Mothertrucker - Unterwegs auf der einsamsten Straße Amerikas (eBook)
304 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-365-00217-9 (ISBN)
»Glücklichsein ist ein radikaler Akt« - die Geschichte einer Fahrt in ein mutigeres Leben
Nach außen führt Amy ein Bilderbuchleben: eine dreißigjährige Dozentin an einem kleinen College in Ohio, an dem sie Women's Literature unterrichtet. Sie besitzt ein eigenes Haus mit Garten und führt eine liebevolle Beziehung. So scheint es. Doch Daves Wutausbrüche werden gewalttätiger - und Amys Leben verkehrt sich zum Spießrutenlauf. Bis sie eines Abends den Instagram-Account von Joy »Mothertrucker« Wiebe entdeckt - der einzigen Frau, die den Dalton Highway fährt. Für Amy verkörpert sie alles, was sie sich gerade wünscht: Unabhängigkeit, Freiheit, ein Leben ohne Angst.
Kurze Zeit später ist sie mit Joy auf dem Weg nach Alaska. Sechs Tage verbringen die beiden Frauen gemeinsam in der rauen Landschaft und reden. Zurück in ihrem Leben, trifft Amy endlich eine Entscheidung. Joy kommt vier Monate später ums Leben. Dies ist ihre Geschichte; gewidmet allen Frauen, denen jemals Gewalt angetanwurde - und wird.
Furchtlos und fesselnd - über häusliche Gewalt und die Freundschaft zweier Frauen, die sich aus ihr befreien
<p>AMY BUTCHER ist Dozentin für Literatur und eine US-amerikanische Journalistin. Ihre Artikel erscheinen u. a. in der <em>New York Times</em>, <em>The Washington Post</em> und <em>Harper's Magazine</em>. Mit ihren drei Hunden, <em>phantastische Tierwesen</em>, lebt sie in Ohio.</p>
1.
Erst einige Wochen später, eingehüllt in den süßen Duft aus Auntie Anne’s Backshop und das künstliche Licht der Leuchtstoffröhren im Flughafen von Columbus, lasse ich den Gedanken zu, wie vollkommen verrückt das ist, was ich gerade tue: Ich fliege einmal quer durchs Land, um in Alaska eine Frau zu treffen, die ich auf Instagram entdeckt habe, eine Ice-Road-Truckerin, die sich »Mothertrucker« nennt. Obwohl ich ihr obsessiv folge, ist sie im Grunde noch eine Fremde für mich, nicht anders als all die Männer und Frauen, die hier im John Glenn Airport die Zeit totschlagen auf den begehrten Plätzen nahe den Steckdosen oder indem sie ihre zehntausend Schritte vollmachen oder sich beim Kundenservice lautstark über die Stand-by-Wartelisten beschweren, während die in Empathie geschulten Mitarbeiter eisern lächeln.
Auch ich übe mich in Empathie. Ich denke, eine gewisse Offenheit – ein gewisses Verständnis – wird mir helfen, wenn ich Joy treffe, wenn wir zu zweit im Kokon ihrer Fahrerkabine mindestens vierzehn Stunden miteinander verbringen werden, aus denen, wie sie sagt, auch leicht mal achtundvierzig Stunden werden können, abhängig von der Witterung oder den anderen Truckern oder dem Sagavanirktok River. Manchmal kommt es auch einfach auf die Straße an. Der James W. Dalton Highway ist die gefährlichste Straße Amerikas, vierhundertvierzehn Meilen Schotterpiste mit ein paar asphaltierten Abschnitten, die sich von Fairbanks aus hoch nach Norden bis zur Industriestadt Deadhorse und zu den Ölfeldern von Prudhoe Bay zieht. Jedes Jahr sterben mehr Fahrer auf dieser Strecke als irgendwo sonst in Amerika, hauptsächlich, da sich Mutter Natur auf den vielen Meilen von ihrer schlechtesten Seite zeigt. Sie führen durch einsame, entlegenste Wildnis, die Straße ist häufig verregnet oder spiegelglatt oder verschwindet im späten Frühling unter einer dichten Schneeschicht, sodass man nicht mehr sagen kann, wo der Boden aufhört und die Luft beginnt, was Straße ist und was Tundra, und wo alles verschwimmt, kann auch ein Menschenleben leicht verschwinden.
Die Wahrheit ist, dass ich nach einer Rettung gesucht habe, und Joy Mothertrucker erschien mir wie im Traum durch den perfeken Instagram-Filter, jedes Foto eine weitere Tür, die ich des Nachts öffnete, um zu entfliehen.
