Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart (eBook)
192 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60026-2 (ISBN)
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York. Thomas Meyer wurde an der LMU München promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach zahlreichen Stationen im In- und Ausland lehrt Meyer Philosophie in München. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen bildet das 20. Jahrhundert. Er hat mehrere Schriften Hannah Arendts ediert, darunter "Wir Flüchtlinge" (2015) und "Die Freiheit, frei zu sein" (2018).
Tradition und die Neuzeit
I
Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren Platos und Aristoteles’. Ich glaube, sie hat in den Theorien von Karl Marx ein ebenso definitives Ende gefunden. Den Anfang setzte Plato im »Staat«, genauer im Höhlengleichnis, das, weil es weder von Philosophie noch von Politik an sich handelt, sondern von der Beziehung zwischen ihnen, den eigentlichen Kern von Platos politischer Philosophie darstellt. Das Politische gilt hier ganz allgemein als der Bereich nur menschlicher Angelegenheiten – τὰ τῶν ἀνϑρώπων πράγματα, wie Plato zu sagen liebte –, aller Dinge, die zum Zusammenleben der Menschen in einer gemeinsamen Welt gehören; und was ihn kennzeichnet, sind Dunkelheit, Verwirrung, Täuschung, so daß der nach wahrem Sein strebende Mensch, der Philosoph, sich von ihm abwenden und dieser Höhle entsteigen muß, um den klaren Himmel zu entdecken, der sich über der Höhle wölbt und an dem die ewigen Ideen erscheinen. Am Ende dieser Tradition steht Marx’ Behauptung, daß Philosophie und die Wahrheit der Philosophen nicht außerhalb der »Höhle« menschlicher Angelegenheiten, sondern in ihrem Bereich und in der allen Menschen gemeinsamen Welt beschlossen liegt. Philosophie kann wirklich, nämlich »verwirklicht« nur im Zusammenleben der Menschen werden, das er Gesellschaft nannte, und seine Hoffnung für diese kommende Verwirklichung der Philosophie setzte er auf den »vergesellschafteten Menschen«.
Jede echte politische Philosophie ist dadurch ausgezeichnet, daß sie Stellung und Haltung des Philosophen zur Politik nicht nur mitbeinhaltet, sondern ihnen entspringt. Die abendländische Tradition politischen Denkens hat damit angefangen, daß der Philosoph sich erst einmal um der Philosophie willen von dem Politischen abwandte, um dann zu ihm zurückzukehren und dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten Maßstäbe aufzuerlegen, deren Ursprung und Erfahrungsgrundlage außerhalb des Politischen lagen in einem Bereich, der ausdrücklich als der den menschlichen Angelegenheiten fremdeste und unbekannteste definiert ist. Das Ende dieser Tradition politischer Philosophie konnte kaum anders kommen als dadurch, daß ein Philosoph der Philosophie den Rücken kehrte, um sie in der Politik zu »verwirklichen«. Das ist der Sinn des in sich selbst natürlich philosophischen Entschlusses von Marx, der Philosophie abzuschwören, um die »Welt zu verändern« und mit ihr die philosophierende Vernunft, »das Bewußtsein« der Menschen.
Anfang und Ende der Tradition haben eines gemeinsam: die elementaren Probleme des Politischen treten in ihrer unmittelbaren und einfachen Dringlichkeit niemals so klar zutage, als wenn sie zum ersten Male formuliert und wieder, wenn diese Formulierungen schließlich in aller Radikalität in Frage gestellt werden. Der Anfang gleicht vielleicht wirklich, wie Jakob Burckhardt meinte, einem »Grundakkord«, der in endlosen Modulationen und Variationen durch die ganze Geschichte des Denkens der westlichen Welt nachklingt. Nur am Anfang und nur am Ende ertönt er rein und unmoduliert; und so berührt noch heute der Grundakkord uns nirgends mächtiger und tiefer, als wenn Plato seinen ersten harmonisierenden Klang in die Welt sendet, während er vielleicht nirgends mißtönender und verletzender wirkt als bei Marx, wo er sich vergeblich in einer Welt durchzusetzen sucht, deren Stimme und Melodie mit ihm nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Es ist, wie Plato einmal beiläufig in seinem letzten Werk sagte: »Denn der Anfang ist auch ein Gott, und er rettet alle Dinge, solange er unter den Menschen weilt.« (ἀρχὴ γὰρ καὶ ϑεὸς ἐν ἀνϑρώποις ἱδρυμένη σῴζει πάντα.[8]) Solange der Anfang in unserer Tradition lebendig blieb, konnte er das Erscheinende retten – σώζειν τὰ φαινόμενα – und das Gedachte harmonisieren. Der gleiche Anfang brachte an seinem Ende nur Zerstörung in das Denken, wobei wir noch nicht einmal an die traurige Nachernte, an die Verwirrung und Hilflosigkeit zu denken brauchen, die kam, als der Faden der Tradition gerissen war, und in der wir uns heute befinden.
