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Das Drama der Vaterentbehrung (eBook)

(Autor)

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2021 | 8. Auflage
200 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61444-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Drama der Vaterentbehrung -  Horst Petri
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Kinder brauchen beide Eltern - oft fehlt jedoch der Vater als Identifikationsfigur und Vorbild. Welche besondere Rolle spielt der Vater in der Familie? Welche psychischen Probleme können Kinder und Jugendliche entwickeln, wenn sie ohne Vater aufwachsen? Und: Wie kann man diese Probleme selbst im Erwachsenenalter noch kompensieren und bewältigen? An zahlreichen Fallbeispielen und Erkenntnissen aus der psychologischen Forschung zeigt Horst Petri, wie wichtig der Vater für die Entwicklung des Bindungsverhaltens, der Geschlechtsidentität, der eigenen Rolle in der Gesellschaft und für die Einstellung zur Partnerschaft ist. Aus seiner umfangreichen Praxiserfahrung heraus eröffnet er Wege der Heilung, wenn die Vaterentbehrung zum Trauma wird.

Prof. Dr. med. Horst Petri ist Nervenarzt, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Berlin.

Prof. Dr. med. Horst Petri ist Nervenarzt, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Berlin.

I Die „Vaterlose Gesellschaft“ – ein Phantom

Zeiten wandeln sich und mit ihnen Ideologien und Begriffe. Ihre Funktion muss ständig neu entschlüsselt und auf ihre Brauchbarkeit überprüft werden. Die „Vaterlose Gesellschaft“ war schon immer ein Reizwort, erregte die Gemüter, spaltete die Parteien.

Der Begriff tauchte zum ersten Mal in der berühmten Schrift Freuds „Totem und Tabu“ aus dem Jahr 1913 auf. Freud legte mit ihr eine höchst spekulative Theorie über die Anfänge der Kultur vor: „Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.“ Ihr Motiv, so Freud, lag darin, die uneingeschränkte Macht des Vaters und seinen Alleinanspruch auf die Frauen zu brechen. Ihre Schuldgefühle veranlassten sie, den realen Vatermord künftig durch Totemfeiern zu ritualisieren und das Inzesttabu einzuführen. In der Übergangsperiode der „Vaterlosen Gesellschaft“ kehrten das Identifizierungsbedürfnis und die Vatersehnsucht der Söhne als „Einsetzung der Vatergottheiten“ wieder.1

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Begriff als Kampfparole von jungen Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern aufgegriffen. Ihr Entsetzen über das bis dahin beispiellose Grauen dieses Krieges verdichtete sich in einem Hass auf die verantwortlichen königlich-kaiserlichen Repräsentanten. Die politisch intendierte „Aktion Vatermord“ stand symbolisch für den Aufruhr einer jungen Generation gegen das patriarchale System der Vaterautoritäten. Ernst Federn, ein Schüler Freuds, wurde durch seine Schrift „Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft“ von 1919 zu einem wichtigen Kronzeugen dieser Bewegung, auch wenn er zu bedenken gab, dass die Abschaffung der Väter die Sehnsucht nach ihnen nicht aufheben könne. Darin stimmte er mit Freud überein.

Immerhin bewirkte der propagandistisch gemeinte Begriff der „Vaterlosen Gesellschaft“ eine radikale Kritik damaliger Vaterbilder. Das war ihr Sinn. Die aus der Enttäuschung geborene Utopie einer Gesellschaft ohne Väter hatte nur die Funktion einer Wunschphantasie, die sich ihrer Realitätsferne bewusst blieb.

Als Alexander Mitscherlich 1963 das Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, welche Lawinen er damit lostreten würde. Er steigerte die Verwirrung um den Begriff, als er ihm eine umgekehrte Wendung gab. In einem Kapitel über die Veränderungen der Vaterrolle in einer hochtechnisierten Gesellschaft gegenüber vorindustriellen Zeitepochen beklagt er die Auswirkungen der „Vaterlosigkeit“ durch die außerhäusliche Berufstätigkeit auf die psychische Strukturbildung der Kinder. Durch Arbeitsteilung, Abwesenheit und die fortschreitende Anonymisierung der Arbeitswelt verliere der Vater zunehmend an Macht, Ansehen und Autorität vor seinen Kindern, wodurch deren zur Ich- und Über-Ich-Entwicklung notwendige Identifizierungsmöglichkeiten einschneidend behindert würden. Mitscherlich klammerte in seiner Untersuchung reale Formen der Vaterlosigkeit durch nichteheliche Geburt, Scheidung und Trennung der Eltern oder frühen Tod des Vaters bewusst aus.

