Ich bin dann mal bei mir (eBook)
259 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86685-1 (ISBN)
Verena Carl ist Journalistin für Psychologie- und Gesellschaftsthemen, Autorin zahlreicher Romane und Sachbücher sowie Mutter eines Teenagers, die sich seit vielen Jahren als genderfluid und bi definiert. Für ihr literarisches Werk wurde sie unter anderem zweimal mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet. Verena Carl lebt mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann in Hamburg.
Vorwort
wann haben Sie zuletzt einen richtigen Brief bekommen? Auf Papier, über mehrere Seiten, mit Anrede am Anfang und lieben Grüßen am Schluss? Für uns beide, Anne Otto und Verena Carl, ist das jedenfalls ein seltenes Vergnügen. Mit Ausnahme der letzten zwölf Monate, denn da hat sich unsere Freundschaft zu einer veritablen Brieffreundschaft weiterentwickelt. Und weil uns das so viel Vergnügen und Inspiration bereitet hat, möchten wir dies auch Ihnen nicht vorenthalten: Dieser erste Brief geht nämlich an Sie. Er enthält eine Gebrauchsanweisung für die kommenden zwölf Kapitel.
Das Buch, das Sie hier in den Händen halten, ist sozusagen zwei Bücher in einem. Erstens ist es eine Einladung zum Selbermachen und Ausprobieren: Verteilt auf die Monate eines Jahres bekommen Sie von mir, der Psychologin und Autorin Anne, sehr unterschiedliche Anregungen, wie Sie auf spielerische Art und mit einfachen Methoden mehr Nähe zu sich selbst aufbauen, sich selbst freundlicher und mitfühlender behandeln können. Zweitens ist es eine Art Tagebuch, in dem meine Freundin Verena, Journalistin und Schriftstellerin, beschreibt, wie es ihr mit meinen Vorschlägen ging, warum manches besser funktioniert hat und manches nicht so gut.
Vielleicht möchten Sie gern wissen, wie es überhaupt zu diesem Selbstversuch kam. Ich beginne mal mit einem wuchtigen Statement: Ich bin davon überzeugt, dass Selbstfürsorge etwas Wesentliches ist und jeder und jedem von uns zusteht. Diese Haltung hat sich bei mir allerdings erst nach und nach entwickelt. Vor einigen Jahren, als ich bei Recherchen zu Artikeln, auf Seminaren und in Gesprächen im Hausflur und auf Partys vermehrt über den Begriff stolperte, mochte ich ihn zunächst gar nicht: »Fürsorge« klang für mich nach Erziehungsmethoden in einer altmodischen staatlichen Institution, »selbst« war für mich ziemlich nah an »egozentrisch« oder »selbstgerecht«. Darüber hinaus hatte ich den Verdacht, dass »Selbstfürsorge« wieder eines dieser Buzzwords sein könnte, das plötzlich das Heilmittel für alles sein soll.
Doch schon bald bekam ich den Eindruck, dass hinter dem sperrigen Wort etwas stecken könnte, was mich und auch viele Menschen in meinem Umfeld etwas angeht. Eine Art Anker in sich selbst, der es ermöglicht, sich weniger von äußeren Gegebenheiten unter Druck setzen zu lassen; der hilft, tiefer zu spüren, was eigentlich im Augenblick mit einem los ist. Ein alter Schulfreund, der nach einem Burn-out aus einer Rehaklinik kam, erzählte mir beispielsweise, dass er früher nie darauf geachtet hatte, was Seele und Körper brauchen könnten. Jetzt nähme er sich die Zeit, auf sich zu achten, und es ginge ihm tatsächlich besser. Die Professorin Kristin Neff, eine der führenden Forscherinnen auf dem Gebiet, beschrieb in einem Interview, dass Selbstmitgefühl auch die Verbindung zu anderen stärkt. Die Beziehung zu ihrem autistischen Sohn sei intensiver und friedvoller, seit sie sich und andere mit Mitgefühl betrachte und behandle.
Mich selbst fasziniert die Idee von Selbstfürsorge als alltägliche Erinnerungshilfe, die es ermöglicht, sich selbst wenigstens nicht schlechter zu behandeln als andere. Denn meiner Beobachtung nach ist ein gesundes »Ich bin auch wichtig«-Denken nicht gerade verbreitet. Bei Kolleginnen, Freunden und auch bei mir selbst gibt es immer wieder Phasen, in denen man sich vollkommen verliert, weit über die eigenen Grenzen hinausgeht und sich erschöpft und verausgabt.
In so einem selbstentfremdeten Zustand saßen meine Freundin Verena und ich an einem Herbsttag in einer Bar in unserem Hamburger Viertel zusammen. Obwohl es ein lauer, fast noch sommerlicher Abend war, hockten wir beide ziemlich abgekämpft und ratlos vor unseren Weingläsern: Gefühlte fünfundzwanzig Mal hatten wir bereits unsere Verabredung verschoben, weil immer etwas dazwischenkam. Aufträge und Abgabetermine, ein Kind mit Mathe-Nachholbedarf, runder Geburtstag der Eltern, Lesereise, Seminare. Kurz: Wir waren ständig mit Verpflichtungen beschäftigt, mit allem, was man halt so tun »muss«. An diesem Abend sprachen wir viel darüber, wie wir unser Leben so drehen könnten, dass wir mehr durchatmen können, mehr Zeit fürs Alleinsein haben oder für gute Freunde, wenn uns gerade danach ist. Verena erzählte mir, sie habe manchmal den Eindruck, unter einer Decke zu liegen, die an allen Ecken und Enden zu kurz ist. Auch, weil da, bildlich gesprochen, so viele andere einen Zipfel abhaben wollen – die Kinder, der Mann, die Auftraggeber. Auch deshalb brachte ich an diesem Abend irgendwann das Thema Selbstfürsorge ins Spiel. Für Verena. Aber auch für mich selbst. Denn: Wäre es nicht hilfreich, etwas konsequenter bei sich selbst zu sein, statt sich permanent aus dem Blick zu verlieren?
