Zugang verwehrt (eBook)
126 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-197-5 (ISBN)
Prof. Dr. Francis Seeck, 1987 in Ostberlin geboren, ist Professor:in für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Demokratie-/Menschenrechtsbildung, Autor:in und Antidiskriminierungstrainer:in. Als Kind einer alleinerziehenden, erwerbslosen Mutter erlebte Seeck schon früh die Auswirkungen der Klassengesellschaft. Heute forscht und lehrt Seeck zu Klassismuskritik, Antidiskriminierung und politischer Bildung. 2020 gab Seeck den breit beachteten Sammelband ?Solidarisch gegen Klassismus? mit Brigitte Theißl heraus.
Prof. Dr. Francis Seeck, 1987 in Ostberlin geboren, ist Professor:in für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Demokratie-/Menschenrechtsbildung, Autor:in und Antidiskriminierungstrainer:in. Als Kind einer alleinerziehenden, erwerbslosen Mutter erlebte Seeck schon früh die Auswirkungen der Klassengesellschaft. Heute forscht und lehrt Seeck zu Klassismuskritik, Antidiskriminierung und politischer Bildung. 2020 gab Seeck den breit beachteten Sammelband ›Solidarisch gegen Klassismus‹ mit Brigitte Theißl heraus.
Kapitel 1: Klassismus: Die ignorierte Diskriminierungsform
Der Begriff Klassismus bezeichnet die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Klassismus ist also eine gesellschaftliche Unterdrückungsform, so wie etwa Rassismus und Sexismus.[12] Diese Unterdrückungsform richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter:innenklasse, zum Beispiel einkommensarme, erwerbslose oder wohnungslose Menschen. Sie trifft aber auch Arbeiter:innenkinder und richtet sich außerdem gegen Menschen bestimmter nicht-akademischer, körperlicher oder praktischer Berufe, etwa gegen Bäuer:innen oder Handwerker:innen. Klassismus dient der Abwertung, Ausgrenzung und Ausbeutung von Menschen und der Aufrechterhaltung und Legitimierung von sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft. Er hat Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Teilhabe, Anerkennung, Netzwerken, Macht und Geld. Klassismus führt dazu, dass Menschen entlang von ihrem Einkommen, ihrem Beruf und ihren Bildungsabschlüssen hierarchisiert werden.[13]
Bei Klassismus geht es also nicht zuletzt um Hierarchie und Zugang zu Macht. Folglich gibt es in unserer Gesellschaft auch keinen Klassismus gegen reiche Menschen oder die Mittelklasse – ebenso wie es keinen Rassismus gegen weiße Menschen gibt.[14] Denn Personen, die gesellschaftlich Macht innehaben, können strukturelle Diskriminierung ausüben, andersherum ist das nicht möglich. Vorurteile gibt es gegen alle Klassen, aber das Unterdrückungsverhältnis Klassismus funktioniert nur von oben nach unten.
Dazu gehört nicht nur, dass bestimmte Gruppen von Benachteiligung betroffen sind, sondern auch, dass andere Gruppen Vorteile genießen: Klassenprivilegien sind das Gegenstück zu klassistischer Diskriminierung, und sie sollten in der Debatte um Klassismus gleichermaßen thematisiert werden. »Geld ist nicht so wichtig«? »Geld ist nicht alles«? Sich über Geld wenig oder keine Gedanken machen und beim Einkaufen nicht auf den Preis achten zu müssen, ist ein Klassenprivileg. Sich nie Sorgen machen zu müssen, wie man die eigene Miete bezahlen kann, ist ebenfalls Ausdruck klassenbezogener Privilegien. Es ist ein Privileg, entscheiden zu können, wann man einen Job annimmt und wie lange man ihn ausüben möchte. In Urlaub fahren zu können. Nie aus Kostengründen eine Mahlzeit ausfallen lassen zu müssen. Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben. Nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Ein eigenes Zimmer zur Verfügung zu haben. Oder eine eigene Wohnung. Ein eigenes Haus oder gar mehrere. Immer ein eigenes Zuhause gehabt zu haben. Sich in der Nachbarschaft sicher zu fühlen. Etwas unkompliziert ersetzen zu können, wenn es kaputtgeht. Jemanden anderes anstellen zu können, um das eigene Zuhause sauber zu machen.
