Mit dir (eBook)
224 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2835-2 (ISBN)
Über eine Beziehung, die das Leben prägt wie kaum eine andere
Wie bewahrt man ein Lächeln wenn's besonders schlecht läuft? Welche Version der Geschichte ist wahr: meine oder deine? Andreas und Benjamin Lebert - Vater und Sohn - gehen gemeinsam durchs Leben und sind trotz schwieriger Phasen und familiärer Verwerfungen immer im Gespräch geblieben. Hier erzählen sie von ganz unterschiedlichen Erinnerungen, von Krisen und gemeinsamen, unvergesslichen Erlebnissen.
Ein heiteres, spannendes und tröstendes Buch über die Brücken zwischen den Generationen - und die trennenden Schluchten.
ANDREAS LEBERT, der Vater, brach sein Physikstudium ab, war Taxifahrer und Pharma-Vertreter, ehe er anfing zu schreiben. Er hat dann als Journalist unter anderem für den STERN und die ZEIT gearbeitet, gründete das Magazin der Süddeutschen Zeitung, war Chefredakteur der BRIGITTE. Heute leitet er das Magazin ZEIT WISSEN, schreibt mit seinem Bruder Kriminalromane. BENJAMIN LEBERT, der Sohn, ist zweimal in der Schule sitzengeblieben und brach diese Karriere schließlich ganz ab. Erst Jahre später sollte er den Hauptschulabschluss in Abendkursen nachholen. Da war er schon ein berühmter Autor, und sein Roman »Crazy« stand auf den Lehrplänen der Mittelstufe. »Crazy« erschien, als er 17 war, wurde ein Jahr spät er verfilmt und in 32 Ländern veröffentlicht. Benjamin Lebert arbeitet heute immer noch als Schriftsteller, hat mittlerweile seinen achten Roman veröffentlicht und lebt mit seiner Familie in Hamburg.
NEIN
Werde ich ein berühmter Fußballer? Nein. Schreibe ich in Mathematik die rettende Note? Nein. Ist Natalie auch in mich verliebt? Nein. Kann ich mich gegen die Sparmaßnahmen des Vorstands durchsetzen? Nein. Werde ich ein Rächer in einem schwarzen Fledermauskostüm sein? Nein.
Wird mein Vater, obwohl er immer älter wird, stark bleiben?
Wird mein Sohn trotz seiner Behinderung ein leichtes Leben haben?
Wir denken an die vielen Neins, die wir in unserem Leben verarbeiten müssen. »Nein«, diesem Wort wollen wir uns hier widmen – es zählt zu den bedeutsamsten überhaupt – nicht zuletzt auch in der Beziehung von Vater und Sohn.
Wir blicken dafür zurück auf eine gemeinsame Reise, genauer gesagt auf einen Weg, der gemeistert werden wollte. Vater und Sohn, auf einer Decke sitzend, ausgebreitet auf einem Hügel in der Uckermark, auf der Weite großer Felder: Mais, Weizen, Gras. Neben uns ein ganz besonderes Nein. Der Grund für unsere Rast. Der Grund, warum wir überhaupt in dieser Gegend sind. Es ist graubraun, das Nein. Und es hat zwei bemerkenswert große Ohren.
Elias, der Esel, den wir geliehen haben, tut das, wofür Esel seit Menschengedenken berühmt sind: Er will nicht weitergehen. Schon seit zwei Stunden will er nicht weitergehen. Keinen halben Meter.
Vater, damals 55 Jahre alt, und Sohn, damals 29 Jahre alt, hatten sich eine kleine Reise vorgenommen, endlich mal wieder nur sie beide: Wandern mit einem Esel, Zeit füreinander haben, Gespräche führen, entspannen … Die Erinnerung an diesen Ausflug rufen wir jetzt wach, die Stunden und Tage mit einem Wesen, das zu jedem Zeitpunkt und mit großem Talent in der Lage war, einen Strich durch unsere Rechnung zu machen. Elias, der Esel, soll unser Führer sein durch die Gefilde des Wortes »Nein«.
