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Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen (eBook)

eBook Download: EPUB
2020 | 2. Auflage
222 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961667-4 (ISBN)

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Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen -  Baptiste Morizot
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Für moderne Menschen ist die Natur etwas, das man ausbeutet oder das Erholung bietet, aber kein Ort, an dem man wohnt und sich selbstverständlich bewegt. Baptiste Morizot lädt dazu ein, sich in die Perspektive wilder Tiere hineinzudenken und sensibler zu werden für die Welt, die uns umgibt. Seine Streifzüge führen ihn durch die Heimat der Wölfe, der Leoparden und der Bären, doch auch den Stadtvögeln lassen sich Geheimnisse entlocken. Die Wildnis ist überall. Wer ausgetretene Pfade verlässt und in die Natur eintaucht, wird verändert von seinem Abenteuer zurückkehren - als Grenzgänger zwischen zwei Welten.

Baptiste Morizot, geb. 1983, ist Schriftsteller und lehrt Philosophie an der Universität Aix-Marseille. Für seine 'Philosophie der Wildnis' erhielt er 2019 den Prix Jacques-Lacroix der Académie française.

Baptiste Morizot, geb. 1983, ist Schriftsteller und lehrt Philosophie an der Universität Aix-Marseille. Für seine "Philosophie der Wildnis" erhielt er 2019 den Prix Jacques-Lacroix der Académie française.

Einleitung: Sich einwalden
Kapitel 1: Die Zeichen des Wolfes
Kapitel 2: Ein einziger aufrechter Bär
Kapitel 3: Die Geduld des Schneeleoparden
Kapitel 4: Die diskrete Kunst der Spurensuche
Kapitel 5: Die Kosmologie des Regenwurms
Kapitel 6: Der Ursprung der Suche

Nachwort von Vinciane Despret: »Wohin gehen wir morgen?«

Danksagung
Anmerkungen

Einleitung

Sich einwalden


»Wo gehen wir morgen hin?«

»In die Natur

Für meinen Freundeskreis und mich war diese Antwort lange Zeit selbstverständlich, weder heikel noch problematisch; wir hinterfragten sie nicht. Dann aber kam der Anthropologe Philippe Descola mit seinem Buch Jenseits von Natur und Kultur und lehrte uns, dass die Idee von der Natur ein seltsamer Glaube des Abendlandes sei. Es handle sich um einen Fetisch unserer Zivilisation, die ein schwieriges, konfliktreiches und zerstörerisches Verhältnis zu der Welt des Lebendigen habe, die sie »Natur« nenne.

Daraufhin konnten wir, wenn wir unsere Ausflüge organisierten, schlecht weiterhin zueinander sagen: »Morgen gehen wir in die Natur«. Uns fehlten die Worte, wir waren stumm und konnten die simpelsten Dinge nicht mehr ausdrücken. Das banale Problem, gemeinsam festzulegen, wo wir morgen hingehen wollten, führte zu einem philosophisch verunsicherten Gestammel: Wie sollte man denn künftig sagen, dass man ins Freie gehen will? Wie lässt sich benennen, wo man sich hinbegibt, wenn man mit Freunden, mit der Familie oder allein »in die Natur« aufbricht?

Das Wort »Natur« ist keineswegs unschuldig; es ist das Markenzeichen einer Zivilisation, die alles daransetzt, Territorien massiv auszubeuten, als seien sie unbelebte Materie. Allenfalls kleine Teilflächen werden für besondere Zwecke geschützt, etwa für Erholung, Sport oder geistige Regeneration – und all dies offenbart, dass unsere Einstellung zur Welt des Lebendigen armseliger ist, als wir uns bewusst machen. Unsere Weltauffassung nennt Descola »Naturalismus«: Damit meint er jene westliche Kosmologie, der zufolge es auf der einen Seite die Menschen gibt, die geschlossen in einer Gesellschaft leben, und auf der anderen Seite eine dingliche Natur, bestehend aus Materie, die den menschlichen Aktivitäten als passive Kulisse dient. Dieser Kosmologie zufolge ist offenkundig, dass die Natur »eben existiert«; sie ist all das, was sich da draußen befindet. Sie ist jenes Gebiet, das man ausbeutet oder das man als Wanderer durchschreitet, aber sie ist kein Ort, an dem man wohnt, auf keinen Fall, denn sie scheint ja immer »draußen« zu sein. Die Welt der Menschen hingegen zeichnet sich genau dadurch aus, dass sie sich drinnen befindet.

