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Flammen (eBook)

Eine europäische Musikerzählung 1900 - 1918
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00767-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Flammen -  Volker Hagedorn
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So viel Aufbruch, Durchbruch, Ausbruch in wenigen Jahren hat es nie zuvor gegeben. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg erlebte die Welt Veränderungen in schwindelerregender Dichte. In Gesellschaft, Wissenschaft, Kultur wurden Grenzen gesprengt - und viele Komponisten waren Seismografen und Katalysatoren zugleich. Pelléas et Mélisande, Salome, Pierrot Lunaire, Le Sacre du Printemps sind nur einige der Werke, die uns immer noch herausfordern.  Zwei höchst unterschiedliche Protagonisten führen uns in Flammen in den Alltag, in private und politische Dramen, in die Klänge dieser Jahre: Claude Debussy, der in Frankreich eine neue Musiksprache schuf, und die Britin Ethel Smyth, die nicht nur komponierte, sondern auch für das Frauenwahlrecht ins Gefängnis ging, die Aktivistin Emmeline Pankhurst liebte und sich in Wien, Berlin, Paris, London zu Hause fühlte. Auf den Wegen der beiden begegnen wir Genies wie Schönberg und Strauss, folgen Mahler zu Sigmund Freud und Debussy zu Strawinsky. Als diese beiden am Klavier den noch unvollendeten Sacre spielten, ging es den Zuhörern so, wie es allen gehen kann, die sich heute in jene Zeit begeben: «Wir waren niedergestreckt wie von einem Orkan.»

Volker Hagedorn, geboren 1961, lebt als Autor und Musiker in Norddeutschland. Für seinen Bestseller «Bachs Welt» erhielt er den Gleim-Literaturpreis 2017, «Der Klang von Paris» wurde von der internationalen Jury der Zeitschrift Opernwelt 2019 als «Buch des Jahres» ausgezeichnet. 2015 war Hagedorn Preisträger der Ben-Witter-Stiftung, 2018 Stipendiat der Fondation Jan Michalski. Hagedorn studierte Viola an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover und war bis 1996 Feuilletonredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung sowie Musikredakteur der Leipziger Volkszeitung. Seither arbeitet er als freier Autor für u.?a. Zeit, Deutschlandfunk Kultur und VAN; Projekte mit Text und Musik gestaltete er für SWR Symphonieorchester, Oper Hannover, Musiktage Hitzacker, Musikfest Weimar und die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Als Barockbratscher machte Volker Hagedorn zahlreiche Aufnahmen und Tourneen, vor allem mit Cantus Cölln.

Volker Hagedorn, geboren 1961, lebt als Autor und Musiker in Norddeutschland. Für seinen Bestseller «Bachs Welt» erhielt er den Gleim-Literaturpreis 2017, «Der Klang von Paris» wurde von der internationalen Jury der Zeitschrift Opernwelt 2019 als «Buch des Jahres» ausgezeichnet. 2015 war Hagedorn Preisträger der Ben-Witter-Stiftung, 2018 Stipendiat der Fondation Jan Michalski. Hagedorn studierte Viola an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover und war bis 1996 Feuilletonredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung sowie Musikredakteur der Leipziger Volkszeitung. Seither arbeitet er als freier Autor für u. a. Zeit, Deutschlandfunk Kultur und VAN; Projekte mit Text und Musik gestaltete er für SWR Symphonieorchester, Oper Hannover, Musiktage Hitzacker, Musikfest Weimar und die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Als Barockbratscher machte Volker Hagedorn zahlreiche Aufnahmen und Tourneen, vor allem mit Cantus Cölln.

Kapitel 2


1906, 1907. Salome in Graz. «Mahler u. Frau». Eisenbahngespräche. Verdrängtes im Kessel von Wien. Ethel Smyth spielt für Gustav Mahler und verliebt sich in eine Sängerin. Alban Berg sieht die Romantik im Staub liegen.

