Kleine Philosophie der Begegnung (eBook)
256 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27347-4 (ISBN)
um uns selbst zu begegnen.
Begegnungen verändern uns, indem sie uns mit dem Anderen konfrontieren, schreibt Charles Pépin. Nachdem uns die Pandemie auf Abstand gezwungen hat, geht der Philosoph der Frage nach, was freundschaftliche, romantische, professionelle und zufällige Begegnungen für den Einzelnen bedeuten. Er zeigt: Jeder zwischenmenschliche Kontakt ist auch eine Begegnung mit der Welt und mit uns selbst. Mit vielen Beispielen aus dem täglichen Leben verortet Pépin diese These in der Philosophiegeschichte, spannt einen Bogen von Aristoteles über Hegel bis Jean-Paul Sartre und lässt auch unterhaltsame Seitenpfade zu David Bowie und Lou Reed nicht aus. Über allem steht die Erkenntnis: Leben heißt auch lernen, anderen wirklich zu begegnen.
Charles Pépin, geboren 1973, ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen zuletzt Die Schönheit des Scheiterns (2017), Sich selbst vertrauen (2019) und Kleine Philosophie der Begegnung (2022). Charles Pépin lebt in Paris.
"Pépin ermutigt uns, das Risiko des echten Lebens einzugehen." Ute Cohen, Welt Plus, 19.01.22
Ich bin verwirrt
Wenn mein Panzer Risse bekommt
Jemandem zu begegnen, bedeutet, überrumpelt und aus der Fassung gebracht zu werden. Es geht etwas vor sich, das wir uns nicht ausgesucht haben, das uns unerwartet trifft: Es ist der Schock der Begegnung. Im Wort »Begegnung« steckt das Wörtchen »gegen« und bringt zum Ausdruck, dass wir auf unserem Weg auf jemanden stoßen. Somit verweist es auf eine Kollision mit der Andersheit: Zwei Wesen kommen in Kontakt, stoßen aufeinander und sehen ihre Bahnen einen anderen Lauf nehmen. Ein singuläres Wesen kann aber auch sehr wohl einem anderen über den Weg laufen, ohne in Verwirrung zu geraten, was beweist, dass es nicht zu einer Begegnung gekommen ist, sondern dass sie sich lediglich gekreuzt haben. Nichts ist erstaunlicher, zuweilen unangenehmer, schwieriger zu fassen als die Differenz des Anderen. Wie könnte ich durch die Begegnung mit dir nicht erschüttert sein, wo du dich mir doch gerade deswegen entziehst, weil du anders bist, weil du eine andere Geschichte hast, weil du die Dinge anders siehst und anders empfindest? Wenn ich ungerührt bleibe, lässt das nur den Rückschluss zu, dass ich dich kaum wahrgenommen habe oder dass du lediglich eine Projektionsfläche für mich gewesen bist, in der ich mich gespiegelt habe.
