk und New Wave zu hören, Gängelung und der grauen Nachkriegs-Tristesse entfliehen. Es sind aber auch flirrende Zeiten - geprägt von TV-Serien wie «Rauchende Colts» und «Dallas», von Bands wie The Sweet und den Sex Pistols, geklauten Büchern, einer Giftküche, ritualisiertem Kotzen und Nächten in der Nobel-Disco Eden. Nur noch das Abitur - dann die Lücke im Eisernen Vorhang finden. Aber die Flucht endet tragisch, in Stasi-Knast und Strafvollzug. Harry wird freigekauft und erfährt, wie es ist, einfach so durch Europa zu reisen. Atmosphärisch dicht erzählt Harald Stutte von Kindheit und Jugend in Leipzig.

Harald Stutte, Jahrgang 1964, studierte Politikwissenschaft und Geschichte. Er arbeitet als Redakteur im Medienverlag RedaktionsNetzwerk Deutschland. Texte von ihm sind in diversen überregionalen Zeitungen wie der 'Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung', der 'Süddeutschen Zeitung' oder der 'Welt am Sonntag' erschienen. Geboren in Leipzig, lebt er seit 1985 in Hamburg.

Harald Stutte, Jahrgang 1964, studierte Politikwissenschaft und Geschichte. Er arbeitet als Redakteur im Medienverlag RedaktionsNetzwerk Deutschland. Texte von ihm sind in diversen überregionalen Zeitungen wie der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", der "Süddeutschen Zeitung" oder der "Welt am Sonntag" erschienen. Geboren in Leipzig, lebt er seit 1985 in Hamburg.

Babyboomer


Als Kind habe ich stets bedauert, nicht in einer anderen Zeit zu leben: im Mittelalter zum Beispiel, als Ritterheere umherzogen. In der Zeit der großen Entdeckungen. Oder in der Zukunft, weil ich überzeugt war, in jedem Wohnzimmer sähe es dann aus wie auf der Kommandobrücke des Raumschiffs Enterprise. Die Zeit, in der ich lebte, fand ich langweilig. Schon das Jahr meiner Geburt, 1964, war seltsam gesichts- und beinahe geschichtslos.

All die Ereignisse, die wir heute mit den 60er-Jahren verbinden, 1964 fanden sie nicht statt. Die Mauer wurde drei Jahre zuvor gebaut. Die Kubakrise war 1962. Im Jahr darauf wurde John F. Kennedy ermordet, Amerika wurde Kriegspartei in Vietnam, und die Beatles feierten ihren weltweiten Durchbruch 1963. Woodstock, sexuelle Revolution, Studentenproteste, Mondlandung, Martin Luther Kings und Robert Kennedys Ermordung – etwas turbulenter ging es in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre weiter. Nur 1964 passierte – fast nichts, mal abgesehen von der Absetzung des sowjetischen Staatsoberhaupts Nikita Chruschtschow. Und abgesehen davon, dass Chemie Leipzig, der grün-weiße Underdog aus dem Norden meiner Heimatstadt, zum ersten und einzigen Mal ostdeutscher Fußballmeister wurde. Aber das war schon kein Ereignis mehr auf Weltniveau …

Und dennoch ist das Jahr 1964 aus heutiger Sicht ein Meilenstein in der mitteleuropäischen Geschichte; es markiert eine Trendwende, deren Folgen unsere Gesellschaft bis heute prägen. Bis zu diesem Jahr war die Bevölkerung im Herzen des alten Kontinents Europa jahrhundertelang konstant gewachsen. 1964 erreichte diese demografische Tide ihr Allzeit-Hoch – um in den folgenden Jahrzehnten bis zum heutigen Tag kontinuierlich zu sinken. Nie zuvor und vermutlich nie wieder danach kamen in Deutschland so viele Babys auf die Welt: 1357304, eines davon war ich. Und allein unsere Vielzahl verleiht uns «64ern» ein Gewicht, eine Bedeutung, die uns bis heute trägt. Wir sind viele, wir sind stark, von nun an ging’s bergab.

Ein echter 64er musste sich allerdings durchbeißen, im Zweifel wurde er überhört oder übersehen in diesem Meer von Kindern. Ein 64er lernte, sich in Geduld zu üben, ebenso im Wegstecken von Niederlagen. Unsere Kindheit glich einer nicht enden wollenden «Reise nach Jerusalem», weil es stets mehr Hintern als bereitstehende Stühle gab. So wetteiferte stets ein Überangebot an motivierten Jungs um die limitierten Plätze im Startaufgebot der Fußballmannschaften auf den Hinterhöfen. Man musste gut sein, sonst versauerte man als Reservespieler am Rand der wenigen Rasenflächen, die wir als Bolzplätze umpflügen durften, bis uns Erwachsene mal wieder davonjagten.