Es ist auch ein Privileg, politisch von Menschen vertreten zu werden, die ähnliche Erfahrungen und Lebenswege haben: Im Bundestag gibt es nur wenige Abgeordnete, die nicht studiert haben. Oder die eigenen Lebensumstände in Literatur oder im Film gespiegelt zu bekommen: In den meisten TV-Serien und Filmen haben sämtliche Familien große Häuser und gut bezahlte Jobs. Der Grund für diese Privilegien ist: Die Mittelklasse stellt in dieser Gesellschaft die Norm dar – das heißt, sie gilt als normal –, während Personen aus der Arbeiter:innenklasse als Abweichung behandelt werden.
Die sozialen Unterschiede unserer Gesellschaft hat uns die Coronapandemie auf unübersehbare Weise vor Augen geführt. Erwerbslosigkeit und unsichere Beschäftigungsverhältnisse nahmen zu. Einige wenige wurden reicher, und Klassenprivilegien wurden offensichtlicher. Die einen konnten es sich zu Hause gemütlich machen, im Homeoffice arbeiten, sich Essen nach Hause bestellen und sich durch Rückzug vor dem Virus schützen; die anderen mussten sich beispielsweise als Pfleger:innen oder Verkäufer:innen weiter gering entlohnt dem Virus aussetzen. Die einen verbrachten den Lockdown in komfortablen, lichtdurchfluteten Häusern mit eigenem Garten. Die anderen saßen in engen und dunklen Wohnungen fest oder hatten als Wohnungslose gar keinen Ort, an dem sie in Sicherheit waren. Die Journalistin und Autorin Nelli Tügel stellt fest, dass vor dem Coronavirus nicht alle gleich sind:
»Wer etwa in beengten räumlichen Verhältnissen lebt, ist verletzlicher als Personen, die sich in ihre großzügigen Häuser zurückziehen können. Wer darauf angewiesen ist, mit dem öffentlichen Nahverkehr zum Ort der Lohnarbeit zu fahren, ist wesentlich anfälliger für eine Ansteckung als andere. Gerade auch unter den besonders vulnerablen alten Menschen sind viele, die arbeiten gehen müssen, um ihre Rente aufzustocken.«[15]
Die soziale Ungleichheit ist enorm: Die acht reichsten Menschen weltweit besitzen ein Vermögen von 426,2 Milliarden US-Dollar, sie besitzen damit so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.[16] Während der Coronapandemie hat sie sich zusätzlich weiter verschärft. Seit März 2020 wurden in Deutschland mehr als 600000 Menschen erwerbslos. Im April waren rund sechs Millionen Menschen in Kurzarbeit, mehr als in der Finanzkrise 2008 und 2009, ein Rekord. Die Armutsquote ist mit 15,9 Prozent in Deutschland laut Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes so hoch wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr.[17] Auch in der Schweiz ist nahezu jede sechste Person von Armut bedroht.[18] In Österreich sind 17,5 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet.[19] Auf der anderen Seite wächst das Vermögen der Milliardär:innen seit Beginn der Coronapandemie weiter, in Deutschland und weltweit. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher schreibt dazu: »Während die Wirtschaft eingebrochen ist, haben die 2700 Milliardäre weltweit im Corona-Jahr ihr Vermögen um 60 Prozent gesteigert. Was für eine perverse Entwicklung«.[20] Als Gründe benennt er die boomenden Aktienmärkte, die Annahme staatlicher Hilfen und Kurzarbeit der Arbeiter:innen bei gleichzeitiger Ausschüttung der Dividenden an die Aktionär:innen.[21] Auch die zehn reichsten Deutschen verbuchten Ende des Jahres 2020 eine Steigerung ihres Vermögens um 35 Prozent gegenüber Februar 2019.