Auslöser der Verwirrung ist häufig ein visueller Schock. Als Anna Karenina den Grafen Alexej Wronskij in einem Bahnhof erblickt, weiß sie noch nichts über ihn, doch jäh überkommt sie Verwirrung und schon sticht er aus der Menge heraus. Was ist es, das sie derart berührt? Die Erscheinung des Anderen, dessen Stärke und Einzigartigkeit sie erahnt? Jene Regung, jene Anwandlung, die sie in sich verspürt und auf die nichts und niemand sie vorbereitet hat? Diese Verwirrung ruft zuweilen mehrere Sinne auf den Plan, etwa wenn wir einen Menschen nicht zu kennen meinen, bis wir verwundert die unbeschreibliche Sanftheit seiner Haut entdecken und spüren, wie er auf unsere Zärtlichkeiten, Küsse, Worte reagiert. In der Liebesverwirrung gibt es gewisse untrügliche Anzeichen, die darauf hindeuten, wie unvorbereitet uns diese Regung trifft: Beschleunigung des Herzschlags, stockende Stimme, trockener Mund, Schweiß, Verstummen … Angesichts dieser Beschleunigungskraft des Lebens reagiert unser Körper so, als bräuchte er — unfähig, sich auf den neuen Rhythmus einzustellen — eine Eingewöhnungszeit. Manchmal ist es zuerst die Klangfarbe einer Stimme, die uns berührt, unsere Neugier weckt, tief vergrabene Erinnerungen in uns wachruft, wie eine Stimme aus der Vergangenheit, aus der Kindheit, die uns ruft. Als Christian Bobin zum ersten Mal die Stimme von Pierre Soulages am Telefon hörte, wusste er, noch bevor er ihn leibhaftig gesehen hatte, mit absoluter Gewissheit, dass er ihm begegnet war. Er schildert diesen Moment in dem Buch Pierre, das er ihrer Freundschaft gewidmet hat: »in Soulages’ Stimme schwang eine Vergnügtheit, ein Staunen über dich und über sich«. Manchmal findet diese Erschütterung auf einer intellektuelleren Ebene statt. Pablo Picasso war völlig gleichgültig gegenüber Politik und seine Wege kreuzten sich seit Jahren mit denen von Paul Éluard, ohne dass etwas geschah, bis dieser ihm eines Tages im Jahr 1934 von seinem pazifistischen Engagement erzählte. Da öffnete er sich für eine politische Sicht auf die Welt. Genau in diesem Moment begegnete er dem Dichter. Manchmal trifft der andere uns mitten ins Herz, etwa wie bei einem der legendärsten Tandems des Indie-Rock der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre: Die Begegnung zwischen David Bowie und Iggy Pop fand nicht vor dem Hintergrund ihrer musikalischen Verbundenheit statt, sondern es waren vor allem die Notlage des Junkies und die Einsamkeit des »Iguana«, für die Bowie sensibel war.
Egal, welche Form die Verwirrung annimmt, die von einem leisen Empfinden bis zum Schwindelgefühl reicht, sie ist Ausdruck dafür, wie sehr das Leben uns überraschen kann: Spätestens jetzt müssen wir erkennen, dass wir nicht alles im Griff haben. Zwei singuläre Wesen haben sich, jenseits zweier Welten, gerade aneinander gerieben. Wir wissen noch nicht, was daraus wird (die Begegnung mit Éluard wird Picassos Schaffenskraft neu anfachen, Anna Karenina wird schließlich daran zugrunde gehen), Tatsache aber ist: Es hat stattgefunden. Sollten wir die Illusion hegen, selbstgenügsame, autonome Monaden zu sein, die sich in ihrer Identität und in ihren Gewohnheiten gemütlich eingerichtet haben, dann ist es mit der Ruhe plötzlich vorbei. Die Komfortzone ist gestört. Wir spüren Sehnsucht nach etwas anderem, was berückend und beängstigend zugleich ist. Unsere Verwirrung führt uns gleichzeitig zum Anderen, der uns in Staunen versetzt, und zu jenem Teil unserer selbst, der sich uns entzieht. Als Picasso Éluard begegnete, war er von dem Idealismus des Dichters genauso überrascht wie von der Resonanz, die er bei ihm fand. Im Zustand der Sinnesverwirrung, ausgestreckt in den durchwühlten Laken, sind wir vom Anderen, seiner Schönheit, seiner Lust ebenso überrascht wie von dem, was wir in uns hochsteigen fühlen (und das manchmal wirklich erstaunlich ist). Genau genommen verhält es sich so, als fänden zwei Begegnungen gleichzeitig statt: die mit der Andersheit des Anderen und die mit der Andersheit in uns. »Ich ist ein anderer«, schrieb Rimbaud in einem Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871. Wir müssen mitunter dem Anderen begegnen, um dieses Ich zu verstehen und endlich zu fühlen. Dem Anderen im Anderen begegnen, um zu entdecken, dass es einen Anderen in unserem Selbst gibt, und gewahr werden, dass dieser Andere in unserem Selbst vielleicht mehr er selbst ist, als wir geglaubt haben. Hier sind wir meilenweit vom heuchlerischen Satz »es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen« entfernt, den wir manchmal von uns geben, um eine Verabredung zu verkürzen, die umso langweiliger war, als sie nicht die geringste Verwirrung in uns ausgelöst hat.