In den Marxschen Theorien, die nicht so sehr Hegel auf die Füße als die traditionelle Hierarchie von Denken und Handeln, Kontemplation und Arbeit, Philosophie und Politik auf den Kopf gestellt haben, beweist der von Plato und Aristoteles gesetzte Anfang seine außerordentliche, bis in unsere Zeit reichende Lebenskraft dadurch, daß er Marx in offenkundige Widersprüche verwickelt, und dies vor allem in dem Teil seiner Lehren, den man gemeinhin als utopisch bezeichnet. Hierher gehören vor allem die Voraussagen über die künftige klassenlose Gesellschaft, die, obzwar sie sich nur verstreut in Marx’ Werk finden und in ihm keinen großen Raum einnehmen, doch für die Entwicklung seiner Theorien eine führende Rolle spielen. Ihnen zufolge wird unter den Bedingungen der Vergesellschaftung – einer »gesellschaftlichen Menschheit« und eines »vergesellschafteten Menschen«[9] – der »Staat absterben« und die Arbeitsproduktivität sich so steigern, daß die Arbeit sich sozusagen selbst abschafft, wobei jedem Mitglied der Gesellschaft Muße in nahezu unbegrenztem Maß garantiert wird. »Die Arbeit ist frei in allen zivilisierten Ländern; es handelt sich nicht darum, die Arbeit zu befreien, sondern sie aufzuheben.« Natürlich enthalten diese Voraussagen Marx’ Ideal von der besten Gesellschaftsform, und als solche sind sie keineswegs utopisch, ohne Ort in Raum und Zeit, vielmehr reproduzieren sie die politischen und sozialen Bedingungen des athenischen Stadt-Staates zur Zeit des Perikles, also jenes politischen Körpers, der Plato und Aristoteles das negative Modell ihrer Erfahrungen abgab und dadurch zum Fundament wurde, auf dem unsere Tradition politischer Philosophie ruht. Die athenische Polis regierte sich selbst, ohne eine Scheidung zwischen Herrschern und Beherrschten zu kennen; sie war demzufolge für Marx kein Staat, da für ihn der Staat selbstverständlich ein Instrument der Herrschaft, wenn nicht der Gewaltherrschaft, war. (Hierin, wie in so vielem anderen, folgte Marx nur der Tradition, welche die Staatsformen als Herrschaftsformen aufzählt – Einzelherrschaft oder Monarchie, Herrschaft der Wenigen oder Oligarchie, Herrschaft der Masse oder Demokratie, wobei allerdings vor Hobbes die Gewaltherrschaft oder Tyrannis stets aus den legitimen Staatsformen ausgeschlossen war.) Die Muße oder Freiheit von Arbeit, die Marx für die Zukunft forderte oder voraussagte, besaß in diesem Athen jeder Bürger. (Arbeit disqualifizierte natürlich nicht nur in Athen und nicht nur in der Antike für den Besitz voller Bürgerrechte; bis zur Neuzeit konnte niemand, der durch Arbeit seinen Lebensunterhalt erwarb, politisch tätig sein, und bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hatte niemand politische Rechte, der nicht mehr besaß als seine Arbeitskraft.) Was das »Absterben des Staates«, das heißt die Abschaffung des Unterschiedes von Herrschern und Beherrschten, anlangte, und die Freiheit von Arbeit, die Muße, durch die der freie Bürger sich von der Klasse der Sklaven und Metöken unterschied, wollte also Marx nur für alle, was Athen der freien Oberschicht zugestanden hatte.
Viel erstaunlicher jedoch als diese allgemeine Gebundenheit an das Ideal der athenischen Polis ist die offenbare Abhängigkeit Marx’ von denjenigen Lehren Platos und Aristoteles’, die in offenem Widerspruch zu den Idealen der Polis stehen. Sie zeigt sich vor allem in dem tatsächlichen Inhalt des Marxschen Gesellschaftsideals. Für ihn kann es zur Freiheit der Muße nur kommen, wenn der Staat bereits abgestorben ist, da ja der Staat das Herrschaftsinstrument darstellt, durch das eine Klasse die andere ausbeutet und zur Arbeit zwingt. Nach Absterben der letzten Staats- oder Herrschaftsform bleibt aber für Marx eine einheitlich politische Sphäre überhaupt nicht mehr übrig; das Ziel ist vielmehr, das Regieren – die »Verwaltung von Sachen« (Engels) – so einfach zu gestalten, daß nach dem berühmten Wort von Lenin, das Marx’ Gedanken sehr präzis wiedergibt, dies Geschäft jede Köchin besorgen kann. Offensichtlich kann unter solchen Umständen das...
Erscheint lt. Verlag | 2.12.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Arendt Essays • Geschichte und Politik • Natur und Geschichte • Tradition und Neuzeit • Was ist Autorität? |
ISBN-10 | 3-492-60026-3 / 3492600263 |
ISBN-13 | 978-3-492-60026-2 / 9783492600262 |
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