Der Gulag
Siedler, W J (Verlag)
978-3-88680-642-3 (ISBN)
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Dies sind nur einige der Fragen, denen die renommierte amerikanische Journalistin Anne Applebaum in ihrem neuesten Buch nachgeht. Gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial aus sowjetischen Archiven, das erst in jüngster Zeit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, und auf zahllose Häftlingserinnerungen und Gespräche mit Überlebenden zeichnet die Autorin das Gulagsystem von seinen Ursprüngen in den Revolutionsjahren bis zu seiner Auflösung in den achtziger Jahren nach.
Applebaum untersucht die wirtschaftliche und politische Bedeutung des Zwangsarbeitssystems, das unter Stalin seinen Höhepunkt erlebte, und gibt zugleich den Opfern eine Stimme. Sie beschreibt den Lageralltag und die Überlebensstrategien der Häftlinge, die besonderen Erfahrungen von Frauen und Kindern in den Lagern, sexuelle Beziehungen und Eheschließungen zwischen Häftlingen, erzählt von Rebellion, Streiks und Flucht.
»Durch die Kombination äußerst sorgfältiger Forschung mit den Erzählungen von Überlebenden erhellt ›Gulag‹ eine Welt, die bislang im Schatten lag«, urteilte Henry Kissinger. Applebaums Werk gilt schon jetzt als Standardwerk und wird in sieben europäische Sprachen übersetzt.
Anne Applebaum, geboren 1964 in Washington, D. C., ist Historikerin und Journalistin. Sie begann ihre Karriere 1988 als Korrespondentin des Economist in Warschau, von wo aus sie über den Zusammenbruch des Kommunismus berichtete. Heute ist sie Direktorin des Legatum-Instituts in London und schreibt als Kolumnistin für Slate und Washington Post. Für ihre publizistische Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise, unter anderem wurde ihr Buch Der Gulag (2003) mit dem Duff-Cooper- und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Applebaum ist mit dem polnischen Autor und Außenminister Radek Sikorski verheiratet und lebt in Warschau.
Anfänge unter den Bolschewiken 1917 rollten zwei revolutionäre Wellen über Russland hinweg und ließen die zaristische Gesellschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen. Zar Nikolaus II. dankte im Februar ab, und danach vermochte kaum noch jemand die Ereignisse aufzuhalten oder zu kontrollieren. Alexander Kerenski, der die erste Provisorische Regierung nach der Februarrevolution anführte, schrieb später, dass ihm zu dem damaligen Zeitpunkt »die verschiedenen politischen Taktiken, Programme und Pläne, so kühn und gut überlegt sie waren, hilflos und nutzlos in der Luft zu hängen« schienen. Doch obwohl die Provisorische Regierung schwach war, das Volk unzufrieden und voller Zorn über das Blutbad, das der Erste Weltkrieg angerichtet hatte, rechneten nur wenige damit, dass die Macht den Bolschewiken in die Hände fallen würde, einer von mehreren radikal-sozialistischen Parteien, die für rasche Veränderungen agitierten. Im Ausland hatte kaum jemand von ihnen gehört. Noch rätselhafter war ihr Anführer Wladimir Iljitsch Uljanow, den die Welt bald unter seinem Parteinamen »Lenin« kennen lernen sollte. In langen Jahren des Exils hatte er sich wegen seiner Brillanz ebenso Anerkennung erworben, wie wegen seines aufbrausenden Temperaments und seines Fraktionsgeistes unbeliebt gemacht. In den Monaten nach der Februarrevolution war Lenin selbst in der eigenen Partei weit davon entfernt, unumschränkte Autorität zu genießen. Noch Mitte Oktober 1917 hielten mehrere führende Bolschewiken nichts von