Afropäisch (eBook)
500 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75352-1 (ISBN)
»Johny Pitts ist ein Bricoleur, ein erleuchteter, menschenfreundlicher Bastler im Lévi-Strauss'schen Sinne. Selbst Sohn einer weißen Arbeiterin aus Sheffield und eines schwarzen Soul-Sängers aus New York, dessen Mutter noch auf den Feldern South Carolinas Baumwolle pflückte, lässt er seine nachdenkliche, einfühlsame Reportage auch zu einer Suche nach der eigenen Identität werden.« Aus der Begründung der Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2021
Mit wenig Geld und einem Interrail-Ticket bereist Johny Pitts die Metropolen des Kontinents, um jener Lebenserfahrung nachzuspüren, die er als ?afropäisch? bezeichnet. In Paris, Berlin, Moskau oder Marseille trifft er Künstler und Aktivistinnen, aber auch Menschen, deren Alltag von Rassismus und Armut geprägt ist. Nicht nur in den französischen Banlieues und den Favelas am Rande Lissabons wird deutlich, dass Europas multikulturelle Gegenwart nach wie vor von seiner kolonialen Vergangenheit gezeichnet ist. Meisterhaft verknüpft Pitts Reportage und literarischen Essay zu einem zeitgenössischen Porträt eines Weltteils auf der Suche nach seiner postkolonialen Identität.
<p>Johny Pitts, geboren in Sheffield, ist Autor, Fotograf, Fernsehmoderator und Journalist. Er ist Mitbegründer des Online-Journals <em>Afropean. Adventures in Black Europe</em>. Für sein Engagement für eine afropäische Identität wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem vom Europäischen Netzwerk gegen Rassismus. 2020 erhielt er den Jhalak Prize for Book of the Year by a Writer of Colour.</p>
Einleitung
Als ich den Ausdruck »afropäisch« zum ersten Mal hörte, regte er mich dazu an, mich selbst als komplett und ohne Bindestrich zu begreifen. Hier war ein Raum, in dem das Schwarzsein an der Gestaltung einer allgemeinen europäischen Identität beteiligt war. Der Begriff eröffnete die Möglichkeit, in und mit mehr als einer Idee zu leben: Afrika und Europa oder, in einem weiteren Sinne, mit dem globalen Süden und dem Westen, ohne gemischt-dies, halb-jenes oder schwarz-anderes. Die Möglichkeit, dass schwarz zu sein in Europa nicht mehr unbedingt bedeutete, ein Immigrant zu sein.
Etiketten sind ausnahmslos problematisch und oft provokativ, aber im besten Fall können sie etwas sichtbar machen. Aus meinem eingeschränkten Blickwinkel – ich wuchs in einem Arbeiterviertel von Sheffield auf, das sowohl durch die externe Kraft der freien Marktwirtschaft verwüstet wurde als auch durch die interne, eigentlich schützende Kraft lokaler Isolation, die in Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern unterschiedlicher Viertel eine verheerende Gestalt annahm – erkannte ich allmählich eine Welt, die für mich zuvor unsichtbar oder wenigstens nicht plausibel gewesen war. In meiner kleinen Ecke von Großbritannien hatte ich das Gefühl gehabt, entweder zu stark gegen die eine Kultur reagieren oder mich zu stark mit der anderen identifizieren zu müssen.