«Soeben 1 Uhr sind Mahler u. Frau abgereist, lassen Dich herzlich grüßen, der italienische Componist Puccini war eigens auch aus Pest gekommen, viel junge Leute aus Wien, deren einziges Handgepäck ein Klavierauszug war, – es regnet u. ich sitze auf der Gartenterrasse des Hotels, um Dir zu berichten, daß Salome sehr gut gegangen, ein Riesenerfolg, die Leute applaudiert – noch 10 Minuten, nachdem der eiserne Vorhang gefallen war etc. etc. Vorher war ich so kalt wie immer, im Verlaufe des Abends hat mich das Ding doch wieder aufgeregt, so daß ich, trotzdem ich gestern körperlich gar nicht müde war u. schon um 1/2 1 Uhr zu Bette ging, erst um 11 Uhr Früh, so etwas zerprügelt aufwachte.»

Er unterbricht und blickt auf, als ein Kellner an seinen Tisch tritt. «Bitte untertänigst zu entschuldigen, Herr Doktor, da wär Post für Sie, Herr Doktor.» «Danke. Bringen S’ mir noch einen Kaffee, bitte. Und die Speisekarte.» Er spricht mit der Färbung seiner Münchner Heimat, der Doktor Strauss, der hier im stattlichen Hotel Elefant zu Graz, einem «Haus I. Ranges», seinen kleinen Premierenkater pflegt und seiner Frau nach Berlin schreibt. Ein schlanker, hochgewachsener Mann von 41 Jahren, seinem obersten Dienstherrn nicht unähnlich, dem deutschen Kaiser Wilhelm II. Auch Richard Strauss trägt einen Bart, dessen Spitzen, die Mundwinkel verdeckend, bis über die Wangen reichen, nur sind sie dort nicht auch noch aufwärts frisiert. Auch sein Kinn ist um jene Spur knapp geformt, die die Unterlippe wie in leichtem Trotz hervortreten lässt.

Er versteht sich bestens mit dem Kaiser, auch wenn der, wie schon zu vernehmen, einige Bedenken hat, die Salome den Berlinern zuzumuten. Mit wem versteht er sich denn nicht gut? Nun, dass Frau Mahler ihn nicht gerade anbetet, hat er schon manchmal gemerkt, das ist egal, das wird den Mahler nicht abhalten, weiter mit den Zensoren in Wien zu kämpfen. Vergeblich freilich, auch das ist schon klar. Aber um die Salome braucht er sich nicht zu sorgen, jetzt noch weniger, die wird in diesem Jahr 1906 an zwölf oder vierzehn Theatern gespielt. Er schiebt die Karte beiseite und setzt den Brief fort.

«Deine liebe Karte soeben erhalten, freue mich aus ihr zu ersehen, daß Du jetzt anscheinend etwas zur Ruhe kommst, thue nur nicht zu viel des Guten u. paße recht auf Bubis Ohren auf! (…) Ich schicke Dir heute Zeitungen, aus denen Du nach Belieben Alles wichtige, die Aufführung betreffende ersehen kannst. Die Bellincioni war auch im Theater, hochentzückt, die Wittwe Johann Strauss ist eigens aus Wien gekommen. (…) Bubi bringe ich, wenn er in der Schule recht brav ist u. in den Pausen sich nicht erhitzt u. herumrennt, schöne österreichische Bleisoldaten u. noch was hübsches mit …» «Herr Doktor, haben geruht zu wählen, der Herr Doktor?» «Das Schnitzel mit Soße nehm ich, bitte. Und danach den Kaiserschmarrn.»