seinem Plan, einen Umsturz gegen die Provisorische Regierung herbeizuführen, da die Partei auf die Machtergreifung noch nicht vorbereitet sei und nicht genügend Unterstützung im Volk genieße. Aber Lenin setzte sich durch. Von ihm angestachelt, besetzte eine Menschenmenge am 25. Oktober 1917 das Winterpalais. Die Bolschewiken nahmen die Minister der Provisorischen Regierung fest. Stunden später stand Lenin an der Spitze eines Staates, den er Sowjetrussland nannte. Zwar war der Griff nach der Macht gelungen, aber Lenins Kritiker in den Reihen der Bolschewiken hatten nicht ganz Unrecht. Sie kamen in der Tat völlig unvorbereitet zur Macht. Ihr Rückhalt in der Bevölkerung war gering, und so stürzten sie sich fast augenblicklich in einen blutigen Bürgerkrieg, um an der Macht zu bleiben. Von 1918 an, als die Weiße Armee des alten Regimes sich umgruppiert hatte, um gegen die neu geschaffene, von Trotzki geführte Rote Armee den Kampf aufzunehmen, wütete der Bürgerkrieg in ganz Russland mit einer Heftigkeit, wie man es in Europa bisher selten erlebt hatte. Aber nicht nur auf dem Schlachtfeld tobte die Gewalt. Die Bolschewiken unternahmen alles, um intellektuelle und politische Gegnerschaft in jeglicher Form zu unterdrücken. Zielscheibe waren nicht nur die Repräsentanten des alten Regimes, sondern auch andere Sozialisten: Menschewiken, Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Erst 1921 zog in dem neu geschaffenen Sowjetstaat relative Ruhe ein. In diesem Klima aus Improvisation und Gewalt entstanden die ersten sowjetischen Arbeitslager. Lenins Vorstellung davon als einer besonderen Form von Strafe für eine besondere Art bourgeoiser »Feinde« passte zu seinen Ideen von Verbrechen und Verbrechern. Einerseits hatte der erste sowjetische Führer seine Zweifel, was das Einsperren und Bestrafen von Kriminellen - Dieben, Räubern und Mördern - betraf, die für ihn potenzielle Verbündete waren. Als Hauptursache der Übertretung gesellschaftlicher Regeln (wie er das Verbrechen nannte) sah er die Ausbeutung der Massen. War diese beseitigt, musste auch die Übertretung verschwinden. Daher brauchte man Kriminelle nicht besonders zu bestrafen. Mit der Zeit würde die Revolution selbst zur Überwindung des Verbrechens führen. Andererseits erwartete Lenin wie die bolschewistischen Rechtstheoretiker, die seinen Ideen folgen sollten, dass mit der Errichtung des Sowjetstaates eine neue Kategorie von Verbrechern auftauchte: der »Klassenfeind«. Der Klassenfeind war gegen die Revolution und arbeitete offen, häufiger vermutlich aber verdeckt daran, sie zum Scheitern zu bringen. Er war schwerer aufzuspüren als ein gewöhnlicher Verbrecher und viel schwerer zu ändern. Er musste daher härter bestraft werden als jeder Dieb oder Mörder. So hieß es im ersten »Dekret über Bestechung« vom Mai 1918: »Wenn eine Person, die Bestechung anbietet oder annimmt, den vermögenden Klassen angehört und mit der Bestechung Vermögensvorrechte bewahren oder erwerben will, dann soll sie zur härtesten und unangenehmsten Form von Zwangsarbeit verurteilt und ihr gesamtes Vermögen eingezogen werden.