Sir William Siemens (eBook)
270 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75134-9 (ISBN)
Wolfgang König ist Professor em. für Technikgeschichte an der Technischen Universität Berlin. Für seine technikgeschichtlichen Arbeiten erhielt er eine Reihe von Auszeichnungen.
Einleitung
In den Jahrzehnten um 1800 setzte in Großbritannien die Industrielle Revolution ein. Sie führte zu einer welthistorischen Umwälzung, die im folgenden Jahrhundert weitere Staaten und schließlich die gesamte Welt erfasste. Die Industrie löste die Landwirtschaft als wirtschaftlichen Leitsektor ab. Zahlreiche Menschen zogen vom Land in die Städte. Die Produktion verlagerte sich von kleinen Handwerksbetrieben in Fabriken, die mit einem System von Kraft- und Arbeitsmaschinen ausgerüstet waren. Die dort auf rationelle Art und Weise hergestellten Investitions- und Konsumgüter steigerten – jedenfalls auf mittlere und lange Sicht – den Wohlstand der breiten Bevölkerung.
Zusätzlich kam es im 19. Jahrhundert zu einer Revolution von Verkehr und Kommunikation. Die Eisenbahnen steigerten den Verkehr zu Lande. Dies galt für den Transport von Gütern ebenso wie für Geschäftsreisen und Tourismus. Auf den Meeren leitete das Dampfschiff eine neue Phase der Globalisierung ein. Der Gütertransport nahm zu, und er wurde berechenbarer. Die elektrische Telegrafie ermöglichte erstmals eine nahezu zeitgleiche Kommunikation über größere Entfernungen. Dies begann mit Telegrafenstrecken über Land. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbanden transozeanische Telegrafiekabel bereits alle Kontinente.
Alle diese Entwicklungen hatten ihren Anfang in Großbritannien. Im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderte die Industrialisierung weitere Länder, darunter auch Deutschland. Die Nachfolgeländer im Industrialisierungsprozess bemühten sich, einen Technologietransfer in Gang zu setzen und von dem britischen Vorbild zu lernen. Bildungs- und – manchmal – Spionagereisen auf die britische Insel gehörten zum Standard der nachholenden Industrialisierung. Am ehesten zogen die kontinentaleuropäischen Länder noch bei neuen Technologien mit Großbritannien gleich. Hierzu gehörte die elektrische Telegrafie. So entwickelte das von Werner von Siemens um die Jahrhundertmitte gegründete Familienunternehmen telegrafische Apparate und Systeme, die sich mit den britischen messen konnten.
Werner von Siemens setzte seine Familie beim Aufbau des Unternehmens ein. Werner, Carl und William Siemens bildeten einen «Geschwisterbund»[1] unter Führung Werners, der die Geschicke der Siemens-Firmen im 19. Jahrhundert weitgehend bestimmte. In diesem Triumvirat gab Werner eindeutig den Ton an. Die Brüder Carl und William hatten jedoch eine maßgebliche Bedeutung für die Entwicklung von Siemens zum Global Player: Carl mit dem Aufbau des russischen und William mit dem Aufbau des englischen Geschäfts. Dabei kam dem englischen Geschäft eine besondere Bedeutung zu, denn im Vereinigten Königreich wurden die Seekabel konzipiert und gefertigt, die den Prozess der Globalisierung wesentlich beförderten.
Werners jüngerer Bruder Wilhelm wurde in Deutschland erzogen, wählte aber Großbritannien als seine neue Heimat, nahm die englische Staatsbürgerschaft an und nannte sich dort William. Im Folgenden wird er in seiner deutschen Zeit Wilhelm genannt, infolge der Emigration William. Er verstand sich durchaus als Mitglied des Siemens’schen Geschwisterbunds, brachte aber mehr als die anderen Brüder seine persönlichen Interessen in die gemeinsamen Unternehmungen ein. Er vertrat die Siemens-Firmen in England, agierte aber auch als selbstständiger Ingenieur, Wissenschaftler und Unternehmer. Dies ging nicht ohne Konflikte mit den Brüdern und vor allem mit Werner ab. Die ältere Siemens-Literatur hat William als «eigenbrödlerisch, eigensinnig, unberechenbar» charakterisiert,[2] mit «übellauniger Reizbarkeit»[3] ausgestattet, als «einen zum Choleriker neigenden Typ».[4] Diese Charakterisierungen stehen in eklatantem Widerspruch zu Beurteilungen englischer Zeitgenossen.[5] Man geht wohl nicht fehl, in dieser Differenz unterschiedliche nationale und unternehmerische Perspektiven im Hinblick auf Williams Tätigkeit zu sehen.
William Siemens, um 1880
William wollte das englische Siemens-Geschäft nach Möglichkeit forcieren. Von England ausgehend, so seine Auffassung, bestünde die Möglichkeit, Siemens zum weltweit führenden Telegrafie-Unternehmen zu machen. Seine Brüder Werner und Carl waren jedoch nicht bereit, William bei dieser risikoreichen Strategie zu folgen. Ganz zu schweigen von dem Geschäftspartner Johann Georg Halske, der die Berliner Fabrikation leitete. In der Folgezeit bemühte sich William, zumindest Teile seiner Aufgaben bei Siemens Brothers, dem englischen Teil der Firma, zu delegieren, ohne sein Engagement in dem Familienunternehmen ganz aufzugeben.