Hirnforscher, Psychologen, Erziehungswissenschaftler, Managementtrainer und Kulturwissenschaftler versuchen, diese Gefilde abzustecken, wo es um viel geht: um die Fähigkeit, sich zu entscheiden, zu erkennen, was man will und was nicht. Um die Notwendigkeit, sich abzugrenzen: Wer bin ich, wer bist du? Um die Sehnsucht, vom Rest der Welt in Ruhe gelassen zu werden. Um die Kunst, das Wort »Nein« zu sagen. Und die ebenso große Kunst, es zu hören.
Der Esel Elias war sehr süß, verschmust und freundlich. Er erkannte ziemlich oft, was er nicht wollte, nämlich weitergehen. Sagen wir lieber: sehr oft.
Das Wissen, das wir von der jungen Frau auf der Farm dazu mitbekommen hatten, war folgendes:
Punkt eins: Wenn der Esel stehen bleibt, muss man sich von ihm wegdrehen und ihn ignorieren. Wenn man ihn ignoriert, werden sein Interesse und seine Neugier wieder geweckt, und er ist bereit weiterzugehen. Das hat nicht geklappt, nie. Aber es war schön, uns gegenseitig dabei zuzusehen, wie wir uns bemühten, einen Esel zu ignorieren.
Punkt zwei: Wenn der Esel ausgeglichen und fröhlich ist, sind seine Ohren ganz weich und entspannt, und sie drehen sich munter in die eine oder andere Richtung. Wenn der Esel aber schlechte Laune hat oder ihm etwas nicht behagt, dann legt er die Ohren steif nach hinten.
Die Kunst, das Nein zu hören … Es muss festgehalten werden, dass sie dort oben auf dem Hügel nach zwei Stunden in der stechenden Augustsonne noch nicht besonders ausgeprägt war, jedenfalls nicht beim Vater. So hat er tatsächlich versucht, Elias dadurch zum Aufbruch zu bewegen, dass er die steif nach hinten gerichteten Ohren nach vorne bog. Es ist ja durch wissenschaftliche Experimente belegt, dass der Mensch nicht nur dann lächelt, wenn er das Leben schön findet, sondern auch umgekehrt das Leben schön findet, wenn er lächelt, also die Mundwinkel nach oben zieht. Für Esel gilt das nicht, nein.
Die junge Frau auf der Farm hatte uns außer dem Wissen über Esel auch eine Wanderkarte mitgegeben, auf der sie die Tagesetappen unserer Route eingezeichnet und ihre Handynummer notiert hatte. An Schultern und Armen hatte sie auffällige Tattoos und im Gesicht drei Piercings. Sie erinnerte uns an Lisbeth Salander, die berühmte Figur aus den Stieg Larsson-Krimis. Die Konsequenz im Nein unseres Gefährten Elias drängte die Frage immer stärker nach vorn: Müssen wir die Lisbeth Salander der Uckermark anrufen und um Hilfe bitten?
Ja oder nein?
Bei dieser Entscheidung kämpfen im Menschen zwei Hirnregionen um die Macht, das weiß die Wissenschaft ziemlich genau. Die eine Region ist zuständig für Emotionen und Intuition, die andere für rationales Denken: planen, analysieren, reflektieren.
Wir entscheiden uns schließlich für nein, also: nicht anrufen.
Wir wollten uns in unserer unmittelbaren Zukunft nicht noch lächerlicher machen, als wir es ohnehin schon waren. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt den Verdacht, das Gespött der ganzen Uckermark zu sein: die zwei Männer aus der Stadt, angereist im BMW, neue Wanderschuhe an den Füßen, einer auch noch eine Gitarre auf dem Rücken, Lagerfeuer-Idylle im Sinn …
»Elias, komm!«
Das gestraffte Seil. An einem Ende die zwei Männer, schwitzend, in Schräglage. Am anderen Ende die zwei Ohren, angelegt nach hinten, ein unbeeindruckter Blick – und die vier Beine, die längst nicht mehr aus Fleisch und Knochen waren, sondern aus Stahl, verschraubt mit dem Mittelpunkt der Erde.
