Geschichte der Völkerwanderung (eBook)
1532 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-77813-1 (ISBN)
Wie oft Menschen zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert n. Chr. solch tödliche Furcht vor herandrängenden Heeren fremder Völker empfunden haben, zeigt Mischa Meier in seiner magistralen Darstellung der Völkerwanderungszeit. Sie beinhaltet die Geschichte des späten Imperium Romanum sowie die Geschichten der nachrömischen Herrschaftsbild ungen im Westen, jene des frühen Byzantinischen Reiches, aber auch die des frühen islamischen Kalifats bis zum Ende der Umayyadenzeit (750). Reich an Informationen, stets verständlich und spannend zu lesen, führt sie den Leser von der europäischen und nordafrikanischen Atlantikküste bis zu den zentralasiatischen Knotenpunkten der Seidenstraße, nach Nordindien und zum Hindukusch, von Skandinavien und Britannien im Norden bis nach Arabien im Süden. Sie macht vertraut mit den dramatischen Ereignissen dieser Zeit und den damit einhergehenden tiefgreifenden Wandlungsprozessen. Ein wahres Opus magnum, das erstmals eine vollständige Geschichte der Epoche bietet.
Mischa Meier lehrt als Professor für Alte Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er ist ein international renommierter Fachmann für die Übergangszeit der Spätantike zum Frühmittelalter. 2021 erhielt er den WISSEN!-Sachbuchpreis der wbg für sein Buch "Geschichte der Völkerwanderung".
KAPITEL I
‹Völkerwanderung›: Forschungsobjekt und Darstellungsproblem
1.1
Barbaren vor Konstantinopel und Rom
1.1.1
Konstantinopel 626: Ein Wunder am Bosporus
Abb. 1 Konstantinopel, Teilstück der Theodosianischen Stadtmauer
Angst hielt die Bevölkerung der Kaiserresidenz umklammert, als sie unter dem warmen Licht der hochsommerlichen Morgensonne erwachte. Der flimmernde Glanz ihrer Strahlen brachte die frisch polierten Rüstungen einer unübersehbaren Kriegerschar zum Funkeln, die der Khagan, der Herrscher über die Awaren, an jenem Tag entlang der wuchtigen Befestigungsanlagen hatte aufmarschieren lassen. Eine grandiose Inszenierung brannte sich in die Augen der furchtsam staunenden Betrachter ein; sie sollte auch die letzten Zweifler von der Überlegenheit der awarischen Streitkräfte überzeugen. Mit diesem Unternehmen bewies der Khagan Mut. Nie zuvor war es einem barbarischen Heerführer in den Sinn gekommen, Konstantinopel frontal zu attackieren. Nie zuvor war die Metropole am Bosporus, nie zuvor das römisch-byzantinische Reich einer solch existenziellen Bedrohung ausgesetzt gewesen. Nie zuvor auch waren sämtliche Anstrengungen römischer Diplomatie und Kriegführung derart wirkungslos verpufft. Doch jener Tag, der 29. Juli des Jahres 626, sollte alles verändern. Nun hatte der Khagan – wir kennen seinen Namen nicht – sich also tatsächlich vor dem gewaltigen Mauerwerk aufgebaut und stieß martialische Drohungen aus, deren Inhalte die eingeschüchterte Besatzung hinter den Zinnen erschauern lassen mussten. Man nannte ihn den «Sohn der Finsternis», einen «Hund» oder «das barbarische Tier», aber auch diese Herabwürdigungen hatten nicht verhindern können, dass der Khagan seinen Ankündigungen Taten folgen ließ: Mit angeblich 80.000 Kriegern (vielleicht waren es tatsächlich etwas weniger, aber diese Zahl verrät zumindest einiges darüber, wie man die von ihnen ausgehende Bedrohung wahrnahm) stand er vor der Metropole und verlangte nur eines: ihre bedingungslose Übergabe. Einzig die hochragenden theodosianischen Landmauern standen jetzt noch zwischen der Stadtbevölkerung und einem drohenden Massaker. Einst zum Schutz gegen Goten und Hunnen errichtet und im Jahr 413 unter Kaiser Theodosios II. vollendet, zog sich die imposante Defensivkonstruktion über etwa 6,5 Kilometer vom Marmarameer nach Norden bis zum Goldenen Horn und sicherte so die einzige Landflanke der Kaiserstadt, der auf den übrigen drei Seiten das Meer zuverlässigen Schutz gewährte – eine einzigartige strategische Lage, die Konstantinopel nahezu uneinnehmbar machte. Aber würde das Bollwerk tatsächlich standhalten, nun, da sich vor den Toren die furchteinflößende Streitmacht des Awaren-Khagans versammelt hatte? «Wilde Völker, deren Leben der Krieg ist», überschwemmten jetzt das Vorfeld der Mauern, ihre Scharen erstreckten sich «von Meer zu Meer» und mussten geradezu, wie ein Augenzeuge ergriffen festhält, die Assoziation eines unmittelbar bevorstehenden Weltendes evozieren; die vom Khagan mobilisierten Horden – das war eindeutig das apokalyptische Gog! Militärisch konnten die Byzantiner diesem Gegner, der möglicherweise den Lauf der irdischen Welt vollenden sollte, nicht beikommen, das wusste jeder in der Stadt; angeblich standen jeweils 100 Barbarenkrieger gegen einen Verteidiger. Und der Kaiser selbst war nicht vor Ort! Herakleios war tief in das Reich der persischen Sāsāniden eingedrungen, um jene Gebiete zurückzuerringen, die im zweiten Jahrzehnt des 7. Jahrhunderts an sie gefallen waren. Weit entfernt fochten seine Armeen – zu weit, um Konstantinopel rechtzeitig Entsatz leisten zu