An diesem Abend beschlossen wir: Schluss mit Konjunktiv, wir wollen da jetzt hin, und zwar ernsthaft. Nicht immer nur davon träumen wie von einer Weltreise, die man dann doch nie macht, sondern uns auf den Weg begeben. Wir wollten einen Selbstversuch starten, hin zu mehr Selbstfürsorge. Und da ich auch als Coach arbeite und Verena Neues am liebsten einfach ausprobiert, waren die Rollen für unser Langzeitprojekt schnell verteilt. Mit Beginn des nächsten Jahres würde Verena zwölf verschiedene Reiserouten zu sich selbst testen und überprüfen, ob sie ans Ziel führen oder wenigstens auf einen Kurs, der sich richtig anfühlt. Ich würde sie unterstützen, erklären, worauf es ankommt, wie sie bestimmte Übungen für sich nutzen kann und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse es zu den einzelnen Ansätzen gibt. Denn ganz gleich, ob es um Mikroabenteuer, um die Beschäftigung mit Träumen, um achtsames Zeitmanagement oder um Großzügigkeit geht, zu allen hier gemachten Vorschlägen für Auszeiten gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse oder gute Erfahrungen aus der psychologischen Praxis.
Sie bekommen bei der Lektüre wahrscheinlich schnell einen Eindruck, welche der Auszeiten für Sie hilfreich sein könnten, welche Ihren eigenen Vorlieben oder Bedürfnissen entgegenkommen – und welche gar nichts für Sie sind. Denn auch das ist uns bei all den hier angebotenen Anregungen wichtig: Es gibt keine Garantien. Für jeden Menschen passen andere Wege zu sich selbst, jeder profitiert von anderen Ideen und Aktivitäten. Damit Sie gleich herausfinden, welche der zwölf Auszeiten für Sie geeignet sein könnten, stelle ich am Ende jedes Kapitels eine kleine Übung vor, die Sie sofort selbst ausprobieren können. So schlagen Sie die Brücke vom Lesen zum Machen – und dieser Schritt ist entscheidend.
Wenn Sie sich erst einmal umfassend informieren lassen wollen, können Sie gern alle Kapitel hintereinander lesen und sich dann die Aufgaben oder Übungen herausgreifen, die Ihnen spannend erscheinen. Wenn Sie sehr enthusiastisch sind, können Sie die Auszeiten auch hintereinander, Monat für Monat, wie eine achtsame Reise durch das Jahr gestalten. Falls Sie ungeduldig sind, ist es aber genauso passend, bereits beim Durchblättern des Buches gezielt in die Themen zu springen, die Ihnen auf Anhieb zusagen. Die zwölf Selbstversuche sind als Inspiration gedacht und keinesfalls als striktes Trainingsprogramm. Die Rückbesinnung auf Sie selbst sollte sich nie nach Arbeit anfühlen, sondern Ihnen vor allem Freude machen. Denn auch darum geht es bei der Selbstfürsorge: Sie entsteht oft allein dadurch, dass man eine Haltung von Verbissenheit, Pflichterfüllung und Unerbittlichkeit beiseitelässt und sich schlicht fragt, was einem eigentlich als nächstes Freude bereiten könnte.
Vielleicht haben Sie jetzt Lust bekommen, sofort anzufangen. Vielleicht sind Sie aber auch noch skeptisch und haben Zweifel, ob Ihnen solche Auszeiten, wie wir sie vorschlagen und vormachen, überhaupt in Ihrem Alltag helfen können. Sehr häufig hört man in dem Zusammenhang auch, dass es sich bei der Suche nach Selbstfürsorge, Achtsamkeit oder Selbstmitgefühl, was ja in den letzten Jahren für viele Menschen wichtiger geworden ist, um ein Luxusproblem handelt, um eine Art Egotrip für wohlhabende und beinah schon ignorante Zeitgenossen. Doch so ganz stimmt das nicht. Studien von Kristin Neff und Natasha Beretvas von der University of Texas belegen, dass Menschen, die Mitgefühl mit sich selbst entwickeln, nicht egoistischer werden, sondern – im Gegenteil – auch mehr Mitgefühl, Verständnis und Geduld für ihre Partner und ihr Umfeld aufbringen. Dass es einen Zusammenhang zwischen einer wohlwollenden Haltung sich selbst und anderen gegenüber gibt, weiß jeder, der sich selbst in alltäglichen Situationen ein bisschen beobachtet. Dann findet man nach dem erholsamen Urlaub die nervige Chefin gar nicht mehr so übel. Oder kann sich nach einer morgendlichen Yoga-Stunde ruhiger und gelassener von Forderungen der Kinder, Kollegen...
Erscheint lt. Verlag | 18.8.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
ISBN-10 | 3-407-86685-2 / 3407866852 |
ISBN-13 | 978-3-407-86685-1 / 9783407866851 |
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