Weite Wege Wandern (eBook)
272 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99536-8 (ISBN)
Christine Thürmer, 1967 in Forchheim geboren, machte nach ihrem Studium Karriere als Managerin. Nach einer unfreiwilligen Berufspause 2004 hängte sie 2007 ihren Job endgültig an den Nagel und widmet sich seitdem ausschließlich dem Langstreckenwandern, -radfahren und -paddeln. Mittlerweile gehört sie zu den meistgewanderten Menschen weltweit und ist unter Outdoorfans als »German Tourist« bekannt. Sie wurde mit dem Triple Crown Award, dem ITB Buch Award 2017 und 2022 sowie dem ersten Preis der Discovery Days 2019 für den besten Vortrag ausgezeichnet. Bei Malik erschienen ihre Bestseller »Laufen. Essen. Schlafen.«, »Wandern. Radeln. Paddeln.« und »Weite Wege Wandern«.
Christine Thürmer, 1967 in Forchheim geboren, machte nach ihrem Studium Karriere als Managerin. Nach einer unfreiwilligen Berufspause 2004 hängte sie 2007 ihren Job endgültig an den Nagel und widmet sich seitdem ausschließlich dem Langstreckenwandern, -radfahren und -paddeln. Sie gehört zu den meistgewanderten Menschen weltweit und wurde mit dem Triple Crown Award ausgezeichnet. Unter Outdoorfans ist sie als "German Tourist" bekannt. Bei Malik erschienen ihre Bestseller "Laufen. Essen. Schlafen." und "Wandern. Radeln. Paddeln.".
Warum Weitwandern: Wie mich unterwegs das Glück fand
Wann wird aus einer Wanderung eine Weitwanderung? Es gibt keine offizielle Definition: Laut Wikipedia muss man dazu nur mehrere Tage unterwegs sein, der Alpenverein spricht ab 500 Kilometern Länge von einer Fernwanderung und ich selbst fange unter 1000 Kilometern gar nicht erst an. Der große Unterschied zwischen Wandern und Weitwandern liegt jedoch nicht in irgendwelchen Zahlen, sondern in dem, was es mit Ihnen macht. So werden Sie sich auch auf kurzen Touren erholen, Stress abbauen und fit werden, doch Langstreckenwandern hat noch ein ganz anderes Potenzial: Es wird Sie lehren, Ihren Körper zu lieben. Es wird Ihnen Zukunftsängste nehmen und dafür Selbstvertrauen und Freiheit schenken. Es wird sogar Ihre Werte und Einstellungen verändern. Vor allem aber wird es eines bewirken: Es wird Sie zu einem glücklicheren Menschen machen.
Senkung der Glücksschwelle
»Das neue Jahr beginnt gut«, denke ich voller Dankbarkeit am Neujahrsabend 2013. Den ganzen Tag bin ich bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt durch den Regen über die Berge der Appalachen gelaufen. Ohne Pause, denn hier am Benton MacKaye Trail in Tennessee gibt es keine Unterstellmöglichkeiten, nur endlose Eichen- und Ahornwälder. Kleidung, Socken, Schuhe – alles ist komplett durchnässt und mit Schlammspritzern übersät.
Ich hatte mich schon auf eine kalte Nacht im klammen Zelt eingestellt, als ich völlig unerwartet, aber noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit, diese luxuriöse Unterkunft an einer Forststraße entdeckte. Jetzt liege ich hier warm und trocken, meine von der Feuchtigkeit verschrumpelten Füße stecken in dicken Socken, und meine Kleidung trocknet auf der Wäscheleine neben mir.
»Ich bin eben ein echter Glückspilz«, freue ich mich und lausche dem monotonen Prasseln auf dem Dach über mir. Da höre ich plötzlich Motorengeräusche. Alarmiert fahre ich hoch und fürchte, dass ich gleich vertrieben werde. Mein Paradies ist nämlich nicht etwa ein Hotelzimmer oder eine Schutzhütte am Weg, sondern ein Plumpsklo des US Forest Service. Wenn den Autofahrer auf dem Waldparkplatz da draußen ein dringendes menschliches Bedürfnis überfiele, käme ich in arge Erklärungsnöte.
Gespannt halte ich die Luft an. Doch vor meiner verriegelten Toilettentür knistert lediglich ein Funkgerät, und Hunde winseln leise. Erleichtert atme ich aus. Draußen scheint ein nächtlicher Jäger zu parken, der sich per Funk mit dem Rest der Jagdgesellschaft abstimmt. Und tatsächlich knirschen schon nach wenigen Minuten die Autoreifen auf dem Kies. Der Fahrer wendet und braust davon. Als ich nur noch das Rauschen des Windes in den Baumkronen und die Regentropfen auf dem Metalldach höre, lasse ich mich erleichtert zurück auf meine Isomatte sinken.