Descola macht uns bewusst, dass jeder, der von »Natur« spricht und das Wort somit gebraucht bzw. auf den Fetisch verweist, schon eine seltsame Form von Gewalt gegenüber diesen lebendigen Territorien anwendet. Dabei bilden sie doch unsere Existenzgrundlage, diese unzähligen Lebensformen, die mit uns die Erde bewohnen und die wir bald als Ressourcen, bald als Schädlinge, bald als uninteressantes Objekt und bald als hübsches Exemplar einstufen, dem wir mit dem Fernglas nachspähen; sie verdienen Besseres. Es hat schon seine Berechtigung, wenn Descola den Naturalismus als die »unfreundlichste« Kosmologie bezeichnet. Weder einem Individuum noch einer Zivilisation aber tut es auf Dauer gut, in der unfreundlichsten aller Kosmologien zu leben.

In seinem Buch Histoire des coureurs de bois (›Geschichte der Waldläufer‹, 2016) schreibt Gilles Havard, dass das amerindianische Volk der Algonquin spontan »soziale Beziehungen zum Wald« aufnehme. Eine merkwürdige Vorstellung, die uns vielleicht schockiert – und doch soll dieses Buch genau in die Richtung führen: Dieser Spur wollen wir folgen. Auf Umwegen, bei der philosophischen Spurensuche, anhand von Berichten darüber, wie man sich eine neue Empfänglichkeit gegenüber der lebendigen Welt aneignet, wollen wir uns dieser Vorstellung nähern. Warum versuchen wir nicht, eine freundlichere Kosmologie zu entwerfen, und zwar durch unsere Praktiken? Oder mehr noch, indem wir Praktiken, Sensibilität und Ideen zusammenbringen? Denn Ideen allein werden unser Leben wohl nicht so leicht ändern.

Doch bevor wir unseren Kompass in die Hand nehmen und diesem Kurs folgen, sollten wir zunächst ein anderes Wort dafür finden, »wohin wir morgen gehen«, und auch dafür, wo wir morgen wohnen werden – oder zumindest wo all jene wohnen werden, die aus den Städten wegziehen wollen.

 

Seit einigen Jahren drängt sich uns – einem Kreis von Freunden, der gern Expeditionen in die »Natur« unternimmt – ebendiese Frage auf. Wollten wir uns für unsere Unternehmungen verabreden, konnten wir nun nicht mehr sagen: Wir gehen »in die Natur«. Wir mussten neue Worte finden, um mit unseren sprachlichen Gewohnheiten zu brechen, Worte, die von innen her die Nähte der Kosmologie sprengen, in der wir leben. Diese Weltsicht verleitet uns dazu, unsere Umwelt wie ein großzügiges Energiereservoir oder einen Ort zur Regeneration unserer persönlichen Kräfte auszunutzen, und sie erzeugt eine Distanz zwischen uns und jenen lebendigen Territorien, die sich doch in Wahrheit unter unseren Füßen befinden und uns eine Grundlage geben.

 

Der erste Einfall, wie wir das Unterfangen neu benennen und auf andere Art sagen könnten, »wo wir morgen hingehen«, hieß: »nach draußen«. Morgen gehen wir nach draußen. »Essen und schlafen mit der Erde«, wie Walt Whitman sagt. Es war eine provisorische Lösung, aber wenigstens ließ sich so die alte Gewohnheit umgehen. Und die Unzufriedenheit mit der neuen Formulierung drängte uns, schnell eine andere zu finden.

 

Die Formel, die sich unserer Freundesgruppe als Nächstes aufdrängte, klang seltsam – kein Wunder bei der Eigenartigkeit unseres Zeitvertreibs. Sie lautete: »in den Busch«. Morgen gehen wir in den Busch. Dorthin also, wo es keine markierten Wanderwege gibt. Dorthin, wo wir, wenn es sie doch gibt, uns nicht nach ihren Vorgaben richten müssen. Denn wir wollen auf Spurensuche gehen (wir sind Sonntagsspurenleser). Darum durchstreifen wir das Unterholz, folgen den Pfaden der Wildschweine oder den Wildwechseln der Rehe; die Wege der Menschen interessieren uns nur, wenn sie die Fleischfresser dazu einladen, ihre Reviere dort zu markieren (Füchse, Wölfe, Luchse, Marder u. a.). Viele Tiere schätzen Menschenwege und nutzen sie auf ihre Weise: Ihre Markierungen – für sie Wappen und Fahnen – sind darauf besser sichtbar.

