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Psychologie für Schiedsrichter (eBook)

Souverän urteilen und entscheiden
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
200 Seiten
Meyer & Meyer (Verlag)
978-3-8403-3762-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Psychologie für Schiedsrichter -  Hilko Paulsen
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Fußballschiedsrichter sind sowohl körperlich als auch mental gefordert. Eine Spielleitung erfordert mehr als Regelwissen: Schiedsrichter überwachen das Spiel und entscheiden innerhalb weniger Sekunden. Psychologie für Schiedsrichter hilft Unparteiischen, mentale Anforderungen auf dem Platz besser zu verstehen. Neben der Abhandlung klassischer Themen, wie der Persönlichkeit, Arbeit im Schiedsrichterteam und Stressmanagement, liefert das Buch zudem Methoden und Werkzeuge zur Leistungsoptimierung.

Dr. Hilko Paulsen ist Psychologe und Schiedsrichter. Nach seinem Studium der Psychologie in Köln war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig in der Abteilung Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie sowie als Unternehmensberater selbstständig tätig. Seit 2019 arebitet er bei einer Bundesbehörde im Bereich Führungskräfteentwicklung. Seit 2002 leitet er bereits Spiele als Schiedsrichter im Amateuerbereich und ist seit 2004 in verschiedenen Funktionen in der Aus- und Weiterbildung von Schiedsrichtern, aktuell als Coach für das Perspektiv- und Nachwuchsteam des Bezirkes Braunschweig im Niedersächsischen Fußballverband aktiv.

Dr. Hilko Paulsen ist Psychologe und Schiedsrichter. Nach seinem Studium der Psychologie in Köln war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig in der Abteilung Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie sowie als Unternehmensberater selbstständig tätig. Seit 2019 arebitet er bei einer Bundesbehörde im Bereich Führungskräfteentwicklung. Seit 2002 leitet er bereits Spiele als Schiedsrichter im Amateuerbereich und ist seit 2004 in verschiedenen Funktionen in der Aus- und Weiterbildung von Schiedsrichtern, aktuell als Coach für das Perspektiv- und Nachwuchsteam des Bezirkes Braunschweig im Niedersächsischen Fußballverband aktiv.

2 Entscheiden – Ablauf mehrerer mentaler Prozesse


Einer Schiedsrichterentscheidung liegen mehrere mentale Prozesse zugrunde. Die Grundlagen dazu wurden in einem frühen Modell von Plessner and Raab (1999) beschrieben. Ausgangspunkt ist ein Ereignis wie ein Zweikampf oder ein potenzielles Handspiel. Endpunkt die tatsächliche Entscheidung und deren Kommunikation. Die mentalen Prozesse umfassen

die Wahrnehmung wie die Aufmerksamkeitsprozesse, Blickbewegungen und Einflüsse durch die Position und Blickwinkel;

eine Kategorisierung und Einordung und Rückgriff auf Regelwissen, Erfahrungen und Kontextinformationen;

eine Integration verschiedener Informationen ebenfalls unter Rückgriff auf Regelwissen, Erfahrungen und Kontextinformationen.

Am Anfang steht ein Wahrnehmungsprozess. Wichtig ist vor allem, dass der Schiedsrichter einen Zweikampf sieht. Neben dem Sehen ist jedoch auch das Hören für die späteren Prozesse von Bedeutung (dazu später mehr). Der Wahrnehmung folgt dann eine Kategorisierung des gesehenen Zweikampfs und eine erste, vorläufige Einordnung.

War es überhaupt ein Foulspiel?

Wenn ja, wie hart war das Vergehen?

Ist eine persönliche Strafe erforderlich?

Wenn ja, welche?

Dazu erfolgt ein Abgleich von Informationen aus dem Gedächtnis. Beim Gedächtnis denken viele Menschen erst einmal an einen großen Wissensspeicher. Das Gedächtnis eines Schiedsrichters umfasst beispielsweise das Regelwissen. Aber auch persönliche Erfahrungen aus der Vergangenheit sind im Gedächtnis hinterlegt. Erfahrungen sind anschaulich, diese können beispielsweise konkrete Spielszenen sein, die du als Schiedsrichter in vergangenen Spielen erlebt hast oder Szenen, die auf einem Lehrabend gezeigt wurden.