»Elias, komm.«
Nein.
Jetzt begannen zwei Standpunkte zwischen Vater und Sohn um die Macht zu kämpfen.
– Du bist zu herrisch, zu hart, zu befehlend, dadurch wird der Esel nur noch störrischer.
– Du bist zu weich, zu unentschlossen, so versteht er gar nicht, was du von ihm willst.
– Du merkst nie, wenn du mit deiner Art nicht weiterkommst.
– Du darfst nicht immer nur lieb und nett sein, musst auch mal lernen, dich durchzusetzen.
»Ihr seht ja ziemlich entspannt aus«, hatte Lisbeth Salander bei der Übergabe von Elias gesagt. Und dann ganz ernst, beinahe ermahnend hinzugefügt: »Aber ihr werdet sehen: Der Esel findet immer das Thema, um das es bei den Menschen gerade geht. Er wird auch euer Thema erkennen. Und er wird euch darauf stoßen.«
»Elias, komm.«
»Elias. Bitte.«
»Bitte. Elias.«
Kinder sagen Nein zum ersten Mal mit eineinhalb, zwei Jahren. Zuerst, weil es so schön kurz ist und weil es die Eltern so oft aussprechen. Allmählich merken die Kleinen aber die Besonderheit an dem Wort: Es bezeichnet nicht nur eine Sache wie Auto, Baum, Boot oder Feuerwehr. Es bedeutet mehr, es hat etwas mit einem selbst zu tun, und es löst Reaktionen aus. Man kann seinen Unmut kundtun. Sagen, dass einem etwas nicht passt und dem Gegenüber Grenzen setzen. Entwicklungspsychologen frohlocken über diesen Schritt. Der dänische Familientherapeut und Bestsellerautor Jesper Juul schreibt: »Wenn Kinder keine Möglichkeit haben, Nein zu sagen, können sie auch nicht Ja sagen.«
Nein sagen ist wichtig, das spüren wir, das lesen wir, das wissen wir. Aber wir haben auch den Wunsch nach Anerkennung, das Bedürfnis nach Harmonie, das Verlangen, den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Nein ist ein schneidendes Wort, ein trennendes Wort, ein beendendes Wort, ein zurückweisendes Wort, ein verletzendes Wort.
Wir haben Angst vor diesem Wort, Angst, es zu sagen, Angst, es zu hören. Wir verkleiden es, wir umgehen es, wir vermeiden es. Bücher über die Kunst, Nein zu sagen, gibt es in großer Zahl. Es gibt hilfreiche Regeln, mit welchen Strategien man am besten Nein sagt, sogar wie man das Nein sagen trainieren kann.
Trotzdem haben die meisten Menschen das Gefühl, Jasager zu sein, sich zu selten mit einem klaren Nein zu befreien. Experten auf diesem Gebiet weisen darauf hin, dass wir häufiger Nein sagen als wir es selbst vermuten würden. Aber wenn es uns nicht gelingt, Nein zu sagen, gräbt sich das in unserem Gedächtnis besonders tief ein und verstärkt das Gefühl einer schamvollen Wehrlosigkeit.
»Elias, komm jetzt, verdammt nochmal.«
Elias, der Esel, macht es so mit seinem Nein: Er bleibt freundlich, friedlich, lässt sich streicheln, macht klar: Mein Nein ist kein aggressiver Akt, keine Provokation, keine Zurückweisung. Mein Nein gehört mir, nicht dir.
Esel sagen ja auch nicht Nein. Sie machen Nein. Esel sind keine Neinsager, sondern Neinmacher.
Was das Machen...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abgründe • Autobiografie • Benjamin Lebert • Beziehungen • Crazy • Depression • Eltern-Kind-Beziehung • Erinnerungen • Erwachsenwerden • Familiengeschichte • Jugend • Kindheit • Männer • Persönliche Erinnerungen • Sex • Söhne • Spannung • Überforderung • Väter • Vater Sohn |
ISBN-10 | 3-8412-2835-6 / 3841228356 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2835-2 / 9783841228352 |
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Größe: 432 KB
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