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Ein anderer Krieg (eBook)

Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg - 1935 – 1942

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
352 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-27585-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein anderer Krieg - Dan Diner
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»Dan Diner öffnet einem die Augen« NZZ Geschichte
Dieses in der Presse gefeierte Buch erzählt die Anatomie des Zweiten Weltkrieges aus einer ungewohnten Perspektive: Im Zentrum des Geschehens steht das jüdische Palästina, gelegen am Schnittpunkt der europäisch-kontinentalen und außereuropäisch-kolonialen Wahrnehmung. Die Kernzeit dieser raumgeschichtlich angelegten Erzählung liegt zwischen dem Abessinien-Krieg 1935 und den Schlachten von El Alamein und Stalingrad 1942. Die Verschränkung zweier, für sich jeweils anderer Kriege - dem Zweiten Weltkrieg und dem Kampf um Palästina - konstruiert das eigentliche Drama der Erzählung und durchzieht als roter Faden das Buch.

Dan Diner, geboren 1946, lehrt Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität zu Jerusalem. Der international renommierte Historiker war von 1999 bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Dan Diner steht der Alfred Landecker Stiftung vor. Zu seinen Hauptwerken gehört »Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte« (2010); »Das Jahrhundert verstehen. 1917-1989« (2015) und »Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage« (2015).

»THE EMPIRE IS DOOMED«


Das New Yorker Biltmore Hotel, im Häuserblock zwischen den Avenuen Madison und Vanderbilt sowie der 43. und 44. Straße gelegen, wurde zu Silvester 1913 eröffnet. Entworfen hatte die Luxusherberge das berühmte Architektenbüro Warren & Wetmore. Von ihm stammen auch die Pläne für das unmittelbar benachbarte, im gleichen Stil gehaltene und unterirdisch mit dem Biltmore verbundene Grand Central Terminal – jene gewaltige Eisenbahnkathedrale der Metropole. Der Name des Hotels verweist auf das legendäre Biltmore Estate in Asheville, North Carolina, einen Landsitz der während des großen Eisenbahn-Booms im 19. Jahrhundert zu sagenhaftem Reichtum gekommenen Vanderbilt-Dynastie. Ihre niederländischen Wurzeln gehen zurück auf den Ort De Bilt in der Provinz Utrecht.1

Von anderen New Yorker Luxus-Hotels unterschied sich das sechsundzwanzigstöckige, gut tausend Zimmer zählende Biltmore nicht nur durch seine italienischen wie französischen Baukulturen entliehenen Stilelemente oder die erlesenen Materialien – Kalkstein, Granit, Terrakotta –, die bei der Ausführung zum Einsatz kamen. Vor allem die im sechsten Stock die parallel zueinander stehenden, separaten Gebäudeteile verbindenden exotischen Grünanlagen, die an den Mythos der Hängenden Gärten von Babylon erinnerten, beeindruckten die Besucher.2 Eine literarische Gedächtnisspur hinterließ das Biltmore Hotel in dem 1951 erschienenen Meisterwerk von J. D. Salinger Der Fänger im Roggen. Dort wird eine verfängliche Szene in der Hotel-Lobby beschrieben, die sich unter der alles überragenden, berühmt gewordenen Uhr abspielt.3 Hohen Bekanntheitsgrad erlangten die in den Räumlichkeiten des Hotels mehr als zwei Jahrzehnte residierenden Grand Central Art Galleries. In den 1970er Jahren forderte eine traditionell ausschließlich männlichen Besuchern zugängliche Hotelbar öffentlichkeitswirksamen feministischen Protest heraus. Im Jahre 1981 schloss das Biltmore für immer seine Pforten. Das Gebäude wurde entkernt und nach dem Umbau einer anderen Nutzung zugeführt.4