Joy ist auf Instagram eine Berühmtheit, auch wenn sie sich selbst nie so bezeichnen würde.
»Die Leute mögen einfach meine Fotos«, sagte sie bei unserem ersten Gespräch.
Ich stolperte an einem Winterabend über ihren Account, an dem ich nichts ahnend durch Fotos von perfekt angerichteten Tellern mit Pasta und hübschen Kindern mit schlafzerzausten Löckchen scrollte, von weißen Designer-Wohnzimmern und süßen Goldendoodles. Ich stieß auf eine frischgebackene Fünfzigjährige mit dem Gesicht von Kate McKinnon und einem Körper wie einem Ausrufezeichen – drahtig, kompakt, bereit für die Augen der Welt –, die einzige weibliche Ice-Road-Truckerin im ganzen Land, eine Frau, die sich ein Leben aufgebaut hatte, indem sie riesige Tanklaster den James W. Dalton Highway entlangfuhr und seine außergewöhnliche Schönheit dokumentierte: naturbelassen, schneebedeckt und eisblau.
Joy nennt diesen eiskalten Ort den Himmel.
Sie sagt, der Highway sei nahezu heilig.
Mir kommt sie gottesgleich vor.
Dass Joy derartigen Neid in mir auslöst, mag absurd klingen. Unterm Strich bin ich genau die Art Frau, mit der die amerikanische Gesellschaft gut zurechtkommt: eine dreißigjährige Dozentin an einem kleinen College in Ohio, die Bücher schreibt und Studienanfänger berät und Women’s Literature unterrichtet. Ich besitze ein eigenes Haus und pflege meinen Garten. Im Frühling leihe ich mir den Pick-up eines Freundes, um neue Erde heranzukarren. Ich setze mit der Ladefläche zurück bis an die hintere Ecke des Gartens und verteile den Kompost mit einer stabilen grünen Harke. Nachbarn, Freunde und Familie merken häufig an, wie unabhängig ich sei. Sie nennen mich mutig. Stark. Und dennoch habe ich die letzten drei Jahre hauptsächlich in Gegenwart eines Mannes verbracht, dessen Verhalten mir Angst macht, dessen Selbstwert und Machtgefühl daran gekoppelt zu sein scheinen, mich niederzumachen. Dave ist liebevoll, zumindest die meiste Zeit, doch in den Momenten, in denen er nicht liebevoll ist, lebe ich in Angst und verliere all die Stärke, die ich normalerweise aus den Bereichen ziehe – beruflich und privat –, die über ihn und unsere Beziehung hinausgehen. Mit der Zeit ist das Gefühl der Freiheit aus unserer Beziehung verschwunden, aus einer idyllischen Partnerschaft, die natürlich auch Kompromisse erfordert hat, ist ein Käfig geworden, in dem ich auf und ab tigere, und das trotz unserer minimalistischen Bilder von West Elm, der dreistufigen Bücherregale, die an unserer Wand lehnen, und der geschmackvoll gewählten Farbakzente, auf die wir uns geeinigt haben, damit sie das Licht reflektieren.
Häufig denke ich: Verlass ihn.
Doch ich tue es nicht. Es passiert einfach nicht.
Stattdessen sehe ich mir im tiefsten Winter vier Monate lang von meinem zerrütteten Zuhause im grauen Ohio aus – wo nicht nur das Wetter tobt, sondern auch der Mann, den ich liebe – Joys Welt an. In Joy Mothertruckers Foto-Feed – jenen zarten, fragilen Farbkacheln – wirkten das Klima und die Erde beherrschbar, die Männer gastfreundlich und gut. Hier war eine Frau, die ihr Zuhause an einem Ort unvorstellbarer Furcht und Gefahr errichtet hatte, in einer von Männern und Maschinen dominierten Landschaft, in einem Berufszweig und einem so entlegenen Gebiet, dass eine Google-Suche hauptsächlich Bilder von haushohen Schneewehen ausspuckt und von wie Papier zusammengeknüllten verunglückten Sattelschleppern, als hätte Gott sie in seiner Faust zerquetscht.
Es war nicht schwer, ihre Telefonnummer herauszufinden. Ich kritzelte die Ziffern mit einem Edding auf ein Post-it. Dann klebte ich es an den Kühlschrank.