Der Begriff »afropäisch« wurde in den frühen neunziger Jahren von David Byrne, dem ehemaligen Frontmann der New Yorker Band Talking Heads, und Marie Daulne, der belgisch-kongolesischen Frontfrau der Musikgruppe Zap Mama, geprägt und begegnete mir zunächst in den Bereichen Mode und Musik. Eine afropäische Ausstrahlung hatten neben vielen anderen Les Nubians, zwei in Frankreich bekannt gewordene Soul-Sisters aus dem Tschad, Neneh Cherry, deren Wurzeln in Schweden und Sierra Leone liegen, Joy Denalane, eine deutsche Soulsängerin mit südafrikanischen Wurzeln, und das Magazin Trace von Claude Grunitzky. Der Untertitel der Zeitschrift »Transcultural Styles and Ideas« entspricht der afropäischen Identität seines Schöpfers: Er hat mütterlicherseits einen polnischen Großvater, ist in Togo geboren, in Paris aufgewachsen und gründete das Magazin in London. Es war eine sehr attraktive Szene, die ich als afropäisch kennenlernte: schöne, begabte, erfolgreiche schwarze Europäer, die ihre kulturellen Einflüsse mühelos auf eine schlüssige und kreative Art zum Ausdruck brachten. Besonders attraktiv war diese Szene für mich, weil ich das Gefühl hatte, dass sich diese Ausprägung des in Europa existierenden Schwarzseins vermutlich selbst treu bleiben würde und dass sie sich heimatlicher anfühlte als die manchmal erdrückend dominanten afroamerikanischen Kunstformen und umfassender und nuancierter als die schwarze britische Szene, deren Selbstverständnis anfing, altmodisch zu wirken, und oft nur noch als Verkörperung der Windrush-Generation präsentiert wurde.1
Anfangs betrachtete ich den Begriff »afropäisch« als eine Art utopische Alternative zu der pessimistischen Stimmung, die in den letzten Jahren mit dem Bild der Schwarzen in Europa verbunden ist, als einen optimistischen Weg nach vorn. Ich wollte an einem Projekt arbeiten, das die Afropäer als bestimmende Akteure ihrer eigenen Geschichte miteinander verbindet und sie als solche Akteure präsentiert, und mit all diesen wunderbaren afropäischen Vorstellungen im Kopf stellte ich mir vor, dass dabei ein dekorativer Bildband mit Schnipseln von Feel-good-Texten als Erläuterung zu einer Serie schicker fotografischer Porträts herauskommen sollte. Das Buch sollte die »Erfolgsstorys« des schwarzen Europa bebildern: junge Männer und Frauen, deren Street-Style leicht und elegant ein selbstbewusstes schwarzes europäisches Gefühl artikuliert.
Ein Besuch im »Dschungel« von Calais brachte mich dazu, diesen Ansatz zu überdenken. Ich trank einen wohlriechenden arabischen Tee mit Milch bei Hishem, einem jungen Mann aus dem Sudan. Er lebte seit etwa zehn Monaten im Dschungel und betrieb dort eines von mehreren bemerkenswert gut organisierten Cafés. Er erzählte mir, dass er alles verloren hatte: Alle Mitglieder seiner Familie waren tot, ihn plagten leidvolle Erinnerungen an die Vergangenheit und furchterregende Visionen von der Zukunft. Er sei in einem Schwebezustand zwischen Afrika und Europa hängengeblieben – zwischen seiner Heimat (von der er in seinem mit Kissen ausgelegten Café wunderbarerweise ein kleines Stück wiederhergestellt hatte) und dem Unbekannten. Bevor ich seine knarrende Sperrholzbude wieder verließ, sagte er mir, ich solle über seine Geschichte und das Leben im Dschungel schreiben, eine Bitte, die mir großes Unbehagen verursachte. Hishem war intelligent, wortgewandt und gebildet: Wäre es nicht besser, wenn er selbst über den Dschungel schreiben würde? Vielleicht konnte ich Aufmerksamkeit für seine Geschichte wecken und sie auf meiner Website publizieren. Was aber wusste ich selbst darüber, wie es ist, mit ansehen zu müssen, wie die eigenen Freunde massakriert werden, vor einem Krieg zu fliehen und sich in einem Schiffscontainer zu verstecken oder in einem schlecht ausgerüsteten Boot über das Meer zu fahren und schließlich völlig mittellos in einer Siedlung windschiefer Hütten im nordfranzösischen Hinterland anzukommen. Was wusste ich persönlich mehr darüber, als er mir erzählt hatte?
