Wie wir unsere Kinder retten - und die Welt dazu (eBook)
192 Seiten
Gräfe und Unzer (Verlag)
978-3-8338-8224-1 (ISBN)
Martina Leibovici-Mühlberger ist eine der bekanntesten Psychotherapeutinnen und Ärztinnen Österreichs. Sie ist Besteller-Autorin und als Beraterin für Politik- und Bildungsinstitutionen tätig.
Martina Leibovici-Mühlberger ist eine der bekanntesten Psychotherapeutinnen und Ärztinnen Österreichs. Sie ist Besteller-Autorin und als Beraterin für Politik- und Bildungsinstitutionen tätig.
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Impressum
Vorwort
Was Corona unseren Kindern angetan hat
Der Notfallplan – Katalog erster Maßnahmen
Die Krise als Weckruf – wir haben es in der Hand
Was uns zu Siegern macht – Zeit des Umbruchs
Erziehung für die Zukunft
Wie sich unsere Zukunft anfühlen wird
Die Autorin
Was Corona unseren Kindern angetan hat
Eigentlich hatte ich vorgehabt, in der kurzen Mittagspause meines Praxisalltags in den nahen Park zu eilen, um die Sonnenstrahlen eines der ersten wirklichen Frühlingstage im März in mich aufzusaugen. Irgendwie war es seltsam, aber dieses Jahr spürte ich ein ganz besonderes Bedürfnis nach der Wärme des Erwachens der Natur. Der Wunsch schien mir von ganz tief drinnen zu kommen, so als würde ich mich meiner eigenen Lebendigkeit vergewissern müssen. Frühjahr 2021, mehr als ein Jahr Pandemie fordert eben seinen Tribut. Doch dann kam alles anders, als ich es mit naiver Leichtigkeit geplant hatte.
Auf den ersten Blick wirkte der Park so wie immer um diese Jahreszeit. Die Zweige waren zwar noch winterkahl, aber bereits mit fühlbarem Bersten an den äußersten Spitzen gefüllt, und die milde Luft gab eine leise Vorahnung auf den nächsten Sommer. In Beeten hatten sich Märzenbecher ans Licht gekämpft und boten ersten Insekten Landeplatz und Labung. Eigentlich perfekt, die Szenerie. Doch im Nachhinein betrachtet, erscheint mir jene Begebenheit, die ich in dieser Idylle erlebte, wie die mögliche Gestaltwerdung zukünftigen Unheils, ganz so, wie sich dem Augur Spurinna einst am Vogelflug eröffnet hatte, dass an den nahenden Iden des März Roms größtem Herrscher Gaius Julius Cäsar der Tod bevorstünde.
Der Anlass hätte banaler nicht sein können, die Wirkung nicht erschreckender. Außer mir sind nur wenige Besucher im Park, vor allem einige Mütter mit Kinderwagen. Ein Kleinkind, das sich im Alter wohl gerade zwischen seinem zweiten und dritten Geburtstag bewegt, sitzt in seiner jagdgrünen Gummihose da, vertieft in sein Spiel, in der flachen Sandkuhle. Allerlei leuchtend buntes Plastikspielgerät liegt griffbereit. Mit Rechen, Schaufel und Kübel scheint der Bub hier auch schon einige Vorarbeit geleistet zu haben. Nun beginnt er einen Monstertruck mit passender Bereifung auf seinem Parcours zu bewegen, wobei er neben ihm her kriecht und das Motorengeräusch laut nachahmt. Damit scheint er die Aufmerksamkeit eines etwas jüngeren Kindes erregt zu haben. Mit torkelnden Schritten setzt es sich in Richtung des Buben in Bewegung, um sich neben ihm niederzulassen und nach dem Truck zu greifen. Das ist allerdings nicht ganz nach den Plänen des Truckfahrers, der seinen Unwillen durch entschlossen abwehrende Äußerungen sowie mit dem deutlichen Wegschieben des Gegenübers vom Spielzeug zum Ausdruck bringt. Der jüngere Knirps schnappt sich daraufhin den roten Sandkübel und greift nach der dazu passenden Schaufel. Doch der energische Truckpilot hat augenscheinlich im Unterschied zum jüngeren Kind bereits ein solides erstes Verständnis von Besitz entwickelt, zumindest was den eigenen angeht, und erlebt hier einen Raubversuch. Dass so etwas Widerstand und Strafe verdient, liegt auf der Hand – auf genau derselben, die dem Räuber entschlossen ins Haar fährt und sich dort festkrallt.