William Siemens war ein hoch qualifizierter und hoch angesehener Maschinenbauingenieur, für den die Telegrafie nur ein Interessensgebiet unter anderen war. Tatsächlich geriet sie bei ihm gegenüber dem Maschinenbau und der Metallurgie mehr und mehr ins Hintertreffen. Auf diesen beiden Feldern gelangen ihm aufsehenerregende Erfolge. Ohne dass er die selbst gesteckten Ziele erreichte, leistete er einen entscheidenden Beitrag zu einem neuen Verfahren der Stahlerzeugung, das nach ihm und französischen Eisenhüttenleuten Siemens-Martin-Verfahren genannt wurde. Über ein Jahrhundert war dieses Verfahren das weltweit wichtigste für die Herstellung von Stahl. Williams technisch-wissenschaftliche Leistungen und sein gewinnendes Wesen bereiteten ihm den Weg in einflussreiche Positionen der englischen Ingenieurwelt und der Wissenschaft.
Die Trilogie der Gründergeneration des Unternehmens Siemens, bestehend aus Werner, Carl und William, wird mit dieser Biografie Williams abgeschlossen. Sie behandelt eine Persönlichkeit, die in mehrerlei Hinsicht aus dem Rahmen der Siemens-Brüder fällt: ein zum Engländer mutierter Deutscher; ein Maschinenbauer, kein Elektrotechniker; ein universell tätiger Ingenieur und Wissenschaftler; ein antiborussischer Liberaler und eine selbstständige Persönlichkeit, die vor Konflikten weder im Unternehmen noch in der Familie zurückschreckte.
Die Biografie Williams eröffnet über die Charakterisierung der Persönlichkeit hinaus die Möglichkeit, England und Deutschland hinsichtlich der politischen Verhältnisse, des Ingenieurwesens sowie der Unternehmenskultur miteinander zu vergleichen. In den zwischen Werner und William gewechselten Briefen findet sich vielfach der Hinweis, der jeweils andere solle doch eine gewisse Zeit in London beziehungsweise Berlin verbringen, um die dortigen Bedingungen unternehmerischer Tätigkeit besser zu verstehen.
Die englischen Siemens-Aktivitäten haben in der Literatur eine umfangreiche und ansprechende Behandlung erfahren. Die ältere Arbeit von Richard Ehrenberg (1906) ist immer noch unverzichtbar. Die Studie Ehrenbergs bezieht sich auf zahlreiche Quellen und besitzt dadurch dokumentarischen Charakter. J.D. Scott (1958) bietet eine aus den Firmenakten erarbeitete Gesamtgeschichte von Siemens Brothers. Sigfrid von Weihers Geschichte der englischen Siemens-Werke (1990) ist sorgfältig mit Quellen belegt. Allerdings leidet die Arbeit darunter, dass von Weiher bedingungslos den Berliner Standpunkt Werners einnimmt. In Werners «Lebenserinnerungen» haben insbesondere die Charakterisierungen Williams einen hohen Quellenwert. Die Biografien über Carl von Siemens von Lutz (2013) und über Werner von Siemens von Bähr (2016) geben den aktuellen Forschungsstand wieder und gehen auch auf die Beziehungen zwischen den Brüdern ein.
Die relevante biografische Literatur über William beschränkt sich auf die 1888 in englischer Sprache und 1890 in deutscher Übersetzung erschienene Darstellung von William Pole.[6] Pole, ein Freund und Berufskollege Williams, wurde nach dessen Tod von der Familie mit der Abfassung der Biografie beauftragt. Er wertete Briefe und Akten aus, die teilweise heute nicht mehr zur Verfügung stehen.[7] Er holte Erkundigungen bei Verwandten, Kollegen und Freunden Williams ein sowie bei Institutionen, in denen William Mitglied war. Im Einzelnen kontaktierte Pole den langjährigen Privatsekretär Williams, Edward F. Bamber, die Sekretäre der Institution of Civil Engineers und der Society of Arts, Bruder Werner, Williams Frau Anne und den Ziehsohn Alexander Siemens sowie die Freunde Frederick Joseph Bramwell, William Thomson, William Henry Barlow und Edward A. Cowper. Die Arbeit Poles ist unverzichtbar, weil sie die umfangreichsten Informationen über William bietet und wichtige Quellen abdruckt. Allerdings weist sie nach heutigen historiografischen Kriterien eine Reihe von Schwächen auf. Pole bemüht sich zwar, das Leben Williams in die allgemeine Entwicklung der Technik und der Elektrotechnik einzuordnen, allerdings mündet...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Wirtschaft |
Wirtschaft | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Biografie • Biographie • Deutschland • Erfinder • Siemens • Unternehmer • Vereinigtes Königreich |
ISBN-10 | 3-406-75134-2 / 3406751342 |
ISBN-13 | 978-3-406-75134-9 / 9783406751349 |
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