Hinter jedem Busch, so schien es, kroch ein Kind hervor. Und immer gab es Zoff, weil die Erwachsenen keine Zeit hatten, sich um diese Kinderherden zu kümmern. Zumal in Ostdeutschland, wo die Mütter fast ausnahmslos berufstätig waren. Wenn man sie nicht ignorierte, wurde mit Kindern zumeist gemeckert. Unter uns galt recht unverfälscht das sozialdarwinistische Recht des Stärkeren. Also kloppte man sich oft und hatte mitunter aufgeschlagene Knie. Unsere Klamotten wurden ausgebessert. Blieben wir beim Klettern über einen Gartenzaun mal wieder an einem Nagel hängen, dann wurde das Dreieck im Hosenstoff anschließend geflickt.

Fast jeder 64er hat eines oder mehrere Geschwister, was dazu führte, dass einem von Eltern und Verwandten nie übermäßig viel Aufmerksamkeit zuteilwurde. Narzissmus ist uns eher fremd. Eitelkeit auch. Weil wir mitunter die Klamotten der Älteren auftragen mussten, in meinem Fall war dies der ein oder andere Mädchenpullover oder knallbunte Anorak. Denn ich habe eine Schwester, sie ist zweieinhalb Jahre älter. Wir hatten zu lernen, vielen Versuchungen zu widerstehen. Näherte sich am Wochenende die ungeduldige Kinderhand an der in Sachsen so verbreiteten Nachmittags-Kaffeetafel dem Kuchenteller, dann gab es auch schon mal was auf die Finger. Die Botschaft war eindeutig: Warts ab, erst mal die Erwachsenen, du bist nichts Besonderes …

Und das war ich auch nicht, wäre da nicht mein Geburtstag gewesen. Der immerhin machte den klitzekleinen Unterschied aus. Weil stets Feiertag war. Und es sollen in der Stunde meiner Geburt am Leipziger Himmel tatsächlich Blumensträuße aus buntem Licht zu sehen gewesen sein, erzählte meine Mutter später. Denn es war der 7. Oktober, und die Mächtigen feierten mit einem aufwendigen Feuerwerk den 15. Jahrestag der Gründung ihres seltsamen Staates. Stets an einem Feiertag Geburtstag zu haben, hatte ich allen voraus, die ich kannte. Wenn ich jedoch als Kind mit aufrechtem Stolz berichtete, ich hätte am «Tag der Republik» Geburtstag, bekam ich oft verschämt lächelnd zu hören: «Ja, ja, du bist schon ein Glückspilz, an so einem großartigen Tag geboren zu sein …» Die Häme, die da mitunter mitschwang, erschloss sich mir nicht. Auf meinen Geburtstag war ich wirklich stolz. Was auch darauf fußte, dass an jenem 7. Oktober das Einheitsgrau des ostdeutschen Alltags stets von bunten Farbtupfern belebt wurde, denn überall in den Straßen wehten Flaggen – rote und kunterbunte. Es verlieh dieser Stadt im matten Herbstlicht ein freundlicheres Antlitz. Ich empfand das als großes Glück, zusammen mit meiner Heimat Geburtstag feiern zu dürfen, welche zu lieben und zu ehren wir Kinder stets angehalten wurden.

Abgesehen von solchen Farbtupfern spielte sich meine Kindheit in der Rückschau betrachtet in einer Palette der Grautöne ab. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es heute nur noch Schwarz-Weiß-Fotos aus dieser Zeit gibt; jedenfalls läuft in meiner Erinnerung stets ein ziemlich farbloser Film ab. So grau wie die bröckelnde, poröse Haut der betagten Häuser. Changierend zum eher rötlichen Grau der vom Industrieschmutz befleckten Dächer. Und dann war da dieses dunkle Grau des mächtigen, fast 100 Meter hohen Völkerschlachtdenkmals, welches sich in seiner düster-martialischen und klobigen Wucht über unserem Stadtteil Marienbrunn aufbaute wie der japanische Monster-Drache Godzilla. Nachts leuchteten am oberen Ende dieses Granit-Kolosses je zwei rote Lichter, die wie zwei böse glühende Augen in alle Himmelsrichtungen blickten.