In dem Moment, als beide Kinder ineinander verkeilt sind, werden ihre Mütter aufmerksam. Jene des älteren Jungen war wohl zuvor durch das Geschwisterchen im Buggy abgelenkt gewesen, die des jüngeren Buben durch ihr Handy, das sie auch jetzt noch fest umklammert und wie einen Schild in die Höhe hält. Mit raschen Schritten ist die erste Mutter bei ihrem Sohn und reißt ihn vom anderen Kind weg, als gälte es, ihn vor den Zähnen eines Raubfisches zu retten. „Können Sie nicht auf Ihr Kind aufpassen?“, herrscht sie die ebenfalls in der Zwischenzeit bei ihrem Sohn angelangte andere Mutter heftig an. Deren Kind sitzt nun vollkommen verdutzt im Sandbett und hält noch immer mit seinen patschigen Händen das Beutestücke fest umklammert. Während seine Mutter unter heftigem Protest ihres Sprösslings seinen Griff lockert, Kübel und Schaufel demonstrativ neben den Truck stellt und ihr Kind ebenfalls zu sich hochnimmt, verteidigt sie sich: „Ist ja wohl nichts passiert! Sind doch Kinder.“
Für die erste Mutter scheint diese Antwort erst recht der Beweis dafür zu sein, dass die andere den Ernst der Lage nicht kapiert hat. „Abstand halten! Ist Ihnen das nicht klar? Wo leben Sie?“, faucht sie. War ihr Ton zuerst hoch alarmiert, so klingt sie jetzt vielmehr entrüstet, wütend, zurechtweisend und eindeutig deutlich schulmeisternd. „Sie sind wohl auch eine von diesen Corona-Leugnerinnen“, schiebt sie noch verächtlich nach, „und vollkommen verantwortungslos.“
Die andere Mutter wirkt jetzt deutlich überfordert von der Heftigkeit der Kontrahentin und vielleicht sogar etwas schuldbewusst. Jedenfalls zieht sie sich ohne weiteren Kommentar, aber mit gleichzeitig abwehrenden Armbewegungen zum Stützpunkt ihrer Parkbank und ihrem Kinderwagen zurück.
Die erste Mutter blickt sich nun um, als würde sie Zustimmung suchen. Wieder einmal wünsche ich mir Unsichtbarkeit in dieser schon lange als Glaubensfrage ausgetragenen Coronakrise, in der zunehmend die Verhältnismäßigkeit in der Diskussion aus dem Fokus gerät und Polarisation und Gegnerschaft entstehen. Ich würde jetzt ungern instrumentalisiert werden. Was mich hingegen tatsächlich stark beschäftigt und mich viel mehr als dieser Streit angerührt hat, war der Blick der Kinder, die gebannt ihre Mütter als Taktgeberinnen und Weltbildbegründerinnen beobachtet hatten. Eine klassische Lernsituation von erhöhter Relevanz war das hier für die beiden Kleinen gewesen. Denn schließlich hatten ja beide Mütter starke Affekte, also ein emotionales Mitschwingen gezeigt. So etwas, wie das eben, musste also einfach etwas bedeuten. Und damit war es hoch relevant für die Buben gewesen.
Ist ja auch logisch, wenn man den Blickwinkel unserer Spezies einnimmt und noch so am Beginn des Lebens steht wie die beiden Knirpse in der konfliktbeladenen Sanddüne eines Wiener Innenstadtparks. Viel können wir am Anfang nämlich wirklich nicht, und viele vorgeformte Programme, wie soziales Leben zu gestalten ist, sind uns tatsächlich nicht auf der Festplatte des Gehirns aufgespielt. Dafür ist Letzteres aber auch extrem plastisch, wahnwitzig anpassungsfähig und unwahrscheinlich lernwillig, genau genommen eigentlich wie ein Schwamm, der in der jeweiligen Umgebung alles aufsaugt. Fazit: Es dauert nur einige Jahre, bis wir es draufhaben, wie es in unserer jeweiligen Umwelt so läuft und was man von uns erwartet. In gewisser Weise könnte man sagen, dass in unserem Hirn ein Abdruck der uns umgebenden sozialen Welt mit ihren Regeln, Erwartungen, Selbstverständlichkeiten und dem hier Gebräuchlichen entsteht. Damit haben wir Orientierung gewonnen und kennen uns aus. Das geht mit einem Gefühl von Erwart- und Planbarkeit einher und bewirkt, dass wir in dieser uns vertrauten Welt keinen Stress haben.