Klassismus wurde als Thema lange ignoriert, obwohl er äußerst wirkmächtig ist. Anders als die Diskriminierungsformen Sexismus und Rassismus war Klassismus bis vor Kurzem beinahe unbekannt.
Nachdem Andreas Kemper und Heike Weinbach vor über zehn Jahren das Buch Klassismus. Eine Einführung veröffentlicht hatten, geschah zunächst wenig. Dies ändert sich nun. Jüngst erschienen in Deutschland mehrere literarische und autobiografische Bücher, die sich mit dem Thema Klasse auseinandersetzen. Bekannt wurden insbesondere Christian Barons Ein Mann seiner Klasse, Anna Mayrs Die Elenden, Daniela Dröschers Zeige deine Klasse und Deniz Ohdes Streulicht. Vorausgegangen waren vielbeachtete Übersetzungen aus dem Französischen: Rückkehr nach Reims von Didier Eribon, Das Ende von Eddy von Édouard Louis, Die Jahre von Annie Ernaux. Auch im Bereich Sachbuch tut sich etwas: Im Jahr 2021 wurden kurz nacheinander die Sammelbände Solidarisch gegen Klassismus, herausgegeben von Brigitte Theißl und mir, sowie Klasse und Kampf, herausgegeben von Christian Baron und Maria Barankow, veröffentlicht.
Es wird immer deutlicher: Wir müssen über unsere Klassengesellschaft und über Klassismus reden. Ich selbst arbeite beruflich zu Klassismus. Bei meiner Tätigkeit als Antidiskriminierungstrainer:in erlebe ich, wie notwendig und unsichtbar zugleich das Thema in der Antidiskriminierungsarbeit ist. Als Wissenschaftler:in gehe ich dem Thema forschend nach. Mit diesem Buch zeige ich nun, wie Klassismus unsere Gesellschaft grundlegend prägt und warum wir uns dagegenstellen müssen. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die vergessenen und ignorierten Debatten aus feministischen, queeren und Schwarzen Bewegungen, außerdem auf Analysen jener, die nicht sozial aufgestiegen sind. Denn Klassismus ist kein Begriff, der von weißen Männern am Schreibtisch erfunden wurde, auch wenn innerhalb der Debatte bisweilen dieser Eindruck entstehen kann.
Die Wurzeln der Klassismusdebatte liegen in feministischen und lesbischen Bewegungen vergangener Jahrzehnte.[22] US-amerikanische (lesbische) Feministinnen setzten sich bereits in den 1970er-Jahren mit Klassenunterschieden und Klassismus auseinander.[23] Der Begriff Klassismus, oder »classism«, tauchte nach aktuellem Forschungsstand erstmals 1974 in Sozialen Bewegungen auf, nämlich bei der US-amerikanischen lesbischen Gruppe The Furies; die Beteiligten wiesen damit auf Klassenunterschiede in der Frauenbewegung hin.[24] Schwarze Feministinnen wie bell hooks machten früh darauf aufmerksam, dass die verschiedenen Unterdrückungskategorien zusammenhängen, sich gegenseitig bedingen und im Zusammenspiel auch eigene Formen der Diskriminierung entstehen...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2022 |
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Reihe/Serie | Atrium Zündstoff | Atrium Zündstoff |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Arbeiterklasse • Arbeitslosenfeindlichkeit • Diskriminierung • Essay • Gesellschaftskritik • Klassismus • Schere zwischen Arm und Reich • Soziale Ungleichheit • Streitschrift • Zündstoff |
ISBN-10 | 3-03792-197-8 / 3037921978 |
ISBN-13 | 978-3-03792-197-5 / 9783037921975 |
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