Clint Eastwood hat die Entstehung und die Kraft dieser Verwirrung in seiner filmischen Adaption des Romans Die Brücken am Fluß von Robert James Waller in Szene gesetzt. Meryl Streep spielt eine ursprünglich aus Süditalien stammende Hausfrau, die seit Jahrzehnten mit ihrem Mann und den beiden nunmehr halbwüchsigen Kindern auf einer Farm in Iowa lebt. Als ihr Mann mit den Kindern für vier Tage zu einer Rinderschau fährt und sie allein auf der Farm zurückbleibt, lernt sie Robert kennen, der als Fotograf des National Geographic für eine Reportage über die »überdachten« Brücken von Iowa unterwegs ist, jene bemalten Holzkonstruktionen, die für diese Gegend so typisch sind. Gemeinsam durchleben sie eine Leidenschaft, die ihr Leben verändern wird. Nach diesen vier Tagen — ein verrücktes Intermezzo, in dem sich ein ganzes Leben zu verdichten scheint — und einem herzzerreißenden Moment des Zögerns fasst Francesca den Entschluss, ihren Mann nicht zu verlassen, und lässt Robert allein weiterfahren. Doch was sie miteinander geteilt haben, wird sie für immer begleiten, ihrem Farmleben aus einer »Summe von Kleinigkeiten« Tag für Tag Nahrung geben, dem Alltag als Hausfrau, die ihrem Mann Zuwendung und Achtung entgegenbringt, weit von der intensiven Liebe für Robert entfernt, den sie wie einen Schatz hütet — ein Abenteuer auf Augenhöhe mit den Jugendträumen, die sie begrub, als sie sich in Iowa niederließ. In ihrem Testament wird sie verfügen, dass ihre Asche an derselben Stelle gestreut werden soll wie die von Robert, von der Brücke, die die Ursache ihrer Begegnung war.
Mitten in diesen vier Tagen, die sie mit Reden und Lachen, Spazieren und Biertrinken, Baden und Lieben verbringen, offenbart sich die Essenz von Begegnung in einer Bemerkung Francescas, die den Zustand der Verwirrung, in dem sie sich befindet, zum Ausdruck bringt: »Ich erkenne mich selbst nicht wieder, ich bin nicht mehr ich selbst … und gleichzeitig war ich noch nie so sehr ich selbst wie jetzt.« Hier ist die Verwirrung reines Schwindelgefühl. Was sie tut, sieht ihr — auf den ersten Blick — nicht ähnlich. Sie möchte nicht im Entferntesten den Ehemann hintergehen, dem sie nichts vorzuwerfen ...
Erscheint lt. Verlag | 24.1.2022 |
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Übersetzer | Caroline Gutberlet |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | La Rencontre |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | Albert Camus • Aristoteles • Beatles • Begegnung • Beziehung • Big Five for Life • Corona • Covid-19 • Das Cafe am Rande der Welt • Das Kind in dir muss Heimat finden • Einsamkeit • Einzeln sein • Empathie • Erfülltes Leben • Existenzialismus • Friedeman Schulz von Thun • Gelassenheit • Glaube • Hegel • heimat finden • Jean-Paul Sartre • John Strelecky • Keith Richards • Kleine Philosophie der Zuversicht • Kreativität • Lebenshilfe • Liebe • Lou Reed • Martin Buber • Mick Jagger • Mitgefühl • Musik • Paulo Coelho • Philosophie • Platon • Psychoanalyse • Religion • Romantik • Rüdiger Safranski • Schönheit des Scheiterns • Selbstfreundschaft • Sich selbst vertrauen • Sigmund Freud • Soren Kierkegaard • soziale Lebewesen • Stefanie Stahl • Wilhelm Schmid • Zwischenmenschlichkeit |
ISBN-10 | 3-446-27347-6 / 3446273476 |
ISBN-13 | 978-3-446-27347-4 / 9783446273474 |
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