« Leider machte sich niemand die Mühe, eindeutig zu beschreiben, was unter einem Klassenfeind zu verstehen sei. Daher kam es im Gefolge des bolschewistischen Umsturzes zu einem dramatischen Anstieg von wahllosen Verhaftungen. Bankiers, Marktfrauen, »Spekulanten« - das konnte jeder sein, der einer selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachging -, Gefängniswärter aus der Zarenzeit und viele andere, die irgendwie verdächtig erschienen, wurden willkürlich zu Freiheitsentzug, Zwangsarbeit, ja sogar zum Tode verurteilt. Wer als Feind eingestuft wurde, war von Ort zu Ort verschieden. Zuweilen gab es Überschneidungen mit der Kategorie der Kriegsgefangenen. Wenn Trotzkis Rote Armee eine Stadt besetzte, nahm sie häufig wohlhabende Bourgeois als Geiseln, die erschossen werden konnten, falls die Weiße Armee zurückkehrte, was bei den häufig wechselnden Fronten immer wieder vorkam. In der Zwischenzeit zwang man die Leute, für die Rote Armee zu arbeiten, ließ sie Schützengräben ausheben oder Hindernisse errichten. Zwischen politischen Gefangenen und gewöhnlichen Kriminellen wurde genauso willkürlich unterschieden. Die ungebildeten Mitglieder der Zeitweiligen Kommissionen und Revolutionstribunale konnten zum Beispiel zu dem Schluss kommen, jemand, der ohne zu bezahlen mit der Straßenbahn gefahren war, habe sich gegen die Gesellschaft vergangen und müsse deshalb für ein politisches Delikt bestraft werden. Häufig genug wurden derartige Entscheidungen dem Polizisten oder Soldaten überlassen, der die Verhaftung vornahm. Feliks Dzierzynski, der Gründer der Tscheka - Lenins Geheimpolizei, die Vorläuferin des KGB -, trug stets ein schwarzes Notizbuch bei sich, in das er wahllos Namen und Adressen von Feinden kritzelte, denen er bei seiner Tätigkeit begegnete. Die Definition des Feindes sollte bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion achtzig Jahre später so vage bleiben. Gleichwohl hatte die Vorstellung, dass es zwei Kategorien von Häftlingen - politische und kriminelle - gab, maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung des sowjetischen Strafvollzugs. In den ersten Tagen der Revolution fielen alle Häftlinge in die Zuständigkeit der »traditionellen« Justizorgane, zunächst des Volkskommissariats für Justiz, später des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, und wurden in »gewöhnlichen« Haftanstalten untergebracht. Damit waren die Überreste des Strafvollzugs aus der Zarenzeit gemeint, zumeist schmutzige, düstere Gemäuer, die es im Zentrum jeder größeren Stadt gab. Doch als die Bolschewiken die Macht übernahmen, waren die wenigen noch intakten Gefängnisse hoffnungslos überfüllt. Nur Wochen nach der Revolution forderte Lenin »Sondermaßnahmen für die unverzügliche Verbesserung der Verpflegung in den Petrograder Gefängnissen«. Einige Monate später besuchte ein Mitglied der Moskauer Tscheka das Taganskaja-Gefängnis in der Hauptstadt. Er berichtete von »schrecklicher Kälte und Schmutz«, von Hunger und Typhus. Die meisten Häftlinge konnten die ihnen auferlegte Zwangsarbeit gar nicht leisten, weil sie nichts anzuziehen hatten. Eine Zeitung beklagte, die Roten Garden verhafteten »Tag für Tag wahllos Hunderte Personen und wissen dann nicht, was sie mit ihnen anfangen sollen«. Die Überfüllung der Haftanstalten brachte »kreative« Lösungen hervor. In Ermangelung von etwas Besserem sperrten die neuen Behörden Häftlinge in Kellern, auf Dachböden, in verlassenen Palästen oder alten Kirchen ein. Im Dezember 1917 beriet eine Kommission der Tscheka über das Schicksal von 56 Gefangenen - Dieben, Trunkenbolden und einigen Politischen -, die im Keller des Smolny, damals Lenins Hauptquartier in Petrograd, festgehalten wurden. Nicht jeder litt unter dem Chaos. Robert Bruce Lockhart, ein britischer Diplomat, dem man (zu Recht, wie sich später herausstellte) Spionage vorwarf, wurde 1918 in einem