ZEITLUPEN (eBook)
272 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12132-2 (ISBN)
Lucas Vogelsang, geboren 1985, ist ein Kind der Bundesliga. Da es zum Fußballer aber nicht reichte, wurde er Autor. Seitdem hat er für den Tagesspiegel, den Playboy, Welt am Sonntag und den Stern geschrieben. Er konnte einen Henri-Nannen-Preis, einen Deutschen Reporterpreis und, am Ende doch auf dem Platz, einen inoffiziellen Europameister-Titel in Rom gewinnen. 2021 erschienen seine ZEITLUPEN. Denn der Fußball schreibt die besten Geschichten. Lucas Vogelsang ist Teil des Podcasts FUSSBALL MML und spielt für die deutsche Autorennationalmannschaft. Er lebt in Berlin.
Lucas Vogelsang, geboren 1985, ist ein Kind der Bundesliga. Da es zum Fußballer aber nicht reichte, wurde er Autor. Seitdem hat er für den Tagesspiegel, den Playboy, Welt am Sonntag und den Stern geschrieben. Er konnte einen Henri-Nannen-Preis, einen Deutschen Reporterpreis und, am Ende doch auf dem Platz, einen inoffiziellen Europameister-Titel in Rom gewinnen. 2021 erschienen seine ZEITLUPEN. Denn der Fußball schreibt die besten Geschichten. Lucas Vogelsang ist Teil des Podcasts FUSSBALL MML und spielt für die deutsche Autorennationalmannschaft. Er lebt in Berlin.
»Vogelsang lässt in treffsicheren Texten Geschichten aufleben, wie sie nur der Fußball schreibt.«
Günter Keil, Playboy, 20. April 2021
»Als würde jemand aus einem abgeschmackten Schlager einen postmodernen Afro-Trap-Track machen. Tempo-Sätze mit einem guten Beat, näher an Stuckrad-Barre-Essays als an Weißtdunochdamals-Legendengelaber am Stammtisch. [...] Ein Text wie ein Film, hieße es vermutlich in Journalistenschulen – und das ist positiv gemeint.«
Andreas Bock, 11 Freunde
Zeitlupe
Denn das ist die wichtigste Sache am Fußball,
dass es niemals nur um Fußball geht.
Terry Pratchett
Dann stand das Spiel plötzlich still, rollte der Ball nicht mehr. War alles anders als sonst. Nicht mehr Samstag, nicht mehr halb vier. Kein Anpfiff und auch kein Flutlicht am Abend. Kein Bier an der Roten Erde, keine Wurst an den Stadionterrassen. Die Wochenenden und Nachmittage nun gähnend leer, die Stadien nur weiße Elefanten. Also kein Tor in München, kein Tor in Berlin. Statt Pfiffen nur noch der Wind in der Kurve. Nach dem Frühstück gleich die Lottozahlen, der Wetterbericht.
Und im Radio, ohne Gesänge, lief wirklich Musik.
Nach einer Woche bereits, die Felder unbespielbar, schien Gras über die Sache zu wachsen.
Als hätte es das Spiel nie gegeben.
Dann aber begannen wir, uns zu erinnern. Im Gedächtnis wie in alten Kisten zu kramen, in vertrauten Gefühlen Zuflucht zu suchen. In den Bildern, die wir kannten. Den Szenen, die wir bei uns tragen wie Passbilder in der Brieftasche. Das innere Auge als Leinwand, auf der Festplatte nun wieder das volle Programm. Bundesliga Classics, Eurogoals.
Jeder auch sein eigenes Archiv.
Im Fernsehen liefen plötzlich die Spiele von damals, die großen Kämpfe von einst, standen wir plötzlich erneut im Finale. Waren wieder nur Sekunden zu spielen.
So schufen wir unsere eigenen Konferenzen, über die Jahrzehnte und über die Pokale hinweg. So hielten wir uns, die Fernbedienung in der Hand, an unsere eigenen Gesetze. So spulten wir noch einmal zurück. Wussten jedes Ergebnis, kannten die Tore bereits. Und waren doch wieder hellauf begeistert. Von der Gleichzeitigkeit des Moments, den Schnittbildern und Wiederholungen. In den Stadien Menschen, Jubel und Tränen. Echte Liebe wohl auch.
