Die Rhythmen und Rituale unserer Kinder (eBook)
184 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86669-1 (ISBN)
André Stern ist Autor, Journalist, Musiker und gefragter Referent zu Familienthemen. Seine Bücher sind in vielen Sprachen erschienen; sein bekanntestes ist »...und ich war nie in der Schule. Geschichte eines glücklichen Kindes«. 1971 in Paris geboren, lebt der Vater zweier Söhne in Frankreich. https://andrestern.com
Rhythmen und Rituale
Wie fast jeden Tag drückt Benjamin mit diesem besonderen Elan seines ganzen Körpers deutlich den Wunsch aus, in den Kindersitz unseres Fahrrades gehoben zu werden, und macht klar, dass die Stunde gekommen ist, um die vier Kilometer zurückzulegen, die uns von der Nationalstraße trennen.
Wir gehen dorthin, um die Autos vorbeifahren zu sehen, vor allem die Lastwagen. Man sieht sie von Weitem, wie sie die lange, gerade Strecke hinauffahren. Nichts ist ansteckender als Begeisterung, vor allem die Begeisterung eines Kindes. Es klatscht in die Hände, hüpft vor Freude, und wenn der große, mächtige und so konkrete Lastwagen vorbeifährt, ist es starr vor Begeisterung – und der Fahrer begreift und lächelt. Ich weiß, dass die Lastwagenchauffeure per Radio miteinander kommunizieren und sich gegenseitig darauf aufmerksam machen, dass bei Kilometer soundso, bei der Bushaltestelle, ein Vater und sein kleiner Bub den Lastwagen zuschauen, wie sie vorbeifahren. Und sie, Einsame auf langen Strecken, unbekannte Arbeiter der Straße, die keiner sieht und noch weniger anerkennt, fühlen sich plötzlich willkommen, bewundert, geschätzt. Sie grüßen uns mit der Hand, einige beschränken sich darauf, die Finger zu heben und die Handballen auf dem Steuerrad zu belassen, andere hupen kurz, wenn das imposante Fahrzeug dröhnend an uns vorbeifährt und wieder anonym wird, während es sich entfernt.
Dank Benjamin habe ich diese Stunden schätzen gelernt, habe gelernt, mir die Zeit eines Kindes zu nehmen, die oft sehr lang sein kann. Ich spüre den Wind, die Wirbel, die noch lange anhalten, nachdem der Lastwagen vorbeigefahren ist, ich höre die Geräusche, ab und zu auch ganz weite, wenn es gerade eine größere Lücke zwischen den Fahrzeugen gibt. Ich höre die sich verändernde Höhe des Geräusches eines Motors, der näher kommt, eingekeilt zwischen dem Geräusch der Luft und demjenigen der Reifen; ich nehme den Schrei der Raben wahr und das leise Knacken der Insekten.
Benjamin, der zwei Jahre alt ist und gerade zu sprechen beginnt, sagt unvermittelt: »Fertig Auto, fertig Lastwagen, holen Mama!« Also setze ich unser Fahrrad wieder in Bewegung, wir machen uns auf den Heimweg. Heute nehme ich nicht die Abkürzung über die Schotterstraße und den Parkplatz, sondern folge ein paar Meter der Nationalstraße und fahre um den Parkplatz herum. Zur Abwechslung, diese Idee eines Erwachsenen. Sie gefällt Benjamin aber überhaupt nicht, er schreit, weint beinah: »Mama ist dort!« Er dreht sich vehement um und zeigt hinter sich auf den Weg, den wir gewöhnlich nehmen. Ich begreife, dass es keine gute Idee war, und kehre um; verstehe, dass das Verhalten von Benjamin nichts mit Trotz zu tun hat, dass er nicht »befehlen« will, sondern schlicht und einfach ein Ritual zu Ende führen muss.
Das Ritual. Mit den Rhythmen zusammen strukturiert es die Kindheit. Die Rituale geben Sicherheit, Geborgenheit, sie festigen und sind der Ruhepunkt, von dem aus das Kind Anlauf nehmen kann für das großartige Abenteuer, jeden Tag aufzubrechen zur Entdeckung neuer Horizonte. Abkürzungen und Ausnahmen sind störende Elemente, sie sind nicht willkommen und machen manchmal Angst.
Wir legen zwei Drittel des üblichen Wegs zurück, von dem Benjamin jeden Meter genau kennt. Wir kommen zum Punkt, an dem die Straße auf die Weide trifft, wo Esel, Kühe und Stiere weiden. »Da, da, da!«, schreit Benjamin, was heißt, dass er anhalten will. Wir gehen so nah wie möglich zum Zaun und die Tiere nähern sich uns ruhigen und gemessenen Schrittes und bilden einen Halbkreis, in dessen Zentrum das Kind steht, und dazwischen nur der Zaun.
Kinder und Tiere verbindet eine angeborene Nähe. Die Tiere kommen zu den Kindern, die Kinder gehen zu den Tieren.
In den Tieren sehen sich die Kinder wie in einem Spiegel. Erinnern Sie sich? Kinder erkennen in den Tieren, in ihrem Blick und ihren Bewegungen, diese Unschuld und Loyalität, Kraft und Verletzlichkeit, Liebe und Angst, die sie selbst empfinden. Tiere und Kinder teilen die Fähigkeit, uns direkt im Herzen zu erreichen.
Tiere schauspielern nicht, sie sind.