Raum des Kreml festgehalten. Dort vertrieb er sich die Zeit damit, dass er Patiencen legte, Thukydides und Carlyle las. Von Zeit zu Zeit brachte ihm ein ehemaliger Diener des Zarenhofes Zeitungen und heißen Tee. Aber auch in den traditionellen Gefängnissen waren die Verhältnisse regellos und das Personal unerfahren. Ein Oberst der Weißen Armee berichtet, dass die Häftlinge im Gefängnis von Petrograd im Dezember 1917 kommen und gehen konnten, wann sie wollten. In den Zellen nächtigten Obdachlose. Auf diese Zeit zurückblickend, meinte ein sowjetischer Funktionär: »Wer damals nicht weglief, war einfach zu faul dazu.« Das Durcheinander zwang die Tscheka, sich etwas Neues einfallen zu lassen. Schließlich konnten die Bolschewiken ihre »wahren« Feinde nicht in diesem regulären Strafvollzug belassen. Chaotische Gefängnisse und nachlässige Wärter mochten für Taschendiebe und jugendliche Delinquenten angemessen sein, nicht aber für Saboteure, »Parasiten«, Spekulanten, Offiziere der Weißen Armee, Geistliche, bourgeoise Kapitalisten und andere, von denen aus Sicht der Bolschewiken große Gefahr drohte. Bereits am 4. Juni 1918 forderte Trotzki, eine Gruppe aufsässiger tschechischer Kriegsgefangener ruhig zu stellen, zu entwaffnen und in einem Konzentrationslager unterzubringen. Im August benutzte auch Lenin diesen Begriff. In einem Telegramm an die Kommissare von Pensa, wo gerade eine Revolte gegen die Bolschewiken stattgefunden hatte, forderte er: »Übt massiven Terror gegen Kulaken [reiche Bauern, d. Verf.], Popen und weiße Garden. Sperrt die Unsicheren in ein Konzentrationslager.« Die Einrichtungen dafür gab es bereits. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk vom Sommer 1918, mit dem Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg endete, ließ die Regierung zwei Millionen Kriegsgefangene frei. Die Lager wurden sofort der Tscheka übergeben. Damals schien kein Organ besser für die Aufgabe geeignet zu sein, die Unterbringung von »Feinden« in Sonderlagern zu übernehmen. Völlig neu geschaffen, galt die Tscheka als »Schild und Schwert« der Partei; sie stand in keinerlei Beziehung zur Sowjetregierung und deren Ministerien, war an keine Rechtstradition gebunden und nicht verpflichtet, sich mit der Polizei, den Gerichten oder dem Volkskommissar für Justiz abzustimmen. Ihr Sonderstatus kam schon in ihrem Namen zum Ausdruck: Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage, russische Abkürzung Tsch-K, gesprochen Tscheka. Sie war außerordentlich, weil sie außerhalb des »ordentlichen« Rechtssystems stand. Kaum gegründet, bekam sie bereits einen außergewöhnlichen Auftrag. Am 5. September 1918 erhielt Dzierzynski den Befehl, Lenins Politik des Roten Terrors durchzusetzen. Als Reaktion auf einen Mordanschlag gegen Lenin entstanden, war diese Terrorwelle aus Verhaftung, Einkerkerung und Mord straffer organisiert als der spontane Terror der vorangegangenen Monate. Im Grunde tobte hier der Bürgerkrieg gegen jene, die man verdächtigte, für die Vereitelung der Revolution an der »Heimatfront« tätig zu sein. In der »Krassnaja gaseta«, dem Organ der Roten Armee, las sich das so: »Wir werden unsere Gegner zu Hunderten töten, ohne Gnade und ohne Erbarmen. Mögen es Tausende sein, mögen sie in ihrem eigenen Blut ersaufen!