Spurenlesen heißt für uns, Fährten und Abdrücke zu entziffern, um die Perspektiven der Tiere kennenzulernen: jene Welt der Zeichen zu erforschen, die uns die Gewohnheiten der Fauna offenbaren, sowohl ihre Art und Weise, unter uns zu leben, als auch ihr Verhältnis zu anderen Wesen. Unser Auge, das unverstellte Sichtachsen und entgrenzte Horizonte gewohnt ist, tut sich zu Beginn noch schwer mit dieser Verlagerung des Untersuchungsgebiets in der Landschaft: Statt vor uns liegt es nun unter unseren Füßen. Der Boden ist unser neues Panorama, ein Ort voller Hinweise, der von nun an unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Spurenlesen in diesem neuen Sinne heißt auch, die Lebenskunst anderer Wesen verstehen zu lernen, die Gesellschaft der Pflanzen zu studieren oder die kosmopolitische Mikrofauna, die das Leben der Böden ausmacht, ihre Beziehungen zueinander und zu uns: ihre Konflikte und ihre Gemeinsamkeiten mit dem menschlichen Gebrauch der Territorien. Wir konzentrieren unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Wesen, sondern auf deren Beziehungen.

In den Busch gehen ist nicht dasselbe wie in die Natur gehen: Wir nehmen uns in der Landschaft als Ziel weder einen Gipfel vor, der zu bezwingen wäre, noch eine malerische Aussicht, die die Augen erfreuen soll, sondern uns interessiert der Grat, der uns den Durchgang des Wolfs meldet, die Flussau, in der bestimmt ein Hirsch gewesen ist, der Tannenwald, in dem man an einem Stamm die Krallenspuren des Luchses findet, das Blaubeerfeld, in dem man den Bären antrifft, der felsige Steilhang, an dem die weiße Losung des Adlers die Nähe seines Horstes verrät …

Bevor man losgeht, versucht man auf Karten und im Internet zu orten, was man erkunden will: den Waldstreifen, über den der Luchs möglicherweise die beiden Felsmassive erreicht, auf denen er sich am liebsten aufhält; die Steilküste, an der möglicherweise Wanderfalken nisten; den Bergpass, den sowohl Menschen als auch Wölfe benutzen, die einen bei Tag, die anderen bei Nacht.

Spaziergänge locken uns nicht mehr, auch nicht die Wegmarkierungen für Wanderer. Nach einer Weile sind wir, wenn wir zufällig welche sehen, eher erstaunt darüber, dass es so etwas gibt; ihre Zeichensprache ist uns nicht mehr recht geläufig. Wir werden langsam, wir fressen keine Kilometer mehr, sondern gehen im Kreis, um Spuren zu finden. Manchmal brauchen wir eine Stunde für 200 Meter. So war es jedenfalls, als wir einem Elch in Ontario nachgingen, der innerhalb eines Flussbetts im Kreis lief: eine Suche von einer Stunde, während der wir seine Spur mal verloren, mal wiederfanden, und nur spekulieren konnten, wo seine Trittsiegel als Nächstes erscheinen würden. Schließlich landeten wir wieder dort, wo wir losgegangen waren, neben dem Tannenwald, in dem der Elch, der bei Nacht besser sieht, wahrscheinlich seinen Mittagsschlaf hielt – seinen frischen Hinterlassenschaften nach zu urteilen. Wir gehen »in den Busch«, und schon ist das eine andere Art, über diese Dinge zu reden und mit ihnen umzugehen.

 

Es geht uns selbstverständlich nicht darum, ein neues Wort für »Natur« zu finden, das allen einleuchtet und alle künftig verwenden sollen. Wir wollten lediglich vielfältige und komplementäre Alternativen entwickeln, wie man unsere alleralltäglichsten Beziehungen zum Lebendigen...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2020
Nachwort Vinciane Despret
Übersetzer Ulrich Bossier
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Henry David Thoreau • Mensch Tier Verhältnis • Mensch und Natur • Naturethik • Nature writing • Naturphilosophie • Tierethik • Tierphilosophie • Verhältnis Mensch Natur • Walden • Wesen des Menschen
ISBN-10 3-15-961667-3 / 3159616673
ISBN-13 978-3-15-961667-4 / 9783159616674
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