können. Entsprechend gedrückt war die Stimmung. Andererseits wusste man aber auch: Konstantinopel war die Stadt Gottes, die Stadt Marias. In eindringlichen Gebeten sollen Kaiser und Patriarch, ja die gesamte Bevölkerung, Gott und Gottesmutter zuvor beschworen haben, Konstantinopel nicht in die Hände der Feinde fallen zu lassen. Theodoros Synkellos, ein hochrangiger Amtsträger, dem wir einen Augenzeugenbericht über die Ereignisse verdanken, betont die entschlossene Einmütigkeit der Belagerten: Von Beginn an habe man nicht auf Waffen vertraut, sondern einzig auf den Schutz der Stadt durch Gott und Maria. Patriarch Sergios, der gemeinsam mit dem magister officiorum (Vorsteher der Palastverwaltung) Bonos und dem Kaisersohn Konstantin (III.) die Geschicke der Metropole lenken sollte, solange Herakleios sich auf seinem Feldzug befand, ließ Bilder der Gottesmutter über den Portalen der Landbefestigung anbringen und führte Prozessionen an, in denen ein Acheiropoieton, eine wunderwirkende, nicht von Menschenhand geschaffene Ikone, feierlich über die Mauern geführt wurde. Damit sollte die Zuversicht der Belagerten gestärkt werden, während sich vor den Toren Heerscharen von Feinden zum Angriff wappneten und schauderhafte Belagerungsmaschinen errichteten. Wie aber hatte es überhaupt so weit kommen können?[1]
Karte 2 Konstantinopel im 6./7. Jahrhundert
Seit Beginn des 7. Jahrhunderts befand sich das Oströmische Reich, das zu diesem Zeitpunkt bereits ‹Byzantinisch› genannt werden kann, wieder einmal in einem mörderischen Krieg gegen seinen Erzfeind im Osten: die persischen Sāsāniden. Es sollte die letzte Auseinandersetzung zwischen den beiden spätantiken Großmächten werden. Als der Perser Chosroes (Xusrō) II. (590–628) im Jahr 603 zum Angriff überging, konnte niemand ahnen, dass sein Reich wenige Jahre nach der endgültigen Niederlage gegen die Byzantiner 628 dem Ansturm der Araber zum Opfer fallen würde, einer Expansionsbewegung, die auch Byzanz ab 634 in einen jahrzehntelangen Existenzkampf verstricken sollte. So weit war es im Jahr 626 zwar noch nicht, aber für den byzantinischen Kaiser Herakleios (610–641) sah die Lage dennoch düster aus: Im Jahr 611 hatten die Perser Kaisareia in Kappadokien erobert und standen damit tief in Kleinasien, d.h. in römischem Kernland; 614 waren sie gar in die heilige Stadt Jerusalem eingezogen und 615 in Chalkedon erschienen, direkt gegenüber von Konstantinopel, auf der asiatischen Seite des Bosporus. Und es sollte noch schlimmer kommen: 618/19 hatten sie sich Ägyptens bemächtigt, von dessen Getreide die byzantinische Hauptstadt abhängig war. Gleichzeitig gingen große Teile des Balkanraums bis auf Thessalonike und einige Küstenstreifen faktisch an Awaren und Slawen verloren, da keine Reserven mehr vorhanden waren, die europäischen Territorien des Reiches noch angemessen zu sichern. Um 620 befand sich Byzanz vor dem Zusammenbruch. Die Lage war verzweifelt. Geradezu beschwörend muten die Umschriften neuer Silbermünzen (sogenannter Hexagramme) an, die Herakleios wohl seit 615 emittieren ließ: «Gott, hilf den Römern!» (Deus adiuta Romanis). Und die Römer gaben nicht auf. Ab 621 konzentrierte Herakleios alle verfügbaren Ressourcen auf den Abwehrkampf gegen die Perser; im Einverständnis mit dem Patriarchen Sergios konnte er auf die Schätze der Kirche zurückgreifen und neue Armeen ausrüsten. Seine anschließende Gegenoffensive erscheint in der Überlieferung als regelrechter ‹Kreuzzug›. Die markante religiöse Aufladung der Ereignisse um die Belagerung Konstantinopels spiegelt die Stimmung, die während dieser Jahre um sich griff: Gott half den Römern! Denn tatsächlich gelang es Herakleios auf seinen Feldzügen der Jahre 622 bis 628, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern und die alte Tigris-Euphrat-Grenze zu erneuern. Am 21. März 630 konnte gar im befreiten Jerusalem die Restitution des heiligen Kreuzes zelebriert werden. Der Kaiser wurde als Heilsbringer, als neuer Konstantin und neuer David gefeiert.[2]
Abb. 2 Hexagramm des Herakleios mit der Umschrift DEVS ADIVTA ROMANIS auf der Rückseite
Doch im Sommer 626 stand alles bis dahin Erreichte erneut auf dem Spiel: Herakleios hatte sich erfolgreich in der Kaukasusregion festgesetzt; er wollte dort persische Kräfte binden, um die besetzten römischen Gebiete freizubekommen, und knüpfte Kontakte zu den Kök-Türken, die dann tatsächlich 627 die Sāsāniden in einen Zweifrontenkrieg verwickelten....
Erscheint lt. Verlag | 17.12.2021 |
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Reihe/Serie | Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung | Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Vor- und Frühgeschichte / Antike |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Vor- und Frühgeschichte | |
Schlagworte | Afrika • Asien • Europa • Geschichte • Islam • Migration • Moderne • Spätantike • Völkerwanderung |
ISBN-10 | 3-406-77813-5 / 3406778135 |
ISBN-13 | 978-3-406-77813-1 / 9783406778131 |
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