Auch eigene Erfahrungen als aktiver Spieler, sogenannte motorische Erfahrungen, spielen hier eine Rolle (Pizzera & Raab, 2012): Wer erlebt hat, wie es sich anfühlt, einen Tritt zwischen die Beine zu bekommen, dem fällt es leichter, die Härte eines Vergehens, das er sieht, einzuordnen. Die wahrgenommenen Informationen werden dann zusammen mit den Erfahrungen zu einem Urteil zusammengefasst. Fehlentscheidungen können auf fehlender Wahrnehmung oder einer fehlerhaften Einordnung basieren.

Eine modifizierte Variante des Modells ist in Abb. 2.1 dargestellt.

Abb. 2.1: Prozessmodell einer Schiedsrichterentscheidung (modifziert nach Plessner & Raab, 1999)

Zu beachten ist, dass Entscheidungen auf dem Platz in der Regel sehr schnell getroffen werden. Mentale Prozesse basieren im Wesentlichen auf zwei, sich gegenseitig ergänzenden Systemen (Deutsch & Strack, 2006; Furley, Schweizer & Bertrams, 2015). Ein bewusstes System, das System 2, das langsam und anstrengend ist und vergleichsweise viel Aufmerksamkeit erfordert und ein unbewusstes System, das System 1, das auf schnelle Automatismen zurückgreift. Es ist anzunehmen, dass überwiegend System 1 bei den mentalen Prozessen am Werk ist und System 2 erst spät eingreift.

Nach einem Pfiff bleibt meistens etwas Zeit, um abzuwägen, ob eine Karte gegeben wird. Mit der Zeit und der Spielpraxis bilden sich zunehmend Automatismen aus. Diese führen zu mehr Handlungsschnelligkeit. Wahrscheinlich wirst du bereits die Erfahrung gemacht haben, dass du bei einem taktischen Halten nach dem Pfiff gleich zur Verwarnung gegriffen hast. In solchen Fällen war der Autopilot am Werk (System 1).

Der Autopilot mit seinen Automatismen erleichtert uns das Leben im Alltag. Lesen, kleinere Rechenaufgaben, sich im Straßenverkehr bewegen oder die Bedienung der Gangschaltung im Auto: Vieles geschieht unbewusst ohne große mentale Anstrengung.

Doch Automatismen sind zugleich rigide. Dann greift die Macht der Gewohnheit. Auf dem Platz hebt der Assistent bereits die Fahne, obgleich der im Abseits stehende Spieler stehen bleibt und ein Mitspieler von hinten angelaufen kommt. Ein klares Foulspiel ist bereits gepfiffen, da erkennt der Schiedsrichter die sich ergebende Vorteilssituation. Automatismen betreffen eine Vielzahl von psychischen Prozessen und somit auch die Wahrnehmung und weitere Denkprozesse.

2.1 Wahrnehmungsprozesse


2.1.1 Wahrnehmung ist selektiv und subjektiv


Abb. 2.2: Subjektive Wahrnehmung und Umwelt

Menschliche Wahrnehmung ist kein vollständiges Abbild der Umwelt. Wir nehmen immer nur einen Teil, also Ausschnitte, wahr und gleichzeitig sehen wir auch mehr, als objektiv gegeben ist (siehe Abb. 2.2). Denn unsere eigene Verfassung beeinflusst unsere Wahrnehmung. Wer Hunger hat, dem wird vermutlich der Geruch der Bratwurst auffallen. Wahrnehmung ist immer selektiv – und damit auch subjektiv. Wir schenken bewusst oder unbewusst immer nur gewissen Dingen unsere Aufmerksamkeit.

Als Schiedsrichter wirst du bereits die Erfahrung gemacht haben, wie entscheidend die Perspektive auf ein Geschehen für die Wahrnehmung ist. Eine Situation kann sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln ganz anders darstellen. Auch der Profifußball zeigt, dass das eine oder andere Foulspiel erst durch eine bestimmte Kameraperspektive aufgedeckt werden kann.

Abb. 2.3: Top-down- und Bottom-up-Wahrnehmung

Unsere Wahrnehmung wird gesteuert durch Aufmerksamkeitsprozesse. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Arten der Aufmerksamkeitssteuerung (Abb. 2.3). Zum einen erfolgt eine Aufmerksamkeit Bottom-up (vgl. Kebeck, 1997). Das heißt, dass irgendetwas um uns herum und in unmittelbarer Nähe passiert, das Aufmerksamkeit erzeugt. Schreit beispielsweise ein Spieler hinter unserem Rücken, werden wir uns schnell umdrehen. Besonders akustische Signale erzeugen Aufmerksamkeit. Deshalb nutzt der Schiedsrichter auch eine Pfeife und kein Lichtsignal.