Bubi ist jetzt neun Jahre alt, Franz Alexander, noch in München zur Welt gekommen. In Berlin haben sie Strauss doppelt so viel geboten für eine Hofkapellmeisterstelle, 18000 Mark, gut 125000 Euro im Jahr, da konnte man sich bequem die neun Zimmer in der Knesebeckstraße leisten. Die Salome hat er dann aber schon in der Joachimsthaler Straße komponiert. Und so, wie es aussieht, wird sie ihm bald eine Villa in Bayern finanzieren, die Prinzessin, «deren Füße wie weiße Tauben sind», die ihn dazu gebracht hat, sein Komponieren neu zu erfinden, ohne Vorsatz übrigens, es ergab sich so.

Schon der erste Satz hatte ihn hineingerissen. «Wie schön ist die Prinzessin Salome heute nacht …» Warum nicht diese Prosa komponieren, anstatt einen Librettisten Opernverse daraus machen zu lassen? So etwas war ihm zuerst vorgeschlagen worden. Anton Lindner, ein Mitarbeiter der Wiener Rundschau, hatte ihm Salome empfohlen, Oscar Wildes Drama, 1900 in der Rundschau erschienen in deutscher Übersetzung. Lindner bot an, ein paar Probeverse zu schreiben. «Die ‹Salome› müsste ja ohnehin für Sie von Grund aus neu gegossen u. geformt werden, da sie so, wie sie vorliegt, zwar Weibs-stimmungsvoll u. episch-malend, aber nicht dramatisch-packend u. impetuos ist.»

Was dann an Versen kam, war aber lange nicht so impetuos wie das Stück, das Strauss in Berlin auf der Bühne erlebte, am 15. November 1902. Deutsche Erstaufführung im Kleinen Theater von Max Reinhardt, der Zensur wegen eine geschlossene Veranstaltung, Gertrud Eysoldt als Salome. Ein Cellist, den Strauss dort traf, meinte: «Das wäre doch ein Opernstoff für Sie!» «Bin bereits beim Komponieren», sagte der Hofkapellmeister. Er hatte an dem Abend begriffen, was ihn aus der Sackgasse nachwagnerischer Märchenopern führen könnte. Weder Guntram noch Feuersnot hatten ihm den Erfolg verschafft, den er als Tondichter und Dirigent genoss. Salome ließ ihn Morgenluft wittern.

Ältesten Quellen und anderem Geschlecht ist sie entstiegen. Aus einem vorchristlichen Lustknaben, zu dessen Gaudium ein römischer Konsul einen Gefangenen enthaupten ließ, wird bei den Evangelisten die vorerst namenlose Tochter der Herodias. Auf Wunsch ihrer Mutter bringt diese jüdische Prinzessin, Kind eines Ehebruchs, ihren Stiefvater Herodes im Jahr 29 nach Christus dazu, Johannes enthaupten zu lassen, der den Messias ankündigt. Im fünften Jahrhundert erhält sie den Namen Salome und wird zum Schreckbild, mit dem die Moralprediger Erotik, Sinnlichkeit und den Tanz tabuisieren. Sie avanciert zum dunklen Star der Mysterienspiele; das 12. Jahrhundert dichtet ihr die unglückliche Liebe zum keuschen Johannes an. Doch erst im liberalen Paris des Jahres 1841 findet sie einen glühenden Liebhaber: Heinrich Heine.

In seinem Versepos Atta Troll ist sie identisch mit ihrer Mutter Herodias. Die Schüssel mit des Täufers Haupt in Händen, reitet sie, dem Dichter zulächelnd, in der Johannisnacht an ihm vorbei. «Auf dem glutenkranken Antlitz / Lag des Morgenlandes Zauber …» Heines Liebeserklärung an die «tote Jüdin», ins Französische übertragen, animiert 1867 Théodore de Banville zu Versen, denen zehn Jahre später Gustave Flaubert mit der Erzählung Hérodias folgt. In ihr lässt die Königin ihre Tochter vor dem Tetrarchen Herodes tanzen, bis er «Schluchzer der Wollust» von sich gibt und das Mädchen «mit kindlicher Miene» das Haupt des Täufers fordert. Bald ist Salome eine der beliebtesten Gestalten der Dichter, für Stéphane Mallarmé ein Projekt ohne Ufer, über das man an seinen Pariser Dienstagabenden in der rue de Rome diskutiert.

