GANZ NACKT (eBook)
316 Seiten
TWENTYSIX (Verlag)
978-3-7407-9775-1 (ISBN)
Christina & Reiner Sogl erforschen seit Jahren leidenschaftlich eine neue Art, Partnerschaft und Intimität zu leben, und finden Wege, durch die klassischen kollektiven Stolpersteine hindurch Liebe größer zu denken. Christinas beruflicher Hintergrund als Körpertraumatherapeutin verbindet sich mit ihrer beider Bereitschaft zu radikal aufrichtiger Begegnung zu einem inspirierenden Entwicklungsprozess, den sie in diesem Buch kleinteilig und konkret teilen, ohne die tückischen Stolpersteine auszulassen.
1.
DIE RUCKSÄCKE,
DIE WIR TRAGEN
CHRISTINA:
Ich hatte zwanzig Jahre Ehe und eine kurze, aber für mich sehr wichtige Beziehung hinter mir – vielleicht die wichtigste bis hierher. Als Ehemann hatte ich, wie auch zuvor, einen Mann ausgewählt, der genauso wenig emotional erreichbar war wie meine Mutter. Hatte ich ihn überhaupt bewusst gewählt? Von jetzt aus betrachtet: Nein. Wir hatten uns gegenseitig mit Projektionen und Erlösungserwartungen überfrachtet. Sein Satz »als ich dich das erste Mal gesehen hatte, wusste ich, dass ich dich heiraten will« hatte es geschafft, durch all meine Schutzmechanismen hindurch geradewegs an die tiefste unerfüllte Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe und Annahme zu rühren. Das hatte ich nicht wirklich für möglich gehalten – darum hatte ich zugegriffen, wenn ich nun schon der einen Ausnahme begegnet war.
Es war wohl auch diese Unkenntnis von etwas Besserem, dieser fehlende Glaube daran, der mich so lange in dem Versuch festhielt, diesen Mann aus sich hervorzulieben. Dabei steckte er so voller Lebensangst, dass er sich auf nichts und niemanden wirklich einlassen konnte, weil die Realität viel zu schmerzhaft für ihn gewesen war. Nur in seiner Musik (er spielte Klavier, komponierte und sang dazu eigene Lieder) war er ganz da und sang von der perfekten Liebe, die er ersehnte. Zu Hause mit mir und später auch mit unseren Kindern scheiterte die perfekte Liebe Tag für Tag an der Realität.
Obwohl wir beide eine große Liebe zum Musikmachen teilten, fanden wir keine Möglichkeit, die Musik selbst zu teilen und etwas Gemeinsames daraus zu machen – noch heute spüre ich die große Tragik darin.
Zwei Jahrzehnte war ich immer wieder gegen die kalte Wand seiner Unberührbarkeit gelaufen, suchend, sehnend, hatte mir jedes Mal schrecklich wehgetan dabei und es mir als Liebe zurechtgelegt, mit diesem Schmerz, diesem ungestillten Hunger zu leben. So gewöhnte ich mich an den Schmerz, bis ich ihn kaum noch spürte. Er war zu einem Silberfaden der Sehnsucht geronnen, der mein Leben durchzog und mich anfällig machte, mich in andere Männer zu verlieben – nie mit dem Gedanken an eine Affäre nebenher, sondern als echte Option für eine wirklich nahe Beziehung. Immer waren es Männer, die so voller Angst waren, dass sie an der Schwelle zur Wahl einer wirklich neuen Realität den Rückzug und das Vertraute wählten.
So blieb ich zwei Jahrzehnte in einer Beziehung, in der ich trotz recht intensivem scheinbar gemeinsamem Ringen (sieben Jahren davon mit regelmäßigen Zwiegesprächen nach Michael Lukas Möller) verhungerte: Sex gab es kaum – weil mein Gefährte in diesem Raum der Intimität keine Worte hatte und schmerzfreie und willige Pornos zunehmend der realen Begegnung mit meinen Bedürfnissen vorzog. Keine wirkliche Nähe – nach der Trennung fiel ich aus allen Wolken, als er mir sagte, er habe die Zwiegespräche nie als Möglichkeit begriffen, mit mir in Kontakt zu kommen. Keine Gemeinsamkeiten außer den Kindern – es gab kaum gemeinsame Freunde, wir fanden nicht einmal einen Urlaubsort, auf den wir uns einigen konnten, Musik fand getrennt statt, und ich lebte mein soziales Leben außerhalb mit anderen Menschen, die ihn eher am Musikmachen hinderten, als ihm Bereicherung zu sein. In seinem inneren Leben konnte ich nur Zaungast sein. Eine wirklich traurige Folge davon war, dass ich nach der Trennung erschrocken feststellte: Nach zwanzig gemeinsamen Jahren habe ich ihn keinen einzigen Tag lang vermisst, es gab nichts, was mir fehlte, als er nicht mehr bei mir war! Aber wenn ich ehrlich bin: Wie auch?
Meine Rettung und Erweckung kam in Form von J., einem Mann, der mich eiskalt erwischte, weil er nicht ganz vor der Schwelle Halt machte. Er wohnte weit weg – die Musik hatte uns zusammengeführt –, war verheiratet und sagte auch von Anfang an ganz klar, dass er sich nicht von seiner Frau trennen wolle. Ich erzählte meinem Mann sofort von ihm, der sich daraufhin ohne jeden Kampf von mir trennte. Es machte mir nichts aus, höchstens dass er keinerlei Mühe investierte, um mich zurückzugewinnen – ich wollte sowieso all meine Kapazität für J. haben.