Ferner wird unsere Aufmerksamkeit durch uns gesteuert: Top-down. Wir haben vorab in der Regel eine ungefähre Vorstellung davon, was passieren könnte und richten unsere Aufmerksamkeit darauf. Unsere Erfahrungen und gegenwärtige Verfassung nehmen Einfluss darauf, was wir wahrnehmen. Wir achten auf Dinge und fokussieren uns beispielsweise auf den Armeinsatz bei hohen Bällen. Wahrnehmen heißt also immer auch Vorwegnehmen: Als Schiedsrichter antizipierst du Handlungen und nimmst diese schneller wahr.

Unbewusst richten Schiedsrichter die Aufmerksamkeit auf bestimmte Bereiche aus. Hier ist dann der Autopilot am Werk und Automatismen steuern, wohin wir schauen. Die ist das bereits angesprochene System 1. Dieses ist bei höherklassigen Schiedsrichtern offenbar besser trainiert: Höherklassige Schiedsrichter richten ihre Aufmerksamkeit unbewusst besser aus als unterklassige Schiedsrichter, wie eine Studie mit Schiedsrichtern unterschiedlicher Leistungsgruppen zeigt (Spitz, Put, Wagemans, Williams & Helsen, 2016).

Die Autoren der Studie haben das Blickverhalten von Elite-Schiedsrichtern mit unterklassigen Schiedsrichtern verglichen. Elite-Schiedsrichter fokussierten im Vergleich zu unterklassigen Schiedsrichtern bei Videoszenen länger solche Bereiche, in denen es später zum Kontakt kam und die für die Beurteilung des Zweikampfs informativ waren (Spitz et al., 2016). Diese Antizipationsfähigkeit wird sich im Laufe der Jahre bei den Elite-Schiedsrichtern entwickelt haben. Elite-Schiedsrichter zeichnen sich insgesamt durch bessere visuelle Fertigkeiten als unterklassige Schiedsrichter aus (Ghasemi, Momeni, Rezaee & Gholami, 2009).

Eine weitere Studie zeigte, dass polnische FIFA- und UEFA-Schiedsrichter bessere Leistungen in einem standardisierten Aufmerksamkeitstest erzielen, als Schiedsrichter, die lediglich in der ersten polnischen Liga ihres Landes pfeifen (Pietraszewski et al., 2014). Interessanterweise waren in derselben Studie Schiedsrichterassistenten auch Schiedsrichtern überlegen.

Eine weitere Studie mit Assistenten der ersten und zweiten belgischen Liga zeigt, dass die Breite des Aufmerksamkeitsfensters, die sich mit psychologischen Testverfahren messen lässt, die Akkuratheit von Abseitsentscheidungen in einem Videotest vorhersagt (Hüttermann, Helsen, Put & Memmert, 2018). Dies deutet darauf hin, dass Schiedsrichterentscheidungen und diejenigen von Assistenten durch personelle Faktoren wie die Aufmerksamkeitsfähigkeit beeinflusst werden.

2.1.2 Warum Aufmerksamkeit blind macht


Aufmerksamkeitssteuerung hat jedoch einen Nachteil. Vieles von dem, was wir nicht erwarten und worauf wir nicht achten, geht an uns vorbei. Dieses Phänomen wird auch als Inattentional Blindness bezeichnet, zu Deutsch etwa unaufmerksame Blindheit (Memmert, 2019; Simons & Chabris, 1999).

Zum Phänomen der „Inattentional Blindness“ gibt es interessante Videos und Tests im Internet, die zwar nichts mit Fußball zu tun haben, aber das Phänomen veranschaulichen. Einfach nach „Inattentional Blindness“ bei YouTube® suchen. Zu viel sei hier nicht verraten – einfach ausprobieren.

Gerade Schiedsrichtern wird auf dem Platz des Öfteren vorgeworfen, „blind“ zu sein. Kurioserweise mag es Situationen geben, in denen sich für außenstehende Zuschauer ein derartiger Eindruck tatsächlich aufdrängt. Wenn beispielsweise...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2021
Verlagsort Aachen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Sport Ballsport
Schlagworte Entscheidung • Fehlentscheidung • Foul • Fußball • gelbe Karte • interaktion auf dem platz • mentale anforderungen • Mentaltraining • Persönlichkeit • Persönlichkeitsentwicklung • rote Karte • Spielleitung • Stressmanagement • video assistent • video-assistent
ISBN-10 3-8403-3762-3 / 3840337623
ISBN-13 978-3-8403-3762-8 / 9783840337628
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