Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn (eBook)
331 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86635-6 (ISBN)
Danielle Graf schreibt zusammen mit Katja Seide den Blog »Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn« (www.gewuenschtestes-wunschkind.de), der über 50 Millionen Zugriffe verzeichnet. Ihre Wunschkind-Bücher, die sie zusammen mit Katja Seide schrieb, sind seit vielen Jahren auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Die Autorin, Podcasterin und Rechtsökonomin ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Wandlitz.
Einleitung
Ein paar Wochen, nachdem unser kleiner Sohn Josua geboren wurde, holten meine Frau und ich gemeinsam unsere beiden damals dreieinhalbjährigen Töchter Carlotta und Helene von der Kita ab. Wir spazierten zum nahe gelegenen Spielplatz. Schon kurz nachdem wir das Kita-Gebäude verlassen hatten, begann Helene wegen einer Kleinigkeit laut zu weinen. Weil ich das schlafende Baby im Tuch vor der Brust hatte, kümmerte sich meine Frau um unser untröstliches Kind. Sie weinte und weinte, wurde immer lauter, obwohl sie in den Arm genommen und gestreichelt wurde. Meine Frau bemühte sich redlich. Sie erzählte ihr ablenkende Geschichten und ging wirklich liebevoll auf sie ein.
Nach einer Weile wurde Helene ruhiger, doch im Laufe des Nachmittags kam es mehr als einmal vor, dass sie wegen einer Nichtigkeit zusammenbrach. Wieder und wieder brauchte sie intensive Zuwendung, die sie auch jedes Mal bekam, auch wenn uns Großen bei der Lautstärke ihres Weinens und Greinens die Ohren schlackerten. Wir wussten zwar nicht, warum sie so viel weinte, aber wir trösteten sie. Endlich hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie sich in den Sand setzen und buddeln konnte. Ihre Schwester Carlotta hatte sich in der gesamten Zwischenzeit relativ gut selbst beschäftigt. Sie war geklettert und gerutscht und hatte von Weitem immer wieder beobachtet, wie Helene von meiner Frau auf den Schoß genommen und bekuschelt wurde. Als Helene sich nun in den Sand setzte, wollte ich gerade erleichtert aufatmen und mich mit dem immer noch schlafenden Baby auf eine Bank setzen, da kletterte Carlotta vom Gerüst und steuerte mit wütendem Gesicht auf ihre Schwester zu. Ohne für uns Erwachsene sichtbaren Anlass fing sie an, mit dem Fuß Sand in ihre Richtung zu kicken und ihr Eimer und Schippe zu klauen. Sofort begann Helene wieder zu weinen. Ich ging zu Carlotta und sagte noch relativ freundlich, dass ihre Schwester die Buddelsachen zuerst hatte und diese gern zurückhaben möchte. Carlotta aber dachte gar nicht daran, mir zuzuhören. Scheinbar frech grinsend rannte sie mit dem Eimer und der Schippe davon. Sie fing aber nicht an, damit am anderen Ende des Sandkastens zu buddeln, sondern rannte nur ein paar Meter, stellte sich dann in gebührendem Abstand zu uns auf und winkte aufreizend mit dem Eimer.
Ich spürte die vermeintlichen Blicke der anderen Eltern auf dem Spielplatz im Rücken, mein Herz begann vor Aufregung und Wut zu pochen. Josua begann sich im Tuch unruhig zu winden. Ich wurde furchtbar wütend auf Carlotta, rannte ihr aber nicht hinterher, sondern blieb stehen. Ich sagte auch nichts zu ihr, schaute sie nur an. Da ich nicht auf ihre Provokation einging, schaltete meine Tochter einen Gang höher. Sie nahm sich eine Handvoll Sand, rannte auf uns zu, warf ihn mit Karacho auf ihre Schwester und rannte dann wieder weg, um nicht von mir eingefangen zu werden. Lauteres Heulen von Helene, die sich nun lamentierend über die sandigen Haare fuhr. Meine Frau ging zu ihr, um sie zu trösten. Das Baby vor meiner Brust öffnete verwundert ein Auge. Ich registrierte es genervt. Josua sollte eigentlich noch eine weitere Stunde schlafen! Aber es half alles nichts, er musste da jetzt durch und ich auch. Hier ging es offenbar um einen Machtkampf zwischen Carlotta und mir. Wie zwei Cowboys mit den Händen an den Holstern standen wir uns gegenüber. Wer würde zuerst die Waffe ziehen? Ich schaute ihr ernst in die Augen, strahlte die große Wut aus, die ich gerade empfand. Ich bildete es mir in dem Moment nur ein, aber ich hatte das Gefühl, die fremden Eltern hinter mir entsetzt murmeln zu hören: »Also, das ist doch nicht zu glauben … frech … und grinst auch noch …«. Mein Puls war auf 180. Carlotta wagte einen erneuten Angriff. Sie rannte wieder auf ihre Schwester zu, doch diesmal waren wir Eltern ganz dicht bei ihr und schützten unsere weinende Tochter. Der Eimer flog auf uns zu, danach die Schippe. Ich fing beides mit den Händen ab. Wieder rannte Carlotta aus meiner Reichweite, nur, um sofort danach wieder zu Helene zu rennen. Diesmal trampelte sie mit aller Macht ihre gebaute Sandburg kaputt. Ich schaffte es, sie am Arm zu packen, bevor sie wieder weglief, und hielt sie fest. Eigentlich wollte ich in Ruhe mit ihr reden, aber Carlotta gebärdete sich wie ein wildes Tier. Mein Griff an ihrem Arm schien ihre Wut zu verdreifachen, sie begann, auf mich loszugehen, nach mir zu treten und mit ihrer freien Hand auf meinen festhaltenden Arm zu trommeln. Aua, tat das weh! Aber ich ließ sie nicht los. Kurz blickte ich zu den fremden Eltern – ein böser Fehler. Ich dachte, ich könnte ihre Gedanken lesen. In mir machte es »Klick«, und eine Wut breitete sich in meinem Inneren aus, wie ich sie selten erlebt habe. Wie eine Feuersbrunst walzte sie über meine rationalen, deeskalierenden Gedanken hinweg und ließ mich nur noch fühlen. Ich konnte nur noch einen klaren Gedanken fassen: Das Kind muss bestraft werden! Mich so zu blamieren, was fiel ihr denn ein! Ich zog Carlotta unsanft zu meiner Frau und keuchte zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: »Sie bleibt mit dir zu Hause. Ich mache mir mit Helene und dem Baby einen schönen Nachmittag. Wir werden viel Spaß haben!« Damit wandte ich mich ab und ging. Ich wusste, dass ich meiner Tochter damit wehtat.