Er war so unendlich berührbar, und er hatte Worte. Was ich sagte oder tat, machte ihm etwas aus, und ich wurde ihm zunehmend wichtig. Am Telefon und in den seltenen Begegnungen war er ganz da. Dadurch war ich genauso bereit wie er, im Kontakt auszublenden, dass es ja nie mehr werden sollte – dadurch fühlte sich alles im Kontakt so perfekt an. Nur die kleinen und so schmerzhaften Momente, wenn er – dann ohne noch berührbar zu sein – ein Telefonat sehr plötzlich beendete, weil seine Frau auftauchte, waren die Risse im Bild, denen ich nicht die Bedeutung zugestehen wollte, die sie hatten. Je mehr er sich daran annäherte, entgegen seiner Angst, seiner Frau unsere Liebe zu offenbaren – im Verlauf wurde deutlich, dass seine Vision nie die Trennung von seiner Frau, sondern eine von allen Seiten tolerierte Ménage-à-trois war –, desto mehr glaubte ich an uns.
Immerhin: Er war (bis dahin) meine große Liebe und ich sah ihn in meinem Innern ohne seine Ängste. Das war mein Fehler, und ich musste es bitter lernen, dass diese immensen Ängste Teil von ihm waren, sein Leben und seinen Entscheidungsraum radikal begrenzten, und dass ich das unmittelbar an dieser Stelle zu spüren bekam.
Um die Möglichkeit des Herauswachsens aus seinen Ängsten am Leben zu erhalten, lernte ich, dass es dafür ein anderes Vorgehen brauchte als bisher – nicht mehr nur zu sagen, was für mich schwierig ist. Ich wollte unbedingt, dass es weitergehen und wachsen konnte.
Also entdeckte ich die Frage: Was braucht es, damit es besser weitergehen kann? Und weißt du was? Es wurde so tatsächlich immer besser! (Aus dieser sehr wirkungsvollen Frage reifte irgendwann meine Stroh-zu-Gold-Erkenntnis, die mich tagelang beglückte: Wenn etwas sehr schwierig ist und es möglich ist, auf eine Weise darüber zu sprechen, dass es hinterher besser ist als vorher, dann ist das Schwierige eine Goldgrube!) Er fasste Mut und erzählte nach fast einem Jahr seiner Frau von unserer Beziehung. Sie wurde zur Kriegerin, war alles andere als einverstanden mit seiner Vision, er brach zusammen und beendete in mehreren Etappen unseren Kontakt.
Ich hätte daran zerbrechen können oder anfangen, ihn zu verachten. Dafür war er mir aber zu wichtig und meine Liebe zu groß. Das war mein Glück, denn so habe ich mich auf diesen sehr langwierigen und kleinteiligen Prozess eingelassen, mich Stück für Stück zu lösen, ohne ihn aus meinem Innern zu verbannen – zu all dem so überaus Schmerzhaften Ja zu sagen, zu trauern, es als Teil von ihm anzuerkennen, meinen Teil darin zu erkennen und zu lernen, dass das Liebespotenzial nicht dasselbe ist wie reales Zusammenleben und dass nur die ganze Wahrheit wirklich trägt. Stück für Stück habe ich die Wahrheit um die fehlenden Teile ergänzt, bis sie vollständig war.
Zu der Wahrheit gehörte auch eine für mich bis dahin völlig neue Erfahrung: Ich hatte mich immer als einen sehr starken Menschen erlebt, und nun kam ich an eine existenzielle Grenze, an der ich leibhaftig spürte, dass meine Gefühle die Macht hatten, mich umzubringen! Es gab Tage, an denen ich morgens keine Ahnung hatte, wie ich den Tag überleben sollte mit all dem Schmerz, und es gab zwei Momente, in denen ich spürte, wie das Leben nach unten aus mir herausfloss und ich nicht den geringsten Widerstand in mir verspürte.
Rückblickend würde ich sagen, hier wurden mein Lebenswille und meine Selbstfürsorge geboren, in Form der Erkenntnis: Wenn du jetzt nicht anfängst, auf dich aufzupassen und für dich zu sorgen, dann tut es keiner, und es kann dich dein Leben kosten! So konnte ich an den Punkt kommen zu fühlen (was ich vorher nur gedacht hatte), dass angesichts dieser ganzen Wahrheit ein realer Kontakt mir nicht gut tat und meine Liebe am besten weiter existieren konnte, wenn ich nur innerlich mit J. verbunden war. Und: Es konnte mir in dem Zustand mit mir allein besser und irgendwann sogar gut gehen, wenn ich mich meinen Gefühlen zuwendete, die Verantwortung dafür übernahm und lernte, sie selbst zu regulieren. Ich erlebte, wie viel Kraft daraus entspringt, Ohnmacht anerkennen zu können: Wenn ich nichts tun konnte, musste ich auch nichts mehr tun – ich konnte aufhören, mich (wie so oft in meinem Leben) umsonst aufzureiben und mich stattdessen mit den Dingen verbinden, wo ich mit viel weniger Anstrengung etwas bewirken konnte.
Diese aus der Not geborene Einsicht in die Schönheit und Tragfähigkeit der Wahrheit – wahr ist, was man TUT – sowie die Möglichkeit, nur aus mir heraus und allein froh zu sein mit meinem inneren Reichtum, ließ in mir bei meiner bis dahin größten Liebesfähigkeit die grandiose Kompromisslosigkeit wachsen, die mir zu Beginn meiner Beziehung mit Reiner die Kraft gab, Weichen zu stellen, ohne die dieser Text nie entstanden wäre. Ich bin eine andere geworden durch diese Erfahrung – was...
Erscheint lt. Verlag | 19.12.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Partnerschaft / Sexualität |
ISBN-10 | 3-7407-9775-4 / 3740797754 |
ISBN-13 | 978-3-7407-9775-1 / 9783740797751 |
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