Erziehung zur Vielfalt (eBook)
Der Alltag in Deutschland ist längst multikulturell und Kinder kommen durch Gleichaltrige mit anderen Familienmodellen, Religionen, Hautfarben oder Sprachen in Berührung. Doch diese Vielfalt führt auch unter Kindergarten- und Grundschul-Kindern nicht automatisch dazu, dass alle auch »gleich« wahrgenommen und behandelt werden. Mit diesem Buch zeigt die Diversity-Expertin Nkechi Madubuko Eltern Wege auf, wie sie ihre Kinder vorurteilsbewusster erziehen und für Vielfalt sensibilisieren können. Eltern legen die Grundlagen für die kindliche Wahrnehmung anderer und die Offenheit gegenüber Unterschieden - im Denken, in der Sprache und im Handeln. Dieser alltagsnahe Ratgeber hilft Eltern mit Fallbeispielen und Tipps dabei, über die Erziehung ihrer Kinder Ausgrenzung, Alltagsrassismus und Diskriminierung etwas entgegen zu setzen.
Dr. Nkechi Madubuko ist promovierte Soziologin, Diversity-Trainerin, ausgebildete Fernsehjournalistin (ZDF) und arbeitet als Dozentin an der Universität Kassel. Als Autorin veröffentlichte sie mehrere Artikel und Bücher, u.a. »Empowerment als Erziehungsaufgabe«, das erste deutschsprachige Buch zu Empowerment im Umgang mit Rassismuserfahrungen für Kinder und Jugendliche. Sie gibt Trainings für Eltern, Erzieher*innen und Lehrpersonal zu Empowerment, Verarbeitung von Rassismuserfahrungen, rassismuskritischer Bildung, diversitätssensiblem Umgang und Empowerment-Orientierung im Kontext Schule. Über 20 Jahre war sie als freie Moderatorin u.a. für Viva zwei, DSF, ZDF, das Bundesamt für Familie und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes tätig. Nkechi Madubuko ist dreifache Mutter.
Einleitung
Mia hat deutsche Wurzeln, ist weiß und konfessionslos, Fatimas Familie kommt aus der Türkei und ist muslimischen Glaubens. Patrik hat kongolesische Eltern und ist blind. David ist gehörlos, Marc hat zwei Mamas und spricht drei Sprachen, Janines Mutter ist alleinerziehend und hat wenig Einkommen. Nicht jedes dieser Kinder ist in Deutschland geboren, und doch besuchen sie gemeinsam eine Klasse. Alle Kinder bringen eine eigene Lebenswelt mit. Sie wachsen in Patchworkfamilien oder Ein-Eltern-Haushalten auf. Sie haben eine weiße oder dunklere Hautfarbe, sprechen zum Teil eine andere Erstsprache als Deutsch, sind von Beeinträchtigungen betroffen, haben unterschiedliche Herkunftsländer oder Wurzeln und daran gebundene Erfahrungen. Können diese Kinder auch befreundet sein und unbefangen miteinander spielen? Ich sage ja, wenn Eltern entsprechend sensibilisiert sind. Dieses Buch erklärt, woran Offenheit oft scheitert. Es zeigt Ihnen als Eltern und Bezugspersonen Wege auf, Kindern in der Erziehung eine wertschätzende Haltung gegenüber Vielfalt zu vermitteln. Denn ob Sprache, Hautfarbe, Kleidung oder Beeinträchtigungen eine Rolle für Freundschaften spielen, hängt davon ab, was die Kinder in ihrem täglichen Umfeld, besonders von Eltern und anderen Familienmitgliedern, lernen, sehen und hören, ob sie Bücher lesen und Spielsachen haben, die Vielfalt zulassen.
Vielfalt beziehungsweise Diversität oder Diversity beschäftigt sich mit Eigenschaften und Merkmalen, die Menschen voneinander unterscheiden und gesellschaftliche Zugänge und Teilhabe bestimmen – auch schon bei Kindern.1 Für sie sollte es selbstverständlich sein, beispielsweise in der Schule gleich bewertet zu werden, unabhängig von der Herkunft. Dem ist aber nicht so. Menschen werden anhand dieser Merkmale von anderen praktisch »gelesen«. Welche Merkmale sind das? Marilyn Loden und Judy B. Rosener nennen in ihrem Diversity-Ansatz Hautfarbe, Alter, ethnische und kulturelle Herkunft, sexuelle Orientierung, physische Fähigkeiten, Geschlecht, Weltanschauung/Religion, Einkommen, Sprache, eigene Bildung und die der Eltern sowie Familienstand.2 Schon Kleinkinder speichern entsprechende Bewertungen über Merkmale ab. Erwachsene sind dabei nicht immer gute Vorbilder, denn sie können falsch liegen: etwa, wenn sie Schwarze Menschen3 auf Englisch ansprechen, weil sie aufgrund der Hautfarbe davon ausgehen, diese würden kein Deutsch verstehen. Als »asiatisch« gelesene Menschen erlebten in der ersten Phase der Covid-Pandemie 2020 Beschimpfungen und rassistische Diskriminierung vor dem Hintergrund der Annahme, alle, die »chinesisch« aussähen, seien eine Virengefahr.