Ich ahnte, dass sie gerne Zeit mit mir allein verbracht hätte, doch in diesem Moment wollte ich sie verletzen. Ich wollte sie bestrafen, obwohl ich mir eigentlich fest vorgenommen hatte, niemals Strafen anzuwenden. Weil sie mich mit ihrem Verhalten vor den anderen hatte schlecht dastehen lassen, weil sie ihre Schwester derart geärgert und ihren Babybruder geweckt hatte. Tief in mir drin spürte ich, dass ich das Falsche tat, doch ich wischte den Gedanken beiseite. Ich wollte jetzt nicht vernünftig und erwachsen sein. Ich wollte bockig reagieren und verletzen, weil ich selbst verletzt worden war …
Entthronte Erstgeborene
Bis hierher klingt diese Geschichte wie ein ganz normaler Geschwisterstreit, oder? Vielleicht hätte ich das Ganze auch als solchen abgespeichert und vergessen, wenn mir nicht kurz darauf ein riesengroßes Licht aufgegangen wäre. Meine Töchter waren beide gerade in der nachgeburtlichen Geschwisterkrise, mit der wir uns ausführlich im ersten Kapitel unseres Buches befassen werden. Sie waren von ihrem Brüderchen »entthront« worden. Sie liebten ihn, ohne Frage, aber neben der Liebe war da noch etwas anderes, das rausmusste. Sie waren wütend und traurig, verletzt und verunsichert. Sie hatten das Gefühl, wir würden sie mit dem neuen Brüderchen irgendwie betrügen. Plötzlich durfte er die ganze Zeit an mir kleben, im Tuch und an der Brust, und die Momente, in denen sie nah bei mir sein konnten, wurden durch ihn arg beschnitten. Ich konnte nicht mehr vorlesen, wann immer sie das wollten, ich konnte nicht mehr spontan gemeinsam mit ihnen kochen oder Gesellschaftsspiele spielen. Wir Eltern waren beide müde und gereizt, ich stillte oder wir mussten Windeln wechseln. Abends lag ich stundenlang mit dem Baby im Bett, um es in den Schlaf zu begleiten, während meine Töchter von ihrer anderen Mami ins Bett gebracht wurden. Unser Familiengefüge hatte sich verschoben, und wir alle wussten plötzlich nicht mehr, wer wo hingehört und wie wir uns verhalten sollten. Das verunsicherte meine Töchter über alle Maßen, und das zeigten sie uns auch. An diesem Nachmittag auf dem Spielplatz wollten uns beide mit ihrem Verhalten mitteilen, dass es ihnen nicht gut geht und sie unsere uneingeschränkte Liebe und Aufmerksamkeit brauchen.
Doch während wir auf das Weinen von Helene tröstend eingingen, auch wenn wir den wahren Grund nicht kannten, reagierten wir auf die Strategie ihrer Schwester absolut ablehnend. Wir stießen sie von uns, als sie eigentlich ebenfalls Trost gebraucht hätte. Dass es falsch ist, mich von Carlotta abzuwenden und ihr unter die Nase zu reiben, dass ich etwas »Schönes« mit den anderen beiden unternehmen würde, ahnte ich damals schon, doch das volle Ausmaß meines Fehlers wurde mir erst Wochen später bewusst, als ich endlich verstanden hatte, was sie wirklich von mir brauchte.
Provozierendes Verhalten hat immer einen Grund
Ich bin Sonderpädagogin und habe schon im Studium gelernt, dass jedes (auffällige) Verhalten von Kindern auf seine Art und Weise sinnvoll ist. Sie toben, trotzen, hauen oder weinen normalerweise nicht willkürlich oder irrational – es gibt immer einen guten Grund! Möchte man, dass das unschöne Verhalten aufhört, sollte man versuchen, den Grund zu entschlüsseln: Helene war gerade in der...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
ISBN-10 | 3-407-86635-6 / 3407866356 |
ISBN-13 | 978-3-407-86635-6 / 9783407866356 |
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