Über den Sinn des Lebens (eBook)
136 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86701-8 (ISBN)
Viktor E. Frankl (1905-1997) wurde als Begründer der dritten Schule der Wiener Psychotherapie bekannt. Fast seine gesamte Familie starb in Konzentrationslagern, er selbst entging dem Tod nach der Odyssee durch vier Konzentrationslager nur knapp. Nach seiner Rückkehr wurde er Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und hatte Professuren in den USA inne. Als erster Psychologe stellte er die Erfahrung von Sinn ins Zentrum der therapeutischen Praxis. Seine Bücher erreichten Millionenauflagen; sie erschienen in über 50 Sprachen.
Vorwort von Joachim Bauer
Die in diesem Buch wiedergegebenen Texte, Niederschriften dreier im Jahre 1946 von Viktor Frankl gehaltener Vorträge, sind von ungeheurer Wucht und verblüffender Aktualität. Sie geben, in komprimierter Form, das gesamte Denken dieses großen Arztes und Psychotherapeuten wieder, welches er in den nachfolgenden Jahrzehnten in zahlreichen Artikeln und Büchern ausgebreitet hat. Die Tiefe, mit der Viktor Frankl die Conditio humana in diesen drei Texten ausleuchtet, ist unerreicht. Das Verdienst des Beltz Verlags, mit der Herausgabe dieses Bandes das Denken Viktor Frankls dem heutigen Publikum, insbesondere jüngeren Menschen, zugänglich zu machen, ist daher außerordentlich hoch einzuschätzen.
Viktor Frankl war, obwohl er eine solche Bezeichnung aufgrund seines zurückhaltenden, bescheidenen Wesens abgelehnt hätte, ein Gigant. Für mich steht er mit Hippokrates, dem Begründer der ärztlichen Heilkunst im klassischen Griechenland, und dem elsässischen Arzt Albert Schweitzer, der 1954 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, auf einer Stufe. Wie Schweitzer, so hat sich auch Viktor Frankl, über die ärztliche Heilkunst weit hinausblickend, mit anthropologischen, die Grundlagen des Menschseins betreffenden Fragen befasst. Nachfolgend seien drei Aspekte, die mich an den hier publizierten Texten besonders berührt haben, herausgegriffen und etwas näher betrachtet.
Das »Selbst« als der Kern des Menschen
Viktor Frankl war 41 Jahre alt, ein Mann in den besten Jahren, als er die Vorträge hielt, deren Texte wir hier lesen. Doch er hatte bereits Erfahrungen hinter sich, die zum Schlimmsten gehören, was einem Menschen widerfahren kann. Frankl gehörte zu den Millionen von Menschen, die von den entsetzlichen Verbrechen der Nationalsozialisten betroffen waren. Er war zugleich aber auch einer der wenigen, welche die im Konzentrationslager (in seinem Falle in mehreren Konzentrationslagern) erlittene Haft überlebt hatten. Er nahm aus dieser Zeit eine Erfahrung mit, die ihn persönlich erkennen ließ, was den Kern des Menschen ausmacht, wenn ihm alles genommen wurde: die Begegnung mit dem eigenen Selbst. Ein Kennzeichen unserer heutigen Zeit ist, dass viele Menschen zu einer Begegnung mit dem eigenen Selbst angesichts der Hast unseres Lebens keine Gelegenheit mehr haben oder dass sie ihr aktiv ausweichen, indem sie sich ständig ablenken. Warum? Weil eine Selbst-Begegnung mit unangenehmen Gefühlen verbunden oder gar unerträglich wäre.
Häftling in einem Konzentrationslager zu sein ist eine unvergleichliche Ausnahmeerfahrung. Viktor Frankl würde, wie er uns deutlich macht, dies aber nur eingeschränkt gelten lassen: Auch das sozusagen ganz normale Leben hält Situationen bereit, die dem Menschen, ähnlich wie dem Häftling, mit einem Male vieles oder gar alles wegnehmen, was es ihm bis dahin ermöglicht hatte, der Begegnung mit dem eigenen Selbst auszuweichen. Derartige Situationen können jedem Menschen widerfahren: Allein in Deutschland erkranken jährlich 480.000 Menschen neu an Krebs. Schicksalsschläge verschiedener Art, Verluste, Unfälle oder Krankheiten können plötzlich ins Leben einbrechen und einen Menschen in seinen Möglichkeiten einschränken, ihm in manchen Fällen gar schwerste Einschränkungen auferlegen. Was dann?
Viktor Frankls Texte sind eine Ermutigung, dem eigenen Selbst nicht erst dann zu begegnen, wenn durch einen Schicksalsschlag alles Unwesentliche »eingeschmolzen« wurde, wenn »Geld, Macht, Ruhm … fragwürdig geworden« oder verloren gegangen sind (die Zitate geben Frankls Worte wieder). Unser Selbst ist es wert, dass wir uns ihm nicht erst dann zuwenden, wenn uns das Leben keine andere Wahl mehr lässt. Ich habe dem menschlichen Selbst kürzlich ein Buch gewidmet.1 Die zentrale Aufgabe des Lebens besteht nach Frankl darin, innerlich schon früh im Leben gut aufgestellt zu sein. Dies erfordere es, ein »inneres Können« zu entwickeln, um »sein Selbst, sein Eigentlichstes« auch dann bewahren zu können, wenn die ständigen Ablenkungen sowie der materielle Plunder, mit dem wir uns im Alltag umgeben, plötzlich wegfallen.