In Summe ist es ein langer, umfassender und schwieriger Prozess, jene Sozialisierung, die es dafür braucht, dass wir mit sicherem Gefühl im Bauch später auch allein durch die Welt ziehen können. Ganz zu Beginn agieren unsere Eltern und die Familie als erste Vermittler zwischen der uns umgebenden Welt sowie ihrem Funktionieren und uns. Etwas später wirken bereits Kindergarten, Schule und die Gesamtgesellschaft, die ganz heftig und mit modernen Medien immer früher in das Leben der Kinder hineinspielen. Das Ganze nennt man Erziehung, und sie bestimmt maßgeblich, welche Kultur wir im Umgang miteinander ausbilden und als richtig erleben.
Aber was war das eben gerade für eine Lernsituation für diese Knirpse gewesen, für sie, die doch noch ganz am Anfang ihres Lebens stehen? Welche Lehre nahmen die Buben unmerklich mit in ihr weiteres Aufwachsen? In welcher Weise hatte der Meißel sozialen Lernens unter der Kraft des Hammerschlags dieser Erfahrung das Gesamtbild des Umgangs miteinander geformt?
Die unbestrittene Hauptquelle für die Herausbildung ihrer zukünftigen eigenen Einschätzung, wie Dinge und Situationen, die in ihrem Leben geschehen, zu bewerten sind, waren für beide in dieser Lebensphase eindeutig noch ihre primären Bezugspersonen, also Mütter und Väter. Was haben jene Buben gerade eben aus allererster Hand über die Welt gelernt? Was könnten sie wohl aus dieser Situation mitgenommen haben? Und welche Botschaft wurde ihnen soeben über sozialen Umgang vermittelt?
Wie viele Situationen von Alarmiertheit seiner Mutter, wenn sich ihm ein anderes Kind nähert, hatte der ältere Junge bereits erlebt? Und wie viele werden wohl noch kommen, sollten diese Pandemie und die mit ihr verbundene Umgangskultur vielleicht noch ein Jahr oder gar länger weiter anhalten? Wie aber wird sich dies auswirken auf eines der wirklichen Grundprogramme, die jedes Kind in seinem Kopf trägt – dem nach sozialer Nähe und unmittelbarem Kontakt mit anderen? Sicher nicht förderlich, sondern gegenläufig. Wie lange muss man ein Kind wohl vom unmittelbaren haptischen Kontakt mit seinen Altersgenossen zurückhalten, bis das lebendige Bedürfnis nach dem anderen Menschen, die Neugierde auf den anderen, zum Erliegen kommt, das ursprüngliche Programm nach Kontakt nachhaltig überschrieben ist?
Auch wenn ich keine fertigen Antworten auf diese Fragen parat hatte, so bereiteten sie mir im Resonanzkörper meiner eigenen gefühlten gewachsenen Existenz als Mensch, so wie ich Menschsein und menschliches Miteinander interpretiere, deutliches Unbehagen. Solche Gefühle kenne ich, bin immer wieder einmal von ihnen getroffen worden, immer dann, wenn ich mit Zeugnissen des Verlusts von Menschlichkeit konfrontiert werde, unser Sein als empathisches Sozialwesen verloren geht. Aber war das hier denn so ernst zu nehmen?
Die Mutter des Truckpiloten hatte ihren Sprössling, jetzt wo die andere das Feld geräumt hatte, wieder auf den Boden gelassen. Den roten Sandkübel und die Schaufel stieß sie mit...
Erscheint lt. Verlag | 4.7.2022 |
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Reihe/Serie | Edition Gesellschaft | Edition Gesellschaft |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | Anorexie • Bulimie • Corona • Coronahilfe • Corona Langzeitfolgen • Eltern • Elternratgeber • erziehen • Erziehung • Erziehungsratgeber • Erziehungsstil • Essstörung • Familie • Familienleben • GU • Jugendliche • Kinder • Krisen bei Kindern • long covid • Magersucht • Pandemie • Probleme Jugendliche • Psychische Probleme • Psychotherapeutin • Psychotherapie • Pubertät • Säuglinge • Soziophobie • Systemsprenger • Unterstützung • Unterstützung Eltern • verhaltensauffällig • Verhaltensauffälliges Kind • Waschzwang |
ISBN-10 | 3-8338-8224-7 / 3833882247 |
ISBN-13 | 978-3-8338-8224-1 / 9783833882241 |
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Größe: 4,3 MB
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