Doch es dauerte eine Weile, bis ich sie wirklich anrief. Als Dave mich eines Abends so sehr angebrüllt hatte, dass ich auf dem Boden kauerte, dass mein Körper sich vor lauter Angst verselbstständigte – als mir zum ersten Mal klar wurde, was er tat, dass meine Schockstarre genau das war, was er wollte, als ich begriff, wie oft ich all die Monate über dieses Verhalten zugelassen hatte, das unsere Abende bestimmte und immer wieder eskalierte –, erst da dachte ich an Joy Mothertrucker. Ich dachte an das Wort Ausweg. Ich dachte an all die Frauen in Amerika, die meinen, Gewalt und Misshandlung würden ihnen niemals passieren, bis es so weit ist. Und ich sah das kleine Viereck an meinem Kühlschrank, als wäre es genau für diesen Moment dort platziert worden, in dem ich vom Boden aufsehen und das Potenzial all dessen erkennen würde, das für alle Augen sichtbar auf mich wartete, irgendwo jenseits dieser Todesangst.
Am nächsten Morgen, als Dave bei der Arbeit war, sah ich dem Uhrzeiger zu, bis eine akzeptable Zeit erreicht war, und griff zum Telefon.
In Alaska war es acht Uhr morgens und Joy saß am Schreibtisch, da sie sich verletzt hatte.
Ich fürchtete, die Worte würden mir in der Kehle stecken bleiben, doch stattdessen kamen sie ganz leicht heraus.
»Ich würde Sie«, sagte ich, »wirklich gerne kennenlernen.«
*
Meine Reise überbrückt vielleicht die Entfernung, die uns als Fremde trennt, und führt zwei unterschiedliche Welten zusammen, doch während sich das Terminal mit Menschen füllt, wird mir bewusst, dass mein Bild von Joy aus ein paar losen Fäden besteht, die ich zu einer Person verknüpft habe.
Ich weiß beispielsweise, dass sie schlank ist, lange braune Haare hat und wie jemand aussieht, der bestimmt einen leckeren, herzhaften Eintopf kochen kann – vielleicht mit Kartoffeln und roten Linsen, Grünkohl und halbmondförmigen Karottenscheiben.
Ich weiß, dass sie eine siebzehnjährige Tochter hat, Samantha, und bereits seit Jahrzehnten in zweiter Ehe lebt.
Ich weiß, dass ihre Familie etwas außerhalb von Fairbanks auf einem Stück Wildnis in einer Holzhütte lebt, die sie gemeinsam gebaut haben, nachdem die erste Hütte abgebrannt ist, mit einem Maultier und mindestens einem Pferd und mehr Hunden, als dass man den Überblick behalten könnte.
Joy hat mir erzählt, dass sie das Grundstück ausgewählt haben, weil es abgeschieden liegt und eine fantastische Aussicht bietet. Auf den Fotos, die sie mir in den vergangenen zwei Wochen geschickt hat – seit ich angerufen und mir einen Flug gebucht habe, schreiben wir uns gelegentlich –, steht ihr Maultier aufgezäumt vor einem Waldstück, das unter einer glitzernden Schneedecke liegt. Ein Samojedenwelpe tobt mit grasgrünen Pfoten über eine Wiese. In der Einfahrt parkt Joys glänzender Sattelzug, frisch gewaschen und poliert, in schickem Dunkelblau.
In diesem Truck vollzieht sich Joys Verwandlung von Joy Ruth Wiebe zu Mothertrucker – ein Spitzname, den ihr Sohn Daniel ursprünglich für ihren Instagram-Account vorgeschlagen hat, doch mittlerweile ist daraus eine eigene Persönlichkeit geworden, der über elftausend Menschen folgen.
Was Joy betrifft, lasse ich meiner Fantasie freien Lauf, doch bezüglich des Highways kenne ich die Fakten. Der James W. Dalton Highway ist die längste Straße ohne Verpflegungsmöglichkeit in Nordamerika und ein geografisches Wahrzeichen, das zum Glück ausführlich dokumentiert wurde, sowohl in Büchern und dem Internet als auch in Film und Fernsehen. Laut meinen...
Erscheint lt. Verlag | 25.10.2022 |
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Übersetzer | Dietlind Falk, Christiane Sipeer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Mothertrucker. Finding Joy on the Loneliest Road in America |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Partnerschaft / Sexualität | |
Schlagworte | Alaska • Cheryl Strayed • Dalton Highway • Demi Moore • Der große Trip • Frauenfreundschaft Film • Frauenfreundschaft Roman • Häusliche Gewalt • häusliche Gewalt gegen Frauen • Ice Road Truckers • I Love Dick • Into the wild • Joey Soloway • Leslie Jamison • rebecca solnit • Thelma und Louise • toxische Beziehung • Trucker Babes |
ISBN-10 | 3-365-00217-0 / 3365002170 |
ISBN-13 | 978-3-365-00217-9 / 9783365002179 |
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