Grau waren die Straßen mit ihrem rissigen Belag. Grau waren die Hemden der Polizei. Grau war die Wäsche, die zum Trocknen vor den Häusern auf den Leinen hing und die uns nass ins Gesicht klatschte, wenn wir beim Herumtoben den Kopf nicht tief genug senkten. Grau vom Wind, der die von Aschepartikeln schwangere Luft mal aus dem südlich gelegenen Böhlen und Espenhain mit ihren Kohlekraftwerken, mal aus den nördlich gelegenen Chemiewerken Wolfen und Bitterfeld nach Leipzig wehte. Selbst die wenigen Autos, die sich damals in unseren Triftweg verirrten, changierten im Spektrum der Grautöne – zwischen «delphingrau», «lichtgrau», «silbergrau» und «marmorweiß», wie es in der offiziellen Farbpalette des Einheitsautos der Marke Trabant hieß. Grau und müde wirkten auch die Gesichter der Menschen, im DDR-Sprech Werktätige genannt, die mit 40 schon wie Rentner aussahen, mit 60 wie Greise.

Für die wenigen Farbtupfer in diesem Meer aus Grau sorgten neben den erwähnten Fahnen an den Feiertagen auch die Propagandatafeln, weiße Schrift auf rotem Grund, die in den Betrieben, Schulen und wo auch immer für gute Laune sorgen sollten: «Die Deutsche Demokratische Republik – Retter des Friedens» oder «Unser Arbeitsplatz – Kampfplatz für den Frieden». Kampf, Frieden, Arbeit, Sozialismus, Volk – der Wortschatz der Mächtigen war überschaubar.

In all diesem Grau wirkte die Region, in der ich aufgewachsen bin, dennoch geradezu heiter. Marienbrunn wurde erst 1913 von kreativen Architekten nach dem Prinzip der Gartenstadt konzipiert. Ein Gebiet im Südosten Leipzigs, welches hundert Jahre zuvor, 1813, Schauplatz der entscheidenden Niederlage Napoleons gewesen war. Die kleinen Häuschen, vielfach in Kletterpflanzen gehüllt und eingebettet in Vor- und Hinterhausgärten, schienen tatsächlich einmal geplant worden zu sein, damit sich Menschen darin wohlfühlen. Vermutlich ist Marienbrunn das einzige Viertel in Leipzig, in dem die Straßen durch all die wechselnden Zeiten hindurch ihre Namen nie ändern mussten. Egal ob in Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nazizeit oder DDR: Rotkäppchenweg, Rapunzelweg, Froschkönigweg und Märchenwiese überdauerten sie alle. Marienbrunn blieb Marienbrunn, bemüht heiter und weitgehend ideologiefrei. Ein Kleinod, verglichen mit den zerfallenden Nachbarstadtteilen Connewitz oder Stötteritz, ganz zu schweigen vom tristen Osten der Stadt. Es gehörte zum Sound dieses Stadtteils, dass aus dem geöffneten Fenster eines der Häuser mitunter Klaviermusik auf den Dohnaweg flutete, während mich meine Mutter aus dem Kindergarten abholte; dazu war ein Bariton zu hören. Musiker wohnten hier, Wissenschaftler, Selbstständige und Menschen wie wir.

Meine Eltern waren unauffällige Leute – so unauffällig, wie es sich in dem kleinen Land der kleinen Leute ziemte. Mein Vater war 1933 in dem winzigen Thüringer Dorf Trügleben geboren worden, in dem man den Eindruck hatte, die Unbilden der Zeit – Nationalsozialismus, Krieg und Kommunismus – hätten es links liegen lassen. Ich glaube, etwas von dieser Weltabgewandtheit gehörte auch zum Wesen meines Vaters, den es als jungen Bauingenieur in die «Großstadt» Leipzig verschlagen hatte, wo er über einen Freund meine Mutter kennengelernt hatte, eine gebürtige Leipzigerin.

Mutter war die älteste von drei Töchtern...

Erscheint lt. Verlag 31.1.2023
Zusatzinfo mit Abbildungen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte Alltag in der DDR • Aufwachsen in Ostdeutschland • Autobiografie • Babyboomer • Bulgarien • DDR-Flucht • DDR-Funktionäre • deutsch-deutsche Geschichte • Fluchtgeschichte • Freiheit • Friedrich Nietzsche • Jugend in der DDR • Popmusik • schulzeit • Stasi-Haft • Ungarn • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-644-01515-5 / 3644015155
ISBN-13 978-3-644-01515-9 / 9783644015159
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