»Gott sei Dank musste ich hier nicht raus«, denke ich, als ich mich in meinen warmen Quilt kuschle – und pruste dann laut los. Fernab der Zivilisation betrachte ich dieses Plumpsklo tatsächlich als mein persönliches Neujahrsgeschenk des Himmels. Die behindertengerechte und damit sehr geräumige Toilette wurde wohl erst vor ein paar Wochen aufgestellt, ist daher noch ziemlich sauber und riecht kaum – zumindest wenn man den Klodeckel herunterklappt.
Dass ich mich über eine Nacht in einer Komposttoilette so freuen kann wie andere über das Hilton, liegt an meinem minimalistischen Lebensstil als Langstreckenwanderin. Unterwegs passen all meine weltlichen Besitztümer in einen kleinen Rucksack und wiegen gerade mal knapp sechs Kilogramm. Ein Zelt, eine Isomatte, eine Art Schlafsack und ein einziger Satz Wechselkleidung sind neben ein paar Kochutensilien und ein bisschen Kleinkram alles, was ich dabeihabe. Mehr brauche ich selbst jetzt im Winter nicht.
Diese Reduktion auf das Wesentliche macht mich extrem dankbar für alles, was über meinen niedrigen Komfortlevel hinausgeht. Dinge, die früher ganz selbstverständlich waren, empfinde ich heute als Luxus: Weil ich mich unterwegs meistens im kalten Fluss wasche und auf einer schmalen Isomatte schlafe, freue ich mich über eine warme Dusche oder ein weiches Bett wie zuvor über eine Gehaltserhöhung. Während meine Ansprüche in meinem vorigen Leben mit zunehmendem Alter und Einkommen immer mehr gestiegen sind, hat meine Zeit als Weitwanderin das genaue Gegenteil bewirkt: Meine Glücksschwelle hat sich drastisch gesenkt – und zwar so weit, dass mich jetzt schon ein Plumpsklo entzückt.
Diese Veränderung meiner Wahrnehmung verschafft mir nicht nur auf Tour regelmäßig unglaubliche Glücksmomente, sondern beeinflusst auch mein »normales« Leben in der Heimat außerordentlich positiv – selbst wenn ich dabei im Überschwang der Gefühle bei meinen Mitmenschen manchmal etwas Befremden auslöse …
Nachdem ich zu Beginn meiner Outdoorlaufbahn meine eigene Wohnung gekündigt und meine Habseligkeiten eingelagert hatte, musste ich mir nach jeder Wanderung wieder eine vorübergehende Unterkunft in Deutschland suchen. Die Wohnungs- oder WG-Besichtigungen verliefen anfangs fast immer nach demselben Schema und haben die Vermieter oft etwas verwirrt zurückgelassen …
Vermieter/in (neugierig): »Was machen Sie so beruflich?«
Ich (stolz): »Ich bin Langstreckenwanderin!«
Vermieter/in (irritiert): »Was ist das denn für ein Beruf?«
Ich (begeistert): »Ich wandere lange Strecken zu Fuß. Genauer gesagt, bin ich ein thruhiker, weil ich diese Wege in einer Saison durchwandere.«
Vermieter/in (verwirrt): »Aha!« Pause. »Ich zeige Ihnen erst einmal das Zimmer.« (Führt mich in einen mehr oder minder abgewohnten Raum mit Möbeln der ausgezogenen Kinder/vom Sperrmüll/ aus dem Secondhandladen.)
Ich (ekstatisch): »Das ist ja großartig! Ein richtiges Bett! Ich muss nicht auf dem Boden schlafen! Und es gibt sogar einen Schreibtisch mit einem echten Stuhl! Dann kann ich beim Arbeiten ja an einem Tisch sitzen! Gibt es womöglich auch ein Badezimmer mit fließend warmem Wasser?«
Vermieter/in (alarmiert): »Ähm, also, wir melden uns, wenn wir uns für einen Bewerber entschieden haben …«
Natürlich habe ich nie mehr von ihnen gehört. Die Vermieter fühlten sich durch meinen Enthusiasmus über die eher dürftige Wohnungsausstattung wohl entweder veräppelt – oder vermuteten einen psychischen Schaden. Dabei ist diese Begeisterung einfach das Resultat meines genügsamen Lebensstils auf Tour. Erst als ich mir meine euphorischen Äußerungen verkniff, fand ich eine Bleibe.
Bis auf diese kleinen Verwicklungen hat das Weitwandern mein Leben ausschließlich positiv verändert. Fast jeden Abend liege ich in meinem Zelt oder Bett, denke über den vergangenen Tag nach und könnte vor Freude über die wunderbaren Erlebnisse laut »Danke! Danke! Danke!« schreien. Obwohl ich das gar nicht beabsichtigt hatte, habe ich unterwegs das große Glück gefunden. Oder wie die nordamerikanischen Langstreckenwanderer sagen: Thruhiking has ruined my life, thank God! – Weitwandern hat mein Leben ruiniert, Gott sei Dank!