Wir tauschten unsere Kontaktdaten aus, und ich verließ den Dschungel auf meinem Fahrrad. Ich registrierte, dass mir Beamte der Gendarmerie nationale, einer den französischen Streitkräften zugehörigen Polizeitruppe, durch die windgepeitschten Straßen von Calais folgten. Bei dem Versuch, die weißen Tore zum Hafen zu passieren, um mit der Fähre zurück nach England zu fahren, wurde ich noch vor der Passkontrolle gestoppt und durchsucht. Ich musste mich ausweisen, wurde gefragt, wohin ich wolle, woher ich käme und wie lange ich im Ausland gewesen sei und warum. Schließlich, nach weiteren Fragen und misstrauischen Blicken, durfte ich den offiziellen Bereich betreten, zu dem ich andere braunhäutige Menschen meines Alters aus der Entfernung voller Sehnsucht hatte hinüberschauen sehen. Ich war drin, sie waren draußen.
Im Gegensatz zu den Menschen, die ich im Dschungel kennenlernte, lebte ich nicht in einem Schwebezustand, sondern in einem Schwellenzustand. Ich war »drinnen«, weil ich einen Ausweis hatte, und ich hatte einen Ausweis, weil ich in England geboren und aufgewachsen war, eine mit Europa verknüpfte Geschichte besaß und wusste, wie es dort lief. Aber dennoch wurde ich innerhalb dieses geografischen Bereichs, dieser Idee von Europa, häufig daran erinnert, dass ich nicht ganz drinnen war. So hatte ich den Remembrance Day (den Gedenktag für die Gefallenen der Weltkriege in Großbritannien am 11. November) zu fürchten gelernt, weil er oft einen hässlichen Nationalismus zum Vorschein brachte, für dessen Aggressionen ich manchmal als Zielscheibe diente. Einmal an diesem Feiertag traktierte mich ein Mann mittleren Alters, das Gesicht rot vor Wut und Rassismus, wieder einmal mit dem alten Spruch, ich solle »dahin zurück, wo ich herkam«. Meine Hautfarbe hatte mehrere Tatsachen verborgen, unter anderem, dass mein Großvater im Zweiten Weltkrieg hinter den feindlichen Linien gekämpft und dafür einen Orden erhalten hatte. Meine Haut hatte mein Europäischsein verborgen; »europäisch« war immer noch ein Synonym für »weiß«.
Wenn »afropäisch« ein Begriff war, mit dem man diesem Problem beikommen konnte, dann musste ich herausfinden, was sich hinter dem bloßen Markenzeichen »afropäisch« oder jenseits davon verbarg. Ja, es war ein größtenteils von Schwarzen ausgedachtes und geprägtes Markenzeichen, aber mehr auch nicht, eine angenehme Idee, die einem verkauft wurde und etwas mit Werbefirmen, Stilistinnen, Modefotografen und Ausstattung zu tun hatte. In Großbritannien war es diese Vision eines unternehmerischen Multikulturalismus, diese Fassade der Inklusion, mit der Tony Blairs New Labour versucht hatte, das Land international, weltoffen, fortschrittsorientiert und bereit für das Geschäft in der globalisierten Welt erscheinen zu lassen, ohne dabei politische Schritte für eine langfristige Änderung des britischen Umgangs mit den Immigranten in die Wege zu leiten. Fielen unter den Begriff »afropäisch« nur...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2020 |
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Übersetzer | Helmut Dierlamm |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Achille Mbembe • Afrodeutsch • Afropean. Notes From Black Europe deutsch • Afrotopia • Alice Hasters • Anti-Rassismus • Audre Lorde • bernardine evaristo • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • Beyoncé • Black History Month • Black lives matter • buch bestseller • Carolin Emcke • Dennis Schröder • Dipo Faloyin • EU Europäische Union • Europa • George Floyd • Globalgeschichte • Globalisierung • Herkunft • Identität • Interkulturalität • Jackie Thomae • James Baldwin • Kolonialismus • Kübra Gümüsay • Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2021 • Max Czollek • May Ayim • Multikulturalität • Open City • Polizeigewalt • Postkolonialismus • Rassismus • Reni Eddo-Lodge • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • ST 5189 • ST5189 • suhrkamp taschenbuch 5189 • Ta-Nehisi Coates • Teju Cole • Weltgeschichte |
ISBN-10 | 3-518-75352-5 / 3518753525 |
ISBN-13 | 978-3-518-75352-1 / 9783518753521 |
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