Unsere heutige Gesellschaft in Deutschland wird vielfach als tolerant wahrgenommen, vor allem dann, wenn man mit seinen eigenen Vielfaltskombinationen Akzeptanz erlebt. Dennoch werden Kinder und Familien täglich diskriminiert. Schmerzhaft erleben sie, was Herabsetzungen mit ihrem Leben machen. Rassismus beispielsweise hat viele Gesichter. Er begegnet Betroffenen bei der Wohnungssuche, wenn sie aufgrund des Namens und ihrer Herkunft nicht für eine Mietwohnung in Betracht kommen, wenn sie bei Bewerbungen von vornherein aussortiert oder erst gar nicht eingeladen werden, wenn ihre Kinder geärgert werden oder offene Beschimpfungen aushalten müssen. Schon die Kleinen erleben, vom Spiel ausgeschlossen zu werden. Pädagogisches Personal, dem teilweise selbst das Bewusstsein für Diskriminierung fehlt, schützt sie nicht unbedingt. Schule und Kita können so zu einem andauernden Stressfaktor werden bis zu dem Punkt, dass Kinder und Jugendliche nicht mehr hingehen möchten und schon allein bei dem Gedanken daran Bauchschmerzen bekommen. Ob sie der vermittelten »Norm« entsprechen, wird Kindern mit zunehmendem Alter bewusst, wenn sie häufiger auf eine Beeinträchtigung oder ein anderes Merkmal angesprochen oder sogar deswegen ausgegrenzt werden. Auch nehmen Kinder sehr deutlich wahr, dass ihr Merkmal beispielsweise in Kinderbüchern wenig sichtbar ist. Das bestärkt Kinder in der Annahme, nicht zugehörig und wertgeschätzt zu sein. Alles das sind Erfahrungswerte aus meiner Arbeit als Trainerin, die sich mit Wissen aus der Antidiskriminierungspädagogik, Beratungs- und Empowerment-Arbeit decken.4
Noch immer herrscht die romantische Vorstellung, Kinder hätten keine Vorurteile und würden im Kindergarten- und Grundschulalter immer offen aufeinander zugehen. Die Realität ist jedoch eine andere. Dass auch schon Kinder an Ausgrenzungen beteiligt sind, wird nicht gern zugegeben. Manche Kinder verhalten sich gegenüber Kindern anderer Hautfarbe oder Herkunft distanziert, finden sie »komisch« oder hänseln sie, weil sie sie nicht als »normal« empfinden, und lassen sie deshalb gegebenenfalls nicht mitspielen. Diesen Kindern ist es wichtig zu zeigen, was daran ungerecht ist, und ihre falschen Annahmen richtigzustellen. Zudem beobachten nicht betroffene Kinder auch Ausgrenzung von anderen Kindern und wollen wissen, was sie tun können. Leider ist das, was unsere Kinder in ihrem Umfeld lernen, geprägt von Auslassungen, Stereotypen und Vorurteilen, etwa was die Darstellungen, Zuschreibungen und Rollen in Werbung und Medien angeht. Bestimmte Gruppen sind nicht sichtbar oder werden nur in Klischees gezeigt. Aussagen von Erwachsenen geben ihren Anteil hinzu. Auf diese Art entsteht ein verzerrtes Bild, das eine offene und wertschätzende Wahrnehmung von Vielfalt verhindert. Kinder ordnen sich und andere zunehmend in diese vorgefertigten Schubladen ein. Sie lernen und erkunden die Welt auch über Kindermedien, Kinderbücher und Spielmaterialien. Hier sammeln sie Botschaften über sich, andere Menschen und die Welt. Was wird ihnen dort gezeigt, wer wir sind, und wer ist dabei nicht sichtbar? Viele von diesen Botschaften sind problematisch, wenn sie von den Kindern verinnerlicht werden.
Wie kann man diesen Prozess nun verändern? Viele Eltern wollen sich dem Thema öffnen, andere individuell wahrnehmen und einen sensibleren Umgang mit Vielfalt in der Familie und in der Erziehung leben. Der elterliche Hinweis »Alle Kinder sind gleich« ist aber wenig hilfreich, da es de facto Unterschiede im Aussehen und in den Lebenswirklichkeiten gibt. Welche Bedeutung soll Ihr Kind nun diesen Unterschieden geben? Soll es kopieren, was es in seiner Umwelt immer wieder an Stereotypen und ausgrenzendem Verhalten beobachtet? Vorurteile über andere Menschen lernen Kinder schnell, wenn sie nicht richtiggestellt werden. Oder soll es, wenn es selbst betroffen ist, Zuschreibungen, die an es herangetragen werden, glauben und denken, es sei weniger wertvoll als andere? Ganz egal, ob Ihr Kind selbst von Diskriminierung betroffen ist oder nicht: Sie als Eltern sind gefragt, Orientierung zu bieten.