So wie die Kinder sind, wenn sie
Pilot, Feuerwehrmann oder Müllmann
spielen. Sie sind ihr Spiel.
Benjamin hat eine Vorliebe für die pflanzliche Milch einer bestimmten Marke. Diese Milchtüte gehört dazu, seit er Gegenstände wahrnehmen kann. Heute gerät seine Welt aus den Fugen, der Horizont ist verschwommen, verwirrend, verstörend. Die Marke hat das Design der Milchtüte verändert! Pauline, seine Mutter, erklärt ihm, dass die Farben dieselben sind, dass das Logo unverändert ist. Sie vergleicht jedes einzelne Element mit demjenigen auf der alten Milchtüte, erklärt, dass der gleiche Name auf der Tüte steht, und vor allem, dass der Inhalt genau derselbe ist, aber Benjamin lehnt diese Milch strikt ab. »Nein danke, nein danke: die Milch!«, sagt er und zeigt auf die alte Milchtüte.
Nur wenn der Heimathafen in Ordnung ist und dadurch Sicherheit bietet, macht sich das Kind voller Freude und Neugier auf, zu entdecken, was unbekannt und somit bereichernd ist. Wenn der Heimathafen versagt, erstarrt das Kind. Und riskiert dabei – Gipfel des Missverständnisses! – mit der Bezeichnung »starrköpfig« belegt zu werden.
Immer erwartet das Kind, schon bald ein Teenager, dass ihm nicht nur eine Tasse heiße Schokolade zubereitet wird (immer die Gleiche, wenn möglich), sondern auch seine vier Schnittchen. Bevor die vier Butterbrotscheiben auf dem Teller liegen, fängt es mit dem Frühstück nicht an. Da sie aber nur paarweise getoastet werden können, muss es halt ein bisschen warten. Und dabei den unwiderstehlichen Duft der Schokolade einatmen, vermischt mit dem Duft der ersten beiden Schnittchen, die gerade aus dem Toaster kommen, auf denen die Butter schmilzt … Aber es rührt nichts an, bevor das Quartett vollständig ist, die vier Schnittchen fertig, getoastet und gebuttert.
Um zwischen zwei nahe gelegenen Standpunkten zu wechseln, zieht der Fahrer an diesem Tag sein Auto zehn Meter vor und lässt dabei die eine Tür offen: Das Kleinkind, das hinten sitzt, schreit heftig, voller Sorge und auch voller Verantwortungsgefühl (auch wenn dieses den Kindern meist abgesprochen wird): »Papa, Papa! Die Tü’e, die Tü’e!«
Diese Reaktion angesichts eines Rituals, das nicht eingehalten wird – dass die Tür geschlossen sein muss, wenn das Fahrzeug sich in Bewegung setzt –, zeigt überdeutlich und sogar für uns fassbar, wie sehr dieser Bruch für das Kind das Ende der Sicherheit bedeutet.
Ein Hochzeitsessen. Das Kind ist etwas mehr als drei Jahre alt. Der Saal ist groß und würdevoll, voller Gäste, die sich an großen Tischen niedergelassen haben, gedeckt mit Gläsern, Tellern, Besteck, Speisen, Karaffen, Flaschen, Blumen, Vasen, Mandeldragees, Kerzen und anderen festlichen Dekorationen. Die Stimmung ist gleichzeitig gedämpft und angeregt, die Gäste strahlen Freude aus und das Personal ist geschäftig.
Das Kind macht mit kleinen Schritten die immer gleiche Runde, unermüdlich, läuft Slalom zwischen den verschiedenen Hindernissen, kollidiert nie mit einem Kellner und folgt unentwegt der gleichen Spur. Man sieht es kaum, es ist noch so klein, dass sein Kopf die Reihen der geladenen Gäste nicht überragt, man sieht es höchstens zwischen den Stühlen auftauchen. Die Hochzeit ist in vollem Gange, das Kind ist schlicht Teil der Landschaft. Es läuft pausenlos, wird nicht müde, hält nicht inne, sein ganzer kleiner Körper ist in Bewegung. Zwischen den Stühlen – die unregelmäßig verteilt sind und an deren Lehnen Jacken hängen –, und der Mauer aus unverputztem Stein bewegt es sich mit eindrücklicher Präzision. Es schleicht sich durch, ohne jemals an irgendetwas anzustoßen, weder auf der einen noch auf der anderen Seite.
Diese Runden sind sein Ritual dieses Abends. Schlagen wir ihm vor, zu essen oder zu trinken, setzt es seine Runden fort, mit einem Lächeln, aber ohne die Absicht, anzuhalten.
Die Erwachsenen in unseren Breitengraden haben Angst, die Wiederholung des immer gleichen Spieles, der gleichen Tätigkeit, der gleichen Runde werde eintönig für das Kind. Sie schlagen also »Varianten« vor oder regen an, »etwas anderes zu tun«, damit es sich nicht langweile. Ist das nicht eher die eigene Unbeständigkeit, die Erwachsene damit ausdrücken? Nach drei oder vier Wiederholungen sagen sie oft: »Komm, das reicht, wir machen das jetzt ein bisschen anders, sonst wird es langweilig.« Aber war es so für das Kind? Hat das Kind nicht damit angefangen, um lange fortzufahren, immer wieder von Neuem, ohne Verfallsdatum am Horizont? Sehen...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
ISBN-10 | 3-407-86669-0 / 3407866690 |
ISBN-13 | 978-3-407-86669-1 / 9783407866691 |
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