Festzuhalten bleibt aber, dass Mitscherlichs „Vaterlose Gesellschaft“ als Phantom weiter durch die Lande geistert. Kaum einer weiß, was sie konkret bedeutet, aber als Phantom lässt sie sich beliebig missbrauchen. Deswegen sei hier, auch wenn es für jede vernünftige Einsicht überflüssig erscheint, unmissverständlich betont: Eine vaterlose Gesellschaft hat es, selbst unter den Bedingungen eines Matriarchats, zu keiner Zeit gegeben und wird es nicht geben, solange menschliche Gemeinschaften existieren. Unter welchen gesellschaftlichen Verhältnissen auch immer – Väter werden, auch bei mangelnder Präsenz, für ihre Kinder in den vielfältigsten Begegnungen und Lebenszusammenhängen erfahrbar und von ihnen als gute oder böse Vaterbilder, je nachdem, verinnerlicht. Durch die Summe der gemeinsamen Erfahrungen bilden sie sowohl äußere als auch innere Repräsentanten der Vaterwelt, wirken auf die seelische Entwicklung ihrer Kinder ein und bleiben damit für deren Schicksal verantwortlich.

Diese Feststellungen sind auch angesichts des Bedeutungswandels angezeigt, den Mitscherlichs Begriff der „Vaterlosen Gesellschaft“ in der Folgezeit erfahren hat, und dem die gegenwärtigen Phantome ihr Dasein verdanken. Nur wenige Jahre nach Erscheinen seines Buches brach die „68er Bewegung“ auf. Der Protest der Studenten richtete sich gegen die patriarchalen Strukturen in Hochschule, Politik und Gesellschaft und schloss die Auseinandersetzung mit der Vatergeneration ein, die den Faschismus mitgetragen hatte. Die damaligen Studenten wollten keine „vaterlose“, sondern eine „antiautoritäre“ Gesellschaft, von falscher Autorität befreite männliche und väterliche Leit bilder, das „herrschaftsfreie“ und demokratische Verhältnis zwischen den Generationen. Dieses Ziel war realistischer als frühere Bemühungen zum Abbau männlicher Herrschaft. Damals setzte in der Männerwelt ein fundamentales Umdenken ein, dem wir heute stark veränderte Vaterbilder und ein neues Rollenverständnis des Vaters verdanken. Dieser Prozess wurde wesentlich durch die parallel erstarkende Frauenbewegung beschleunigt.

Ihr Kampf um Gleichberechtigung in Kindererziehung, Partnerschaft, Sexualität, öffentlichen Rechten, politischer Mitentscheidung und Beruf richtete sich zwangsläufig gegen die damals noch verfestigten patriarchalen Ordnungen. Auch wenn ihre Ziele heute noch nicht im gewünschten Ausmaß realisiert sind, kam es in einem ungewöhnlich kurzen Zeitraum zu Veränderung in den meisten Bereichen der Gesellschaft, mit denen nach historischen Erfahrungen kaum ernsthaft zu rechnen war.

Um ihre Ziele durchsetzen zu können, war es folgerichtig, dass der Kampf der Frauenbewegung gegen die Männerwelt gerichtet war. Aber auch hier gilt: Wenn sich nicht durch viele andere Einflüsse die Kultur männlicher Herrschaft aufzulösen begonnen hätte, um weniger autoritären Männer- und Vaterbildern Platz zu machen, wäre es der Frauenbewegung wohl kaum gelungen, innerhalb von nur drei Jahrzehnten die Veränderungen zu bewirken, die heute unsere Gesellschaft auszeichnen. Allerdings vollzog sich dieser Prozess keineswegs in eitler Harmonie.