»Go with the flow, baby!«
Es ist schon nach 20 Uhr, als ich Děčín mit einem prall gefüllten Rucksack und vollem Bauch verlasse. Der Einkauf im ersten tschechischen Supermarkt am Weg hat viel länger gedauert als geplant. Einen Teil des Proviants habe ich gleich an Ort und Stelle zum Abendessen verspeist, weil ich an diesem heißen Junitag nach mehr als zehn Stunden zu Fuß dringend eine Pause brauchte. Doch nach einem kräftigen Anstieg liegt die Stadt nun hinter mir, und ich erreiche hoch über dem Elbtal noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder den Wald.
Eigentlich sehe ich bereits zwischen den ersten Bäumen passable Zeltmöglichkeiten, aber es drängt mich vorwärts: »Es kommen bestimmt noch bessere Plätze!« Da entdecke ich auf der Karte einen zwei Kilometer entfernten Aussichtspunkt, der bei Sonnenuntergang bestimmt ein schönes Elbpanorama bietet. Eine halbe Stunde später will ich allerdings trotz des spektakulären Blicks auf die Lichter im Tal auch dort nicht bleiben. In der Abenddämmerung laufe ich vorbei an den bizarren Felsformationen der Böhmischen Schweiz und werfe erst wieder einen Blick auf die Karte, nachdem ich schon die Stirnlampe hervorholen muss. In vier Kilometern Entfernung befindet sich ein besonders ebenes Waldstück – und so gehe ich noch eine Stunde im diffusen Mondlicht auf breiten Forststraßen.
Erst als es nach dem Abzweig auf einen Pfad so steil und felsig wird, dass mir trotz Stirnlampe erhebliche Verletzungsgefahr in der Dunkelheit droht, schlage ich widerwillig mein Zelt auf – nach 43 Kilometern! Eine völlig unerwartete Leistung auf dem ersten vollen Wandertag einer Tour, die mich auf 3000 Kilometern von Deutschland bis zum Schwarzen Meer führen wird. Obwohl ich gänzlich untrainiert gestartet bin, schmerzen mir die Glieder nur leicht. Ich schwebe sogar fast auf einer Wolke der Euphorie, als ich mich um 23 Uhr auf meiner Isomatte ausstrecke. Nach vielen Monaten am Schreibtisch bin ich endlich wieder draußen unterwegs – und sofort in den »Flow« geraten!
Der Begriff Flow stammt von dem ungarisch-amerikanischen Psychologen Mihály Csíkszentmihályi (das spricht sich ungefähr wie »Tschicksentmihei«) und bezeichnet einen Zustand absoluter Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit. Beste Beispiele sind Künstler im Schaffensrausch oder spielende Kinder. Glücksforscher Csíkszentmihályi definiert mehrere charakteristische Eigenschaften eines Flow-Zustands und beklagt, dass diese bei den meisten beruflichen Tätigkeiten fehlen. Auf das Weitwandern treffen sie jedoch allesamt...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2020 |
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Zusatzinfo | Mit 24 Seiten Farbbildteil |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Sport |
Reisen ► Sport- / Aktivreisen ► Welt / Arktis / Antarktis | |
Schlagworte | Allein auf Reisen • allein wandern • alles rund ums Wandern • als Frau allein • als Frau allein reisen • Als Frau allein unterwegs • als Frau allein wandern • Appalachian Trail • Argentinien • armchairtravel • armchairtravel books • armchairtraveller • Ausrüstung • aussteigen • Australien • Bestsellerautorin • Bilder • Bildteil • Buch • Bücher • Bücher für die Quarantäne • buch mit fotos • Bulgarien • Cheryl Strayed • Chile • Continental Divide Trail • Corona Books • Corona Bücher • Der große Trip • Deutschland • Erfahrungen • Europa • Fernwandern • Fernwanderweg • Foto • Fotos • Gebirge • German Tourist • Geschenk • Geschenkbuch • Geschenk für Frauen • Geschenk für Outdoor • Israel • Japan • Jordanien • Know-how • Langstreckenwandern • Laufen Buch • laufen essen schlafen • long distance hiking • meistgewandert • Meistgewanderte Frau der Welt • Neuanfang • neuerscheinung 2020 • Neuseeland • Österreich • Outdoor • Outdoorerfahrungen • Outdoorerlebnisse • Outdoorwissen • Pacific Crest Trail • Pilgern • Planung • Ratschläge • Routen • Schritte • Schweden • Solo • Solo reisen • Spanien • Südamerika • Südkorea • Tipps • Tipps zum Wandern • Touren • Trails • Trekking • Triple Crown • Türkei • Ultraleichtwandern • Ungarn • USA • Vorbereitungen • Walking • Wanderführer • wandergeschenke • Wandern • wandern im Alter • Wandern mit Hund • Wandern mit Kind • wandern Neuseeland • Wandertipps • Wanderwissen • weg wandern • weite weg wandern • weit wandern • Weitwandern • weit weg • weit weg wandern • Wildnis • Wissen • Wissensschatz • Zelten • Zu Fuß • zu verschenken |
ISBN-10 | 3-492-99536-5 / 3492995365 |
ISBN-13 | 978-3-492-99536-8 / 9783492995368 |
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