« Der Rote Terror war entscheidend für Lenins Kampf um die Macht. Konzentrationslager, so genannte Sonderlager, waren entscheidend für den Roten Terror. Zwar gibt es aus dieser Zeit keine verlässlichen Angaben über die Zahl der Häftlinge, aber Ende 1919 sind für Russland 21 Lager verzeichnet. Ende 1920 waren es bereits 107 - fünf Mal so viele. In diesem Stadium erscheint der Zweck der Lager noch recht unklar. Die Häftlinge sollten Arbeit leisten, aber mit welchem Ziel? Sollte die Arbeit sie umerziehen? Sie demütigen? Oder sollte sie ein Beitrag zum Aufbau des neuen Sowjetstaates sein? Verschiedene sowjetische Repräsentanten und Organe gaben auf diese Fragen verschiedene Antworten. Im Februar 1919 hielt Dzierzynski eine flammende Rede auf die Lager als Instrument zur ideologischen Umerziehung der Bourgeoisie. Sie sollten »die Häftlinge zu nützlicher Arbeit einsetzen, jene Herren, die keiner Beschäftigung nachgehen, und diejenigen, die nicht ohne einen gewissen Zwang arbeiten können. Wir schlagen vor, auf diese Weise eine Schule der Arbeit zu schaffen.« Als allerdings im Frühjahr 1919 die ersten offiziellen Dokumente über die Sonderlager erschienen, hatten sich die Prioritäten bereits etwas verschoben. In den Dekreten, die eine erstaunlich lange Liste von Bestimmungen und Empfehlungen darstellen, wurde den Hauptstädten jedes Gouvernements vorgeschlagen, ein Lager für mindestens dreihundert Personen - »am Rande der Stadt oder in Objekten der Umgebung wie Klöstern, Gütern, Bauerngehöften usw.« - einzurichten. Dort sollte der Achtstundentag gelten, Überstunden und Nachtarbeit waren nur »im Rahmen des Arbeitsrechts« gestattet. Lebensmittelpakete durften nicht empfangen werden. Besuche naher Verwandter waren gestattet, aber nur an Sonn- und Feiertagen. Häftlinge, die zu fliehen versuchten, sollten die zehnfache Frist absitzen. Bei Wiederholung drohte ihnen sogar die Todesstrafe. In den Dekreten hieß es nun eindeutig, dass die Arbeit der Gefangenen nicht ihrer Erziehung, sondern der Aufrechterhaltung der Lager diente. Da staatliche Mittel nur sehr unregelmäßig flossen, mussten die Lagerverwaltungen sich schon früh über ihre Finanzierung Gedanken machen und darüber, wie sie den größten Nutzen aus ihren Häftlingen ziehen konnten. In einem Geheimbericht vom September 1919, der Dzierzynski vorgelegt wurde, beklagte man die sanitären Bedingungen in einem Transitlager als »unter aller Kritik«, vor allem deshalb, weil viele Häftlinge zu krank seien, um arbeiten zu können: »Bei dem nasskalten Herbstwetter ist dies kein Ort, wo Menschen gesammelt und zur Arbeit eingesetzt werden, sondern eine Brutstätte für Krankheiten und Seuchen.« Der Verfasser schlug vor, die Arbeitsunfähigen anderswo unterzubringen, damit sie die Effizienz des Lagers nicht beeinträchtigten. Die Gulagleitung sollte später noch häufig auf diese Taktik zurückgreifen. Aber schon damals bereiteten Krankheit und Hunger den Lagerverantwortlichen nur deshalb Sorge, weil kranke und hungrige Häftlinge ihnen nichts nützten. Anderen waren solche Erwägungen jedoch egal. Sie hatten vor allem die Demütigung der Häftlinge im Auge, den Wunsch, die ehemals Wohlhabenden spüren zu lassen, wie einfache Arbeiter lebten. Als der Bürgerkrieg in seine entscheidende Phase trat, schoben die dringenden Erfordernisse der Roten Armee und des Sowjetstaates jedoch alles andere - ob Umerziehung, Vergeltung oder Bestrafung - beiseite. Im Oktober 1918 bat beispielsweise der Befehlshaber der Nordfront die Petrograder Militärkommission dringend um achthundert Arbeitskräfte, die Gräben ausheben und Straßen anlegen sollten. Unverzüglich wurde »... eine Anzahl Bürger aus ehemaligen Händlerkreisen aufgefordert, sich im Stadtsowjet einzufinden, wo sie angeblich für einen späteren Arbeitseinsatz registriert werden sollten. Als diese Bürger erschienen, nahm man sie fest und brachte sie in die Semjonowski-Kaserne, von wo sie an die Front abtransportiert wurden.