Am Begriff der „Vaterlosen Gesellschaft“ lässt sich der Zusammenprall der Geschlechter exemplarisch aufzeigen. Hatte Mitscherlich den Begriff noch im Zusammenhang einer kulturkritischen Analyse spätkapitalistischer Gesellschaften angesiedelt, schmiedete die Frauenbewegung aus ihm eine Waffe im personifizierten Kampf gegen das Vaterkollektiv. Dabei gerieten die gesellschaftlichen Verhältnisse, die bei Mitscherlich zur „Unsichtbarkeit“ der Väter führen, gänzlich aus dem Blickfeld. Jetzt waren es die persönliche Schuld und das Versagen der Väter, die am Pranger standen. Die Wortführerinnen der Emanzipation wurden nicht müde, einer ganzen Frauengeneration die Unzulänglichkeiten von Vätern einzuimpfen. Die „Vaterlose Gesellschaft“ wurde zur griffigen Münze, mit der sich jedes Vorurteil auszahlte. Aus der Sensation des Begriffs ließ sich propagandistisches Kapital schlagen, das inflationär in Umlauf gesetzt wurde. Es wurde zum Schlag-Wort. Sein Paradox bestand darin, dass es Väter bis zur Lächerlichkeit verunglimpfte und gleichzeitig um ihre größere Verfügbarkeit in der Familie warb. Das Verfolgungsklima solcher Doppelbotschaften flaute an Schärfe auch nicht ab, als empirische Untersuchungen längst belegten, wie grundlegend sich väterliches Verhalten im Laufe der letzten drei Jahrzehnte verändert hatte.

Die Frauenbewegung muss sich heute mit der traurigen Erkenntnis auseinander setzen, dass sie in Bezug auf das Vaterthema ihren ursprünglich produktiven Befreiungsprozess überreizt hat. Die Kluft zwischen den Geschlechtern vertieft sich weiter, und das Gift, das inzwischen mehreren Kindergenerationen über ihre angeblich vaterlose Kindheit eingeträufelt wurde, wirkt bei diesen als gnadenlose Entwertung der Väter fort.

Es erscheint daher fast folgerichtig, wenn in jüngster Zeit der Begriff „Vaterlose Gesellschaft“ abermals einen Bedeutungswandel erfährt. Diesmal wird er nicht von der Frauen-, sondern von der Männerbewegung instrumentalisiert. Den Anstoß dazu gab die Zeitschrift „Der Spiegel“ Ende 1997 mit der Titelgeschichte „Die vaterlose Gesellschaft. Geschlechterkampf um Kinder und Geld“2. Ausgelöst wurde der Artikel durch zahlreiche Demonstrationen, Sitzblockaden, Hungerstreiks und die Übergabe symbolischer Geschenke vor deutschen Gerichten im Herbst 1997 von Vätern, die ihre Kinder nach Trennung oder Scheidung nicht mehr sehen dürfen. Sie haben sich inzwischen in einigen Männergruppen organisiert und protestieren gegen die Folgen der Scheidungsreform von 1977, die einer Ausgrenzung von Vätern und einem zunehmenden Umgangsboykott durch Mütter Vorschub leistet. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Im September 1997 wurde vom Deutschen Bundestag das „Neue Kindschaftsrecht“ verabschiedet, das am 1. Juli 1998 in Kraft trat. In ihm wird nach den negativen Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre das Sorge- und Umgangsrecht grundlegend neu geregelt. Der Spiegel-Artikel zog eine deprimierende Bilanz über die gegenwärtige Situation vieler Scheidungsväter und vor allem über ihre psychische Verfassung, nachdem sie in einem jahrelangen Scheidungskampf...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Psychoanalyse / Tiefenpsychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Alleinerziehende Mutter • Alleinerziehung • Eltern-Kind-Beziehung • Entwicklungspsychologie • Ersatzvater • Erziehung • Familie • Geschlecht • Identitätskrise • Jugendliche • Kinder • Kindschaftsrecht • Mutter-Vater-Kind • Psychologie • Pubertät • Rollenverteilung • Scheidung • SOZIALER VATER • Stiefvater • traditionelle Familie • Trauma • Traumabewältigung • Trennung • Vater • Vaterentbehrung • Vater-Kind-Beziehung • VATERLOSE KINDHEIT • Vaterverlust
ISBN-10 3-497-61444-0 / 3497614440
ISBN-13 978-3-497-61444-8 / 9783497614448
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