Seiner zentralen Lage und bequemen Erreichbarkeit wegen wurde das Biltmore Hotel mit seinen weitläufigen Fluchten und ausladenden Sälen gern für politische Zusammenkünfte und andere herausragende Versammlungen genutzt. Der Industrielle Henry Ford richtete hier 1915 eine Kommunikationszentrale in der Absicht ein, zwischen den Kombattanten des Großen Krieges zu vermitteln. 1916 wurde im Biltmore der Vertrag unterzeichnet, mit dem Dänemark den Vereinigten Staaten die dänischen Jungferninseln übertrug.5 Und zwischen dem 9. und 11. Mai 1942 fand in den Räumen des Hotels, genauer: in seinem zum Konferenzsaal umgestalteten, im Stil des Art déco mit Kristalllüstern sowie prunkvollen Plüschvorhängen ausgestatteten Dining-Room eine außerordentliche zionistische Zusammenkunft statt. Mit ihr ging der Name »Biltmore« ein in die Annalen der nationalen Geschichte der Juden.6

Am 9. Mai, pünktlich zum Sabbat-Ausgang um 19 Uhr, versammelten sich die 586 Teilnehmer, davon 519 amerikanische Delegierte und 67 Gäste aus dem Ausland, in dem recht beengt sich anfühlenden Konferenzsaal. Die Witterung war milde, die Außentemperatur der Jahreszeit gemäß. Der auf Seite 27 der New York Times vom selben Tag abgedruckte Wetterbericht sagte für den Eröffnungsabend eine Temperatur von 57 Grad Fahrenheit, etwa 14 Grad Celsius voraus. Auch eine weniger freundliche Witterung hätte den Teilnehmern, soweit sie mit dem Zug angereist waren, nicht viel anhaben können, stand den Hotelgästen doch ein Aufzug zur Verfügung, der vom Grand Central Terminal aus direkt in die Lobby führte.7

Neben dem Wetter hatte die Zeitung vom Tage freilich auch anderes zu berichten. Die auf der ersten Seite prangende Schlagzeile dürfte die Anwesenden hoffnungsfroh gestimmt haben. In großen, nach rechts geneigten Lettern war zu lesen: »Japanese Repulsed in Great Pacific Battle«.8 Rabbi Stephen Wise, Präsident des World Jewish Congress und Vorsitzender des American Emergency Committee for Zionist Affairs, jener Organisation, die zu der Konferenz geladen hatte, kam in seiner Eröffnungsrede auf die am Vorabend geschlagene Schlacht im Korallenmeer zu sprechen. Wise rühmte sie als »token and prophecy« eines die Menschheit befreienden Tages.9

Tatsächlich verdichteten sich an den Tagen der Konferenz Meldungen, die von einem Silberstreif am düsteren militärischen Horizont kündeten. Bislang hatten die Alliierten auf dem fernöstlichen Kriegsschauplatz durchweg Niederlagen erlitten. Noch zwei Tage zuvor hatten die amerikanischen Truppen auf den Philippinen kapituliert.10 Ende Februar war es den Japanern in der Javasee gelungen, einen ganzen alliierten Flottenverband zu vernichten. Damit stand ihnen – nachdem die Briten am Monatsanfang in Singapur eine demütigende Niederlage erlitten hatten – der Zugang zu den begehrten Rohstoffquellen Niederländisch-Indiens offen.

Eine weitere, der New York Times vom 9. Mai zu entnehmende Meldung sollte sich für den Kriegsverlauf als höchst bedeutsam erweisen: Im Zuge der Operation »Ironclad« waren britische Marineeinheiten auf Madagaskar gelandet und hatten den Tiefseehafen Diego Suarez, das heutige Antsiranana, erobert. Dazu war eine aus gut fünfzig Schiffen bestehende Armada über den Südatlantik und um das Kap der Guten Hoffnung geleitet worden. Das Ziel des Unternehmens bestand vornehmlich darin zu verhindern, dass die Japaner Zugriff auf die vom französischen Vichy-Regime kontrollierte Insel erhalten und dort einen Marinestützpunkt errichten, von dem aus sie den Indischen Ozean hätten kontrollieren können.11

Der Indische Ozean, jenes strategische britische Binnenmeer, diente als Drehscheibe gewaltiger US-amerikanischer Material- und Nachschubkonvois zur Versorgung dreier Kriegsschauplätze: Der bis zur Wolgamündung sich erstreckende sogenannte Persische Korridor ermöglichte die Versorgung der Roten Armee von Süden her; in indischen Häfen wurde Fracht gelöscht, die vornehmlich auf der Schiene durch den Subkontinent hindurch in den Osten des Landes und von dort aus auf dem Luftweg weiter nach Südchina zu den Truppen Tschiang Kaischeks gelangte; über das Rote Meer erreichten Materialtransporte die 8. Britische Armee in Ägypten, die sich dem Vormarsch der Achse nach Osten und damit auch auf Palästina entgegenstellte.