Wer mit seinem Selbst nicht in Kontakt ist, durch das Schicksal aber plötzlich gezwungen ist, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was das eigene Leben wesentlich, wertvoll und sinnvoll macht, der unterliegt der Gefahr, in der Not in Apathie abzugleiten. Viktor Frankl erkannte, dass »das seelische Sich-fallen-Lassen … auch zu einem leiblichen Verfall führt«. Hier spricht der ganzheitlich denkende Arzt Viktor Frankl und nimmt vorweg, was heute den Kern der Psychosomatischen Medizin bildet und unter anderem auch Stand der Wissenschaft in der modernen Psychoonkologie ist: Menschen, denen die Selbstkräfte ausgehen, erleiden eine Schwächung ihres Immunsystems und damit auch ihrer Widerstandskraft gegen eine Erkrankung, Tumorerkrankungen eingeschlossen.2
Quellen von Lebenssinn
Großartig ist, wie Viktor Frankl uns die Quellen aufzeigt, die unserem Leben Sinn spenden können. Was heute weltweit immer mehr Menschen umtreibt (und sie dazu bringt, sich immer stärker verschiedenen spirituellen Angeboten zuzuwenden), ist die Erkenntnis, dass materieller Wohlstand per se keine sinnstiftende Veranstaltung ist. »Lust an sich«, so Frankl, »ist nichts, was dem Dasein Sinn zu geben vermöchte. … Glück soll und darf und kann nie ein Ziel sein, sondern nur das Ergebnis.« Von hier aus entwickelt Viktor Frankl nun den entscheidenden Gedanken, der den Kern des von ihm entwickelten existenzphilosophischen Konzeptes bildet: »Die Frage [kann] nicht mehr lauten: ›Was habe ich vom Leben zu erwarten‹, sondern darf nur mehr lauten: ›Was erwartet das Leben von mir?‹« Das Leben ist es, so Frankl, das Fragen an uns richte, auf die wir zu antworten haben. Nur indem wir darauf antworten, biete sich die Möglichkeit zur Sinnerfüllung.
Als Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, um auf die durch das Leben an uns gerichteten Fragen zu antworten, nennt Viktor Frankl das tätige Handeln, die Zuwendung zum anderen Menschen und das Erleben schöner Eindrücke (einschließlich der Schönheiten der Natur). Wem die Möglichkeit, tätig zu sein, genommen sei, dem bleibe das Erleben, einschließlich der Erfahrung, geliebt zu werden. Dem Menschen sei es möglich, »jenseits vom Tätigsein, im passiven Aufnehmen der Welt in das Selbst die Sinngebung des Lebens … zu vollziehen«.
Beim Nachdenken über potentielle Sinnquellen führt Viktor Frankl seine Leserinnen und Leser in tiefste Tiefen: Auch ein dem Menschen auferlegtes, nicht zu behebendes Leiden könne zu einer Sinnquelle werden. Die Art und Weise, wie der Mensch zu seinem Leiden innerlich Stellung nehme, könne ein sinnstiftender Akt sein. »Dem Sinn, der sich aus Kranksein und Sterben ergeben mag, [kann] alle äußere Erfolglosigkeit und alles Scheitern in der Welt nichts anhaben.« Frankl spricht hier von einem »inneren Erfolg«. Der Sinn unseres Lebens bestehe zu einem nicht geringen Teil darin, »wie wir uns zu unserem äußeren Schicksal einstellen«.
Hier ergeben sich hochaktuelle Bezüge zu Fragen, die uns heute in der Traumaforschung beschäftigen. Krankheit und erlittene Traumata können dann, wenn die Betroffenen eine hinreichende soziale oder therapeutische Unterstützung erhalten, nicht nur Belastungen erzeugen, sondern auch zu etwas führen, was heute als »Posttraumatisches Wachstum« (Posttraumatic Growth) bezeichnet wird. Die Seele des Menschen könne, »zumindest bis zu einem gewissen Grad und innerhalb gewisser Grenzen«, auch dadurch gefestigt werden, dass sie eine Belastung erfahre. »Vom Menschen und nur von ihm«, so Frankl, »ist es abhängig, ob sein Leiden einen Sinn hat oder nicht.«
Moderne Medizin zwischen Sachlichkeit und Menschlichkeit
Zu den ganz starken Elementen der in diesem Buch veröffentlichten Frankl-Texte gehören für mich seine Ausführungen zum Arzt-Patienten-Verhältnis. Der Patient (oder die Patientin) findet in einer seelischen Krise, die eine schwere Erkrankung meistens mit sich bringt, in der Regel nicht aus eigenen Kräften den Weg zu einer Wiedererlangung seiner Selbstkräfte. Um den verborgenen Sinn einer Erkrankung zu entdecken und zurückzufinden zu verloren gegangenen Selbstkräften, braucht der Patient den guten Arzt.
...Erscheint lt. Verlag | 23.6.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
ISBN-10 | 3-407-86701-8 / 3407867018 |
ISBN-13 | 978-3-407-86701-8 / 9783407867018 |
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