Die Vergangenheit auf allen Kanälen. Krimis, wo sonst nur Krimis laufen. Die Sportschau etwa zeigte Deutschland gegen England. Halbfinale in Wembley 1996, seltsam körnige Bilder. Erst Shearer, dann Kuntz. Erst der Zeigefinger zum Himmel, dann die Säge als Antwort.
Vertraute Gesten, tatsächlich alte Bekannte.
Und im Netz, auf ganz anderen Plätzen, liefen nochmal ganz andere Dramen. Dortmund und Juventus, zum Beispiel. Finale im Olympiastadion, 1997. Zweimal Karl-Heinz Riedle, den sie Air nannten, weil er so hoch springen konnte. Ein König, der die Luft beherrschte. Dann Lars Ricken, von Marcel Reif zum Kunstschuss gebrüllt.
Schließlich Leverkusen in Unterhaching, Fernduell mit den Bayern. In den Flaschen der Spieler schon heimlich Champagner, dann aber Ballack ins eigene Tor. Und an der Seitenlinie Christoph Daum, die Augen starr in den Abgrund gerichtet. Wieder mal um Haaresbreite an der Schale vorbei.
Diese Bilder, sie holten wieder alles hervor. Und hinterließen ein seltsam entrücktes Gefühl. Als hätten wir uns mit ihnen noch einmal selbst besuchen dürfen. Die eigene Jugend, die Anfänge von allem.
Denn diese Szenen nehmen uns an die Hand. Bis wir wieder dort stehen, auf Höhe des Sechzehners. Im Ohr das Raunen der Menge.
Kinderaugenblicke.
Ich bin selbst mit dem Fußball groß geworden, ein Sohn der 90er-Jahre. Mein erstes Bundesligaspiel habe ich in der Zusammenfassung gesehen. Auf einem klobigen Röhrenfernseher in der Laube meiner Eltern. Es war Samstag. Es lief ran, weil ran nun mal am Samstag lief. Nur wusste ich das damals noch nicht. Das Konzept aber, so viele Treffer in so kurzer Zeit, gefiel mir gleich gut. Da war richtig was los. Und vor der Kamera, Begeisterung in allen Stadien, standen die Männer des Wochenendes. Reinhold Beckmann, die Jeansjacke in Knallrot. Jörg Wontorra, das Sakko in Altrosa. Oder Lou Richter, von dem ich lange dachte, er wäre der Typ von den Prinzen. Sie waren Komplizen, Türöffner auch.
Sie hatten den Fußball in unser kleines Wohnzimmer gelassen. Sie waren die Dealer, sie hatten mir die Pille schmackhaft gemacht.
Bald darauf kaufte ich mein erstes Panini-Album, klebte Katemann, Dickhaut und Wück. Sticker wie Fahndungsbilder. Die Bayern trugen Opel, Karlsruhe hatte Ehrmann auf der Brust. Und Bochum, unvergessen, ging mit Faber hausieren. Die Bundesliga, damals auch eine große Lotterie. Ein tatsächlich knallbunter Zirkus. So geriet ich hinein. In dieses Spiel, das man nur mit großen Augen schauen konnte. Plötzlich auch am Abend, mit meinem Vater auf der Couch. Weil die Deutschen in Amerika spielten, müde Blicke über den großen Teich. Letchkov gegen Icke, 20 Zentimeter zu kurz.
Die erste große Niederlage.
Danach dann Klinsmann gegen Bordeaux, Zidane noch mit vollem Haar. Das war mein erster Titel, ich jubelte im Wohnzimmer. Hertha spielte da noch in der Zweiten Liga, wir sollten erst später zueinander finden. An einem Nachmittag gegen Waldhof Mannheim. Auf dem Maifeld, im Windschatten von Günther Jauch. In der Champions League dann. Ali Daei gegen Chelsea, Barcelona im Nebel. Aber das ist noch mal eine ganz andere Geschichte.
Erstmal flogen die Deutschen über den kleinen Teich, spielten dort unter den Augen der Queen. Und ich saß daheim und klebte Abziehbildchen aus Haselnussschnitten, fiebrige Finger. Klebte Ziege und Reuter und Freund. Gesichter, die mich von nun an begleiten sollten. Erst als Spieler und später als öffentliche Figuren. Ich lernte sie nach und nach kennen. Die Europameisterschaft war, wenn man so will, unsere erste gemeinsame Reise. Und das Finale gegen Tschechien, Bierhoff in der Verlängerung, der erste gemeinsame Sieg. So wurden es besondere Wochen. Auch, weil diese Spiele anders waren als die Spiele zuvor.