« Aber es waren nicht genug, und so ließ der Stadtsowjet kurzerhand einen Teil des Newski-Prospekts, der größten Petrograder Einkaufsstraße, absperren und jeden festnehmen, der nicht ein Parteibuch oder den Ausweis einer staatlichen Behörde vorweisen konnte. Die Verhafteten wurden in eine nahe gelegene Kaserne gebracht. Später ließ man die Frauen wieder frei, aber die Männer wurden sämtlich nach Norden in Marsch gesetzt. Die verhafteten Passanten waren natürlich schockiert. Petrograder Arbeiter hätten daran nichts Besonderes gefunden. Denn in diesem frühen Stadium der sowjetischen Geschichte war der Unterschied zwischen Zwangsarbeit und normaler Arbeit noch reichlich verschwommen. Arbeiter waren gezwungen, sich beim Zentralen Arbeitsamt zu melden, das sie je nach Bedarf an jeden beliebigen Ort im Land schicken konnte. Es wurden eigens Dekrete erlassen, die es bestimmten Berufsgruppen wie zum Beispiel Bergleuten verboten, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Auch die Lebensbedingungen von Arbeitern in Freiheit und Gefangenen unterschieden sich in dieser Zeit des revolutionären Chaos nicht wesentlich. Von außen gesehen konnte man Arbeitsstätten in Freiheit und Lager oft kaum auseinander halten. Das war jedoch erst der Anfang. Wie man »Lager«, »Gefängnis« oder »Zwangsarbeit« definieren sollte, blieb auch in den zwanziger Jahren im Grunde ungeklärt. Die Kontrolle über den Strafvollzug wechselte häufig. Die zuständigen Behörden wurden endlos umbenannt und neu organisiert, da immer wieder andere Kommissare und Bürokraten versuchten, das System in die Hand zu bekommen. Der Rahmen war jedoch am Ende des Bürgerkrieges gesetzt. In Sowjetrussland hatten sich zwei getrennte Systeme von Haftanstalten mit eigenen Regeln, Traditionen und Ideologien herausgebildet. Das Volkskommissariat für Justiz und später das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten leitete das »reguläre« System von Strafanstalten, wo im Wesentlichen Menschen einsaßen, die das Sowjetregime als »Kriminelle« bezeichnete. Die Häftlinge waren in traditionellen Gefängnissen untergebracht, und die Ziele, die deren Verwaltungen sich einer internen Denkschrift zufolge setzten, waren auch für »bürgerliche« Staaten durchaus akzeptabel: Der Strafgefangene sollte durch Arbeit gebessert - »die Häftlinge sollen Fertigkeiten erlernen, die es ihnen ermöglichen, später ein ehrliches Leben zu führen« - und von neuen Straftaten abgehalten werden. Das zweite System von Strafanstalten, zunächst als »Speziallager« oder »Sonderlager« bekannt, leitete die Tscheka, aus der später die GPU, dann die OGPU, das NKWD und schließlich der KGB hervorgingen. Zwar benutzte auch die Tscheka Begriffe wie »Umerziehung« oder »Besserung«, aber diese Lager hatten mit normalen Strafvollzugsanstalten wenig gemein. Andere Behörden hatten auf sie keinerlei Zugriff. Sie waren dem Blick der Öffentlichkeit weitgehend entzogen. In diesen Lagern galten besondere Regeln, härtere Strafen für Fluchtversuche und ein strengeres Regime. Die Insassen waren nicht unbedingt von ordentlichen Gerichten verurteilt, wenn sie überhaupt je einen Richter zu Gesicht bekommen hatten. Zunächst als Notmaßnahme gedacht, nahmen sie an Umfang und Bedeutung zu, je mehr man die