Und das ist der Weg zu mehr Vielfalt in der Erziehung: Hinterfragen Sie zuerst Ihre eigene Wahrnehmung von Vielfalt. Welche Zuschreibungen haben Sie gelernt, die Sie unbedacht an Ihre Kinder weitergeben? Ich lade Sie dazu ein, Ihre eigenen Vorurteile zu reflektieren. Machen Sie sich bewusst, wie sehr Ihre Kinder in einer »dominanten Kultur« aufwachsen, die ein bestimmtes Bild von Normalität vermittelt, in der zahlreiche Vielfaltsdimensionen kaum vorkommen. Es gilt, hier bewusst neue Akzente zu setzen. Ich zeige Ihnen, welche das sein können. Studien aus der Vorurteilsforschung geben Hinweise, wie wir Vorurteile reduzieren können oder dafür sorgen, dass sie sich in der frühen Kindheit so wenig wie möglich entwickeln. Nehmen Sie Einfluss auf die Normalitätsvorstellungen Ihrer Kinder. Je mehr Sie als Eltern beispielsweise über Migration, Religionen, sexuelle Identitäten, Familienformen, Leben mit Behinderung oder einem geringen sozialen Status wissen, umso empathischer und sachlicher können Sie diese Vielfalt vermitteln. Sie können bei Ihrem Kind gezielt mit sachlichen Gesprächen, aber auch mit Ihrem Verhalten sowie ausgewählten Medienangeboten Impulse für Vielfalt setzen. Es braucht viele solcher Gespräche, um Vorurteile nach Möglichkeit überhaupt nicht erst entstehen zu lassen. Aber letztlich sind wir alle Menschen, und Gemeinsamkeiten lassen sich immer wieder entdecken. Kinder, die von vorurteilsbewussten Eltern und Pädagog_innen begleitet werden, lernen einen wertschätzenden Umgang mit Unterschieden und neigen auch weniger zur Diskriminierung.5 Wir müssen lernen, Menschen als einzigartige Individuen zu sehen und zu behandeln, statt sie in Schubladen zu stecken. Vermitteln Sie diese Haltung Ihren Kindern.
Eltern, deren Kinder Diskriminierung erleben, brauchen noch etwas anderes. Ihre Kinder benötigen Strategien zum Umgang und viel Identitätsstärkung speziell zu ihrem persönlichen Hintergrund, die ich als mein Empowerment-Konzept hier vorstelle. Die Kinder sollen nicht verinnerlichen, dass mit ihnen etwas nicht »richtig« sei, sie »dümmer« oder »hässlicher« seien oder nicht dazugehören. Sie sollten wissen, dass ihnen Unrecht geschieht und sie dem nicht ohnmächtig und wehrlos gegenüberstehen müssen. Akzeptiert zu sein, wie man ist, ist ein Grundbedürfnis in der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung. Von Diskriminierung betroffene Kinder brauchen Ihre elterliche Hilfe und Gegenerfahrungen, ohne Abwertung und Spott. Ihr Kind darf mit diesen Erlebnissen nicht allein gelassen werden, denn das kann es überfordern und sogar zu körperlichen Beschwerden führen.
Für mich ist diversitätssensible Erziehung eine Erziehung, die Vielfalt auf menschlicher Ebene mit Wertschätzung begegnet, die Empathie fördert, Unsicherheiten zu Bewertungen anderer auf...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2021 |
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Zusatzinfo | Durchgehend vierfarbig |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | Alice Hasters • Alltagsrassismus • Antirassismus • #blacklivesmatter • Black lives matter • BlackLivesMatter • Diskriminierung • Diversität • Diversity • eBooks • Eltern • Elternratgeber • Empowerment • Erziehung • Erziehungsratgeber • exit racism • Gesundheit • Gib mir mal die Hautfarbe • Hautfarbe • Hautfarbenstifte • Kinder • Kindererziehung • Kinder of Color • Pädagogik • Rassismus • Rassismuskritisch denken • Ratgeber • Tupoka Ogette • Vorurteile bei Kindern • vorurteilsbewusste Erziehung |
ISBN-10 | 3-641-28102-4 / 3641281024 |
ISBN-13 | 978-3-641-28102-1 / 9783641281021 |
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Größe: 2,3 MB
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