Ein Vorstoß der Japaner in diesen Kernbereich des britischen Empire hätte es den Achsentruppen erleichtert, über Ägypten sowie über den Kaukasus hinauszumarschieren und die kontinental-mediterranen Fronten zu verbinden, sie womöglich gar mit der asiatisch-ozeanischen Front zu arrondieren.12 Dieser Bedrohung der britischen Herrschaft im globalen Süden galt es durch das Unternehmen »Ironclad« vorzubeugen.

Auf den 10. Mai, den zweiten Tag der Biltmore-Konferenz, fiel die – vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse – ausgesprochen optimistische, von der BBC weltweit ausgestrahlte Rede Winston Churchills, seinen Worten nach eine »message of good cheer«.13 Ergänzt fanden sich die für die Alliierten erfreulichen militärischen Vorgänge durch die erst an jenem Tag in Washington verkündete Nachricht vom Erfolg einer bereits Mitte April durchgeführten Aktion: Bei dem legendär gewordenen »Doolittle-Raid« war es sechzehn von einem amerikanischen Flugzeugträger im westlichen Pazifik aus gestarteten leichten Bombern gelungen, japanische Städte zu erreichen. Erstmals nach Pearl Harbor hatten die Amerikaner damit bewiesen, dass sie fähig waren, die Heimatinseln des Kaiserreiches zu treffen. Diese Nachricht konnten die Delegierten am letzten Tag ihrer Zusammenkunft der New York Times entnehmen.14

Dass sich just am Tage der Eröffnung der zionistischen Konferenz im Biltmore Hotel günstige Nachrichten vom Kriegsgeschehen verdichten würden, war nicht zu erwarten gewesen. Die Konferenz, die überhaupt nur deshalb stattfand, weil ein weltweiter Zionistenkongress wegen des Krieges nicht durchgeführt werden konnte, war von langer Hand geplant. Ein Ende des Krieges, der seine Wende erst mit den Schlachten von Midway im Juni, von El-Alamein im November, von Stalingrad im Winter 1942/43 sowie der Atlantikschlacht im Frühjahr 1943 nehmen sollte, war nicht abzusehen. Und mochte der schließlich eingetretene Sieg der Alliierten erhofft, womöglich gar erwartet worden sein, konnte doch niemand wissen, wie lange der Krieg noch andauern würde.

Auch dazu war aus der am 9. Mai im Biltmore Hotel ausliegenden New York Times einiges zu erfahren. Eine dort auf Seite 3 abgedruckte Meldung hätte vor dem Hintergrund alsbald eintretenden Wissens verzagen lassen. Darin wird von einer am Vortag in Washington gehaltenen Rede berichtet, die der amerikanische Vizepräsident Henry A. Wallace anlässlich eines Galaabends im Rahmen des zweiten World Congress on Democratic Victory and World Organization vor Vertretern von über dreißig Staaten gehalten hatte, darunter der Außenminister der tschechoslowakischen Exilregierung, Jan Masaryk, sowie...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Schlagworte 2. Weltkrieg • Abessinienkrieg • britisches Mandatsgebiet • Das historische Buch des Jahres • eBooks • El Alamain • Geschichte • Israel • Kolonialismus • Leipziger Buchmesse • Mittlerer Osten • Naher Osten • Palästina • Preis der Leipziger Buchmesse 2021 • Raumgeschichte • Stalingrad • Unsere Mütter, unsere Väter • Weltkrieg • Zweite Weltkrieg
ISBN-10 3-641-27585-7 / 3641275857
ISBN-13 978-3-641-27585-3 / 9783641275853
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