Definition der »Feinde« ausweitete und je mehr die Tscheka ihre Macht ausdehnte. Als die beiden Systeme des Strafvollzugs - das ordentliche und das außerordentliche - schließlich zusammengeführt wurden, geschah das nach den Regeln des Letzteren. Die Tscheka schluckte ihre Konkurrenten. Das System der Sonderlager war von Anfang an für besondere Häftlinge gedacht - die Gegner der neuen Ordnung. Dabei interessierten sich die Behörden vor allem für eine politische Kategorie: die Mitglieder revolutionärer sozialistischer Parteien abseits der Bolschewiken. Das waren zumeist Anarchisten, linke und rechte Sozialrevolutionäre, Menschewiken und andere, die für die Revolution gekämpft, sich aber nicht rechtzeitig Lenins Fraktion angeschlossen und daher am Umsturz von 1917 nicht teilgenommen hatten. Als ehemalige Verbündete im Kampf gegen das Zarenregime verdienten sie besondere Behandlung. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei beriet bis Ende der dreißiger Jahre immer wieder über ihr Schicksal. Zu dem Zeitpunkt waren die meisten allerdings bereits verhaftet oder erschossen. Lenins großes Interesse an diesen Häftlingen rührte zum einen daher, dass ihm - wie dem Führer jeder exklusiven Sekte - Abtrünnige besonders verhasst waren. So bezeichnete er in einer für ihn typischen Polemik einen seiner sozialistischen Kritiker als »Schurken«, als »blinden Grünschnabel«, als »Handlanger einer Bande von Blutsaugern und Spießbürger«, der »niederträchtige Lügen« aus »der Müllgrube der Renegaten« verbreite. Zum anderen aber waren die »Politischen« wesentlich schwerer zu kontrollieren als andere Häftlinge. Viele hatten Jahre in zaristischen Gefängnissen verbracht und waren erfahren darin, wie man Hungerstreiks organisiert, das Wachpersonal unter Druck setzt, zwischen den Zellen Kontakt hält, Nachrichten austauscht und gemeinsame Protestaktionen durchführt. Wichtiger noch, sie wussten auch, wie man Kontakt zur Außenwelt herstellte und wen man anzusprechen hatte. Die meisten sozialistischen Parteien Russlands unterhielten Organisationen im Ausland, die häufig in Berlin oder Paris saßen und dem internationalen Ansehen der Bolschewiken großen Schaden zufügen konnten. Auf dem 3. Kongress der Kommunistischen Internationale 1921 verlasen Vertreter der Auslandsorganisation der Sozialrevolutionäre, der Partei, die den Bolschewiken ideologisch am nächsten stand (und sogar für kurze Zeit eine Koalition mit ihnen eingegangen war), einen Brief ihrer in Russland eingekerkerten Kampfgefährten. Das Schreiben löste vor allem deshalb einen Skandal aus, weil darin behauptet wurde, die Bedingungen in den Gefängnissen des revolutionären Russlands seien schlimmer als unter dem Zaren. »Unsere Genossen sind halb verhungert«, hieß es dort. »Viele von ihnen sitzen Monate lang ein, ohne ihre Verwandten sehen, Briefe empfangen oder sich körperlich betätigen zu dürfen.«
Übersetzer | Frank Wolf |
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Zusatzinfo | mit ca 45 s/w Abb. |
Sprache | deutsch |
Maße | 135 x 215 mm |
Gewicht | 985 g |
Einbandart | Leinen |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Schlagworte | Archipel Gulag, Russland / Sowjetunion, Stalinismus, Zwangsarbeit • Duff Cooper Prize • Pulitzer Prize • Sowjetunion, Geschichte; Sozial-/Wirtschafts-G. • Straflager • Zwangsarbeit |
ISBN-10 | 3-88680-642-1 / 3886806421 |
ISBN-13 | 978-3-88680-642-3 / 9783886806423 |
Zustand | Neuware |
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