Dort erscheint 1891 der gefeierte irische Dandy und Autor Oscar Wilde, der selbst schon des Längeren Salome im Sinn hat. Nachts im Hotel beginnt Wilde, sein Stück zu schreiben, in französischer Sprache. Als er ein Jahr später Sarah Bernhardt in London trifft und sie ihn bittet, für sie eine Rolle zu schaffen, sagt er: «Das habe ich bereits getan.» Die Lektüre des Dramas begeistert sie, und er überreicht ihr einen Gedichtband mit handschriftlicher Widmung: «A Sarah Bernhardt: Comme la princesse Salomé est belle ce soir.» Es ist dieser erste Satz, leicht abgewandelt, den Richard Strauss zehn Jahre später als ersten Satz vertonen wird: «Wie schön ist die Prinzessin Salome heute Nacht.»

Die Londoner Uraufführung wird 1892 vom Zensor untersagt. Dahinter steckt neben viktorianischer Prüderie das Ondit, dass Wilde, Erfolgsautor, verheiratet, Vater zweier Söhne, Männer liebe. So ist es auch. Seine Sensibilität für das Begehren der Salome mag darin eine Quelle haben. Kein voyeuristischer Blick auf sie, dafür das Traumhafte und Mysteriöse, das Mallarmé und Maeterlinck an Wildes Text begeistert. Ihnen und anderen lässt er das Werk zukommen, als es 1893 in Paris und London gedruckt worden ist, auch George Bernard Shaw, der als einer von nur zwei Journalisten seine Stimme gegen die Zensur erhoben hatte. Als ein Freund bekennt, das Stück erinnere ihn an Flauberts Hérodias, bestätigt Oscar Wilde: «In der Literatur muss man seinen Vater töten.»

Zu seiner Homosexualität bekennt er sich unter Freunden so offen, dass sein Bewunderer und Helfer Pierre Louÿs – wir kennen ihn zur selben Zeit als Vertrauten Debussys – sich entsetzt von ihm abwendet. In der Öffentlichkeit wehrt sich Wilde 1895 juristisch gegen den Vorwurf der «Sodomie», was nach drei Prozessen zu seiner Verurteilung wegen «gross indecency», «krasser Unanständigkeit», und einem zweijährigen Gefängnisaufenthalt führt. Der Dichter befindet sich in Zelle C.3.3. im Zuchthaus Reading, als am 11. Februar 1896 in Paris sein Theaterstück Salomé uraufgeführt wird. In jener Stadt der Liberalität, in der Wilde, drei Jahre nach dem Ende seiner Haft, im November 1900 verarmt und gebrochen mit 46 Jahren stirbt.

Im Juli desselben Jahres 1900 ist in Wien eine deutsche Übersetzung der Salomé erschienen, die Wildes französisches Original wie dessen Übertragung ins Englische übertrifft. Eine poetische Meisterleistung, die aus Wildes begrenztem französischen Wortschatz einen ausschwingenden deutschen entfaltet, schlanke Bögen, klingende Bilder, plastische Symbole. Die 35-jährige Übersetzerin Hedwig Lachmann, Tochter eines jüdischen Kantors in...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Neuzeit bis 1918
Schlagworte 20. Jahrhundert • Aufbruchstimmung • biographie musiker • Claude Debussy • Epochengeschichte • Erster Weltkrieg • Erzählendes Sachbuch • Gustav Mahler • Igor Strawinsky • Klassische Musik • Kulturgeschichte • Musikgeschichte • Opernwelt • Schönberg • Sigmund Freud
ISBN-10 3-644-00767-5 / 3644007675
ISBN-13 978-3-644-00767-3 / 9783644007673
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