Größer, wichtiger. Staatsangelegenheiten.
Der Fußball, er war jetzt nicht mehr nur bei uns zu Hause, er war nun auch bei den Nachbarn zu Gast. Gleichzeitig in allen anderen Wohnzimmern. Meine Freunde und ich, wir saßen gemeinsam vor dem Fernseher, wir teilten diesen Moment. Und nach jedem Spiel liefen wir in den Hof gegenüber, stellten die besten Szenen dort nach. Und jeder kam mit, denn jeder wusste Bescheid. Wir brauchten keine Wörter, um zu erklären, was gerade erst war. Wir trugen die Tore noch in uns. Und schossen mit Dosen auf Tischtennisplatten. Wurden Klinsmann, Sammer und Kuntz. Nur einmal war ich trotz allem Kroate. Davor Suker, mit der Sohle über dem Ball, als hätte er ihn gestreichelt.
Mein Held aber blieb Andy Möller, weil er in Wembley den Gascoigne gemacht hatte, die Brust raus vor den englischen Fans. Der ziemlich trockene Moment einer sonst sehr feuchten Figur.
Dann kam Bierhoff, und traf zweimal gegen Kouba. Das entscheidende Tor für immer mit Gold überzogen. Und Jürgen Klinsmann durfte den Pokal in den Himmel halten, in seinem Rücken die Queen, lächelnd im türkisfarbenen Kostüm. Auch das ein Sommermärchen.
Und die Menschen fuhren mit ihren Autos über den Kurfürstendamm. Berlin, die wieder grenzenlose Freude. Ganz am Ende dieser Nacht, das weiß ich noch genau, hat mein Vater mit einer Gaspistole in die Luft geschossen. Vor Freude, im Übermut auch. Und aus der erwachsenen Überzeugung heraus, Platzpatronen geladen zu haben. Da allerdings hatte er sich reizenderweise geirrt. So bin ich dann glücklich, aber mit roten Augen eingeschlafen.
Die Europameisterschaft, der Titel und die Bilder aus England, sind jetzt 25 Jahre alt. Und meine Erinnerungen aus dieser Zeit längst zu Schlaglichtern geworden. Bekömmliche Häppchen, meist auf dem Silbertablett angerichtet.
So kann ich die Jahre seither allein an jenen Momenten entlang erzählen, die geblieben sind.
Meinen Freunden, den Kollegen und Altersgenossen, geht es mitunter ganz ähnlich. Wenn sie vom Fußball von damals sprechen, verstehen wir uns. Und leben in Highlights, in Andeutungen. Stichwortspiele. Dann ist Fußball eine eigene Sprache. Dann reicht eine Szene, um einen ganzen Film zu beginnen. Dann reicht ein Zitat für einen ganzen Roman.
Ricken, lupfen jetzt!
Wir melden uns vom Abgrund.
Mach ihn! Er macht ihn!
Weiter, immer weiter!
Andy Brehme gegen den Elfmetertöter Goycochea.
Dann ist in Hamburg noch immer nicht Schluss. Dann steht Peruzzi in München zu weit vor seinem Kasten. Dann macht Fjörtoft einen Übersteiger und Baumann vergibt gegen Golz. Dann steht Assauer wieder im Parkstadion, im Mund noch die tränennasse Zigarre. Hinter ihm ein untröstlicher Trommler. Und Jörg Berger, er ruhe in Frieden, tollt wie irre durch den Frankfurter Jubel. Ein Feuerwehrmann, der die Kurve in Brand gesteckt ...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Sport ► Ballsport |
Schlagworte | Andy Thom • Beckenbauer • Beisenherz • Bertie Vogts • Borussia Dortmund • Cantona • Christoph Daum • Effenberg • FC Bayern • Finale Dahoam • Fussball MML • Fussballntionalmannschaft • Fussballweltmeisterschaft • heimaterde • Hoeneß • Joachim Krol • Jürgen Klopp • Maik Nöckerl • Marcelinho • Marcel Reif • Matthäus • Micky Beisenherz • mittelfinger • MML • Nationalelf • Nationalmannschaft • Reportage • Reporter • Stefan Effenberg • Stern • thom • Thomas Müller • Uli Hoeneß • Was wollen die denn hier • Weltmeisterschaft • WM • WM90 |
ISBN-10 | 3-608-12132-3 / 3608121323 |
ISBN-13 | 978